Читать книгу Der Stern von Nirada - Band 1 - Felix van Kann - Страница 10
Kapitel 3 - Von Sternen und Vergangenem-
ОглавлениеWie ein gespenstisches Trauerlied heulten die Böen durch die leeren Flure der Burg. In den vergangenen zwei Tagen hatte es ununterbrochen geschneit, und die Welt um sie herum war von einer weißen Decke abgeschnitten.
Simlon saß auf seinem Bett, und während sein Atem wieder ruhiger wurde, beobachtete er durch das Fenster seiner Kammer, wie der Himmel sich langsam violett verfärbte und die zart rötlichen Lichtstrahlen den Morgen ankündigten. Ein schlechter Traum hatte ihn geweckt. Darin war er Teil einer Schlacht gewesen, so brutal und gnadenlos wie in alten Legenden, vielleicht sogar noch erbitterter. An seiner Seite hatte ein anderer Junge gestanden, doch sie waren hoffnungslos unterlegen gewesen, und schließlich war eine riesige, düstere Gestalt aufgetaucht und hatte die Welt in Schatten gehüllt. Simlon versuchte, sich an das Gesicht des Jungen zu erinnern, doch es war bereits so verschwommen wie ein mit Wasser übergossenes Aquarellgemälde. Seine Hand umklammerte fest das weiche Fell, das ihm als Decke diente, und er schluckte schwer. Dann stand er auf. Während er sich im Spiegel betrachtete, wanderten die letzten Tage durch seinen Kopf, und irgendwie kam es ihm vor, als sei er in diesen Tagen um Jahre gealtert.
„Simlon?“, hatte Tringard zornig ausgerufen.
„Simlon“, entgegnete der Weise und nickte, „entweder er wird Nirada retten, oder keiner wird es tun!“ Es lag eine unnatürliche Selbstverständlichkeit in diesen Worten, die Simlon verwirrte.
„Aber, Jomera, verzeiht“, druckste Kigror vor sich hin und schielte unauffällig in Simlons Richtung, als sei es ihm unangenehm, vor ihm zu sprechen. „Er ist doch nur…Er ist nicht…“
„Ich habe keine Zweifel daran, dass Simlon der Aufgabe gewachsen sein wird.“ In Jomeras Stimme lag etwas Abschließendes, doch Tringard wollte es nicht wahrhaben.
„Er entstammt keiner Königsfamilie“, presste er wütend hervor, „sein Blut ist nicht das eines Helden.“ Simlon verstand nicht, warum Tringard so vehement dagegen war, dass nicht ihn die Aufgaben des Auserwählten erwarteten. Er an seiner Stelle wäre erleichtert gewesen, denn er sah in der Verkündung keine Ehre…viel mehr war es ein Todesurteil.
„Herkunft und Stand geben keinen Ausschluss darüber, wer einen Helden darstellen soll“, entkräftete Jomera ihn schlicht, „In einem Kampf kann man sich nur darauf verlassen, wer man ist. Und Simlon ist der Auserwählte. Deshalb muss ich euch bitten, nun wieder zu gehen. Ich muss mit Simlon alleine sein.“
Kigror schnaufte. „Ich verstehe nicht, wie Ihr Euch dann sicher sein könnt, dass die Prophezeiung von ihm redet. Guckt ihn Euch doch an, Weiser. Er ist klein, beinahe mickrig, zurückhaltend und unentschlossen. Er ist jemand, der Befehle befolgt, nicht jemand, der sie erteilt. Er ist nicht zum Anführer geboren worden.“
„Du magst mit all dem recht haben, Kigror“, antwortete Jomera, aber sein Ton verriet, dass er weit mehr wusste, als Kigror, „aber man sollte einen Menschen nie an den Makeln messen mit denen er geboren wird, sondern daran, wie er sich entschließt, mit ihnen umzugehen.“
Nachdem er die Gruppe hinaus begleitet hatte, kehrte der Weise zurück an den Holztisch, an dem Simlon nach wie vor saß und ins Nichts blickte. Er setzte sich zu ihm und musterte ihn schweigend.
„Du hast einen anstrengenden Tag hinter dir“, sagte er schließlich und erhob sich, „du hast dich gut gehalten, und damit meine ich nicht nur deinen Kampf mit dem Drago-Soldaten.“ Simlon nickte nur schwach. In der Tat fühlte er sich etwas schummrig.
„Ich denke, es ist das Beste, wenn du dich jetzt eine Weile ausruhst. Danach können wir immer noch über alles sprechen.“ Eigentlich brannte Simlon darauf, diese Antworten schon jetzt zu bekommen, doch alles an ihm war zu ausgelaugt, um auch nur einen klaren Gedanken fassen zu können.
„Ja“, sagte er kratzig und stand auf. Er spürte den Blick des Alten in seinem Rücken, als er zurück in die Kammer ging, die man ihm zugewiesen hatte.
„Simlon“, hörte er Jomera sagen, und als er sich umwandte, sah er, dass der Weise milde lächelte, „du bist nicht so allein, wie du vielleicht denkst!“
Auch heute, am Tag danach, dachte er noch über diesen Satz des Weisen nach. Er war tief gefallen, in ein Meer aus tosender Schwärze, und er wusste beim besten Willen nicht, wer ihm nun zur Seite stehen würde.
Simlon sah in den Spiegel. Er sollte dafür verantwortlich sein, wie die Zukunft Niradas aussehen würde? Der Gedanke war geradezu lächerlich. Er war nur ein gewöhnlicher Junge, vielleicht begabt, aber nicht so sehr, dass es auffällig gewesen wäre. Wie sollte jemand wie er den unermesslichen Kräften des Fürsten standhalten können?
Simlon verließ die Kammer und betrat den Fensterlosen Saal, der im schwachen Schein einiger Kerzen lag. Bisher hatte er noch nichts anderes vom Schloss gesehen, doch seine Neugier wuchs. Was es hier wohl zu erkunden gab?
Durch die Tür, durch die Jomera gestern gegangen war, trat er in einen breiten, in schummriges Licht getauchten Korridor, mit hoch an den Wänden eingelassenen Rundbogenfenstern. Mit hallenden Schritten lief er durch den Korridor und bog in einen weiteren ab. Die gewölbte Decke wurde von dünnen, spitzen Säulen gestützt, die beinahe so unförmig aussahen wie geschmolzene Wachstummel, und karminrote Wandteppiche flankierten den Gang. Er vernahm ein kurzes Wirbeln in der Luft, und dann war ein `Plop´ zu hören, doch als er sich umsah, konnte er nichts Ungewöhnliches erkennen. Nun erreichte er eine Art Empfangshalle, von der zwei große Holztreppen in ein weiteres Stockwerk führten, und nach kurzem Zögern stieg er sie hinauf. Oben angekommen blickte er in einen weiteren Korridor, der fast genauso aussah wie die vorigen, nur dass hier von einem quadratischen Panoramafenster am Ende des Ganges deutlich mehr Licht einfiel. Beeindruckt ging er darauf zu.
„Waah…!“ Etwas schlang sich um seine Beine und hielt sich an ihm fest. Verzweifelt schrie er auf und versuchte, sich aus der Umklammerung zu befreien, doch da war er schon wie ein Kartoffelsack nach vorne gekippt. Was immer ihn festhielt, ließ ihn nicht los. Dann hörte er ein sehr hohes Kichern und erneut ertönte dasselbe `Plop´ wie vorhin.
„Gefangen“, rief eine piepsige Stimme, offenbar hoch amüsiert, und Simlon glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können. Vor ihm schwebte eine Art durchsichtiger Flummi in der Luft. Das Wesen war in etwa so groß wie eine Melone und hatte einen kugelrunden Körper, der so milchig war, dass man durch ihn hindurch die Wand erkennen konnte. Zwei große Kulleraugen hüpften munter im Kreis hin und her und ein kleiner, unproportioniert Mund komplettierte das skurrile Gesicht.
„Was…“, sagte Simlon fragend, als das seltsame weiße Wesen vor ihm auf und ab sprang und dabei offenbar hoch vergnügt lachte.
„Was hast du denn?“, fragte es frech und begann wieder schrill zu kichern, „man treibt sich nicht ohne Erlaubnis im Schloss herum, deshalb wird man für seine Dummheit bestraft.“ Simlon fluchte, doch plötzlich übertönten drei weitere ´Plops` seine Tirade. Drei weitere durchsichtige Gestalten tauchten auf, die jedoch völlig anders aussahen als die erste.
„Wie immer“, sagte ein Wesen mit drei Augen und einem krumpligen Horn, das Simlon an eine Schildkröte erinnerte, mit affektiert intellektueller Stimme. „Du hast nur Unfug im Sinn, Ladis!“
„Nun, komm, er ist doch noch klein, Lohra“, sagte ein quadratisches Wesen mit zwei Armen und Augenbrauen, die eher an einen Schnauzer erinnerten. „Er will spielen, das ist alles.“
„Und dennoch“, quakte die Schildkröte streng, „ ist es keine Rechtfertigung, so mit dem Auserwählten umzuspringen.“
„Da hat er recht“, bellte das vierte Wesen in der Gestalt eines Kobolds offenbar stinksauer und schwang die kleine, durchsichtige Faust in Richtung des Kugelwesens, das schnell hinter seinen schnauzbärtigen Verteidiger huschte und verängstigt dreinblickte. „Du bist zu weit gegangen!“ Die Wesen begannen, lauthals aufeinander einzuschreien, und ließen den völlig verdutzten Simlon im Unklaren darüber, was in aller Welt hier gerade geschah. Er murmelte „Lyorar tair“ (Löse dich), und die Umklammerung um sein Bein ließ nach, sodass er sich wieder bewegen konnte.
„Aber ich hab doch gar nichts Schlimmes gemacht“, schrie Ladis trotzig, offenbar den Tränen nah.
„Na warte, du…“, pöbelte der Kobold mindestens genauso laut und ballte erneut das Fäustchen, doch er verharrte in der Bewegung und blieb schräg in der Luft hängen wie ein Standbild. Um die Ecke war eine weitere Gestalt in den Korridor getreten, und dieses Mal verschlug es Simlon vor Ehrfurcht die Sprache. Es war ein Zentaur, halb Pferd, halb Mensch, und obwohl er genauso durchsichtig war, wie die anderen Wesen, so schien er doch auf eine anmutige Weise zu strahlen.
„Gut, dass Ihr kommt, Rhumpten“, quakte die Schildkröte namens Lohra vornehm und schwebte auf den Zentauren zu, der sie aus klugen Augen musterte.
„Was geht hier vor?“, fragte der Zentaur mit hallender Stimme, als trage eine persönliche Böe sein Echo.
„Ladis, er hat es gewagt, seine unreifen Sperenzchen am Auserwählten auszuprobieren“, erklärte Lohra und neigte den Kopf zu Simlon, als sei er ein besonders zu beschützender Schatz.
„Ich verstehe“, sagte Rhumpten ruhig. „Ladis, darüber wird noch zu sprechen sein. Aber nicht jetzt. Es ist besser, wenn ihr euch nun alle wieder euren Aufgaben widmet, und du“, er sah Simlon fest an, „kommst mit mir.“ Völlig gebannt von der machtvollen Ausstrahlung des Zentauren nickte Simlon. Die Wesen erhoben sich in die Luft, der Kobold brabbelte wirr vor sich hin, wieder war das ´Plop´ zu hören, und sie waren verschwunden.
„Geht es dir gut?“, fragte Rhumpten, als es wieder still war.
„Ja, danke“, sagte Simlon „was waren das für Wesen?“
„Das?“, fragte Rhumpten aufmerksam, als sei er überrascht, die Frage zu hören. „Das waren Geister. Genauso wie ich auch einer bin.“
„Geister?“, fragte Simlon ungläubig.
„Ja, verstorbene Seelen von Menschen und Tieren, die sich nach dem Tod nach dem Leben im Diesseits sehnen.“ Simlon schluckte. Er hatte zwar schon gehört, dass Nirada auch von Geistern bevölkert wurde, jedoch hatte er sie sich ein wenig anders vorgestellt.
„Aber sie sehen gar nicht aus wie Geister“, sagte er fragend. Er wollte nicht unsensibel sein.
„Das kommt darauf an, was du erwartet hast. Nach dem Tod verliert ein Lebewesen nicht seine Seele, aber sehr wohl seinen Körper. Um als Geist zu existieren, muss man sich damit abfinden, eine neue Form anzunehmen. Zunächst, in den ersten Jahren, ist es, als sei man wieder ein Kind. Du hast Ladis kennen gelernt. Er war ein alter Mann als er vor drei Jahren starb und jetzt benimmt er sich wieder wie ein Kleinkind.“ Seine wässrigen Augen blickten auf den Schneevorhang, der vor dem großen Fenster niederging. „Außerdem sind Geister nach ihrem Tod an einen Meister gebunden. Unser Meister ist Jomera. Eine große Ehre!“
„Heißt das, es gibt noch mehr von euch hier auf der Burg?“
„Etliche. Vielleicht mehr als irgendwo sonst in Nirada.“
„Das wusste ich nicht", erwiderte Simlon staunend und blickte sich um, als hoffe er, noch mehr von ihnen zu sehen.
„Du scheinst sehr wissbegierig zu sein, wie sonst sollte man es sich erklären, dass, als der Weise mich entsandte dich in deiner Kammer aufzusuchen, du dort nicht vorzufinden warst.“ Simlon errötete und begann zu stottern, doch Rhumpten unterbrach ihn. „Es gibt keinen Grund sich zu schämen, Mringard (Auserwählter). Im Gegenteil, Neugier ist ein essentielles Attribut, solange sie ihre Grenzen hat und den Freiraum anderer nicht übertritt. Begleite mich, ich werde dich weiter durch das Schloss führen.“
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg durch die Korridore, in denen es zunehmend heller wurde, da die Morgensonne sich nun deutlich zwischen den Wolken abzeichnete. Simlon beobachtete den milchig weißen Zentauren aus dem Augenwinkel. Er wirkte unglaublich stark.
„Weswegen hat der Weise dich zu mir geschickt?“, fragte Simlon, um das Schweigen zu brechen. Rhumpten räusperte sich, und es klang ein wenig wie ein Wiehern.
„Er bat mich, dir mitzuteilen, dass er dich heute Abend erwartet. Er ist der Ansicht, dass es an der Zeit ist, dich in einige Dinge einzuweihen, die dich schwer belasten müssen.“ Bei diesen Worten begann Simlons Herz heftig zu pochen. Was ihm der Weise wohl alles erzählen würde? Er konnte den Abend kaum erwarten.
„Habe Geduld“, sagte Rhumpten langsam, und Simlon stockte. Diesen Satz hatte er von Jomera schon dutzende Male gehört. „Er wird dir viele Antworten geben können, jedoch nicht auf jene, die gerade in deinem Kopf umherschweben.“
„Wie…woher willst du wissen…?“ Rhumpten blieb stehen und blickte auf ihn herab. Auf einmal lag etwas Wildes in seinem bärtigen Gesicht.
„Es ist ein Privileg der Geister zu sehen, was in den Köpfen der Lebenden vor sich geht. Ich kann deine Gedanken lesen, als würdest du sie mir wie eine Karte ausbreiten. Ich lese Angst, Mringard, Angst davor, dass du der Aufgabe nicht gewachsen sein könntest. Du hältst dich für zu gutmütig, um das Durchhaltevermögen aufzubringen, dessen es bedarf, um eine Armee zu führen. Du fragst dich, warum. Warum du…?“
„Genug“, sagte Simlon scharf und laut, und der Zentaur verstummte. Vielleicht hatte es unhöflicher geklungen als beabsichtigt, doch es behagte ihm gar nicht, keine Verteidigung gegen den Zentauren zu haben. Rhumpten blickte ihn ohne Emotionen an. „Ich bin wohl zu weit gegangen." - Simlon merkte, dass es keine Entschuldigung war - „Du musst dich nicht fürchten. Ein Geist ist sich seiner Privilegien bewusst, und er weiß, dass damit viel Verantwortung einhergeht. Von nun an sind deine Gedanken die Deinen. Ich habe dir nur zeigen wollen, was für eine Gefahr davon ausgehen kann.“ Simlon atmete schwer, und ein misstrauischer Stich durchfuhr ihn. Er fand, dass Rhumpten ihm das auch auf andere Weise hätte klar machen können. Die Miene des Zentauren blieb unergründlich.
Sie traten durch eine schwingende Tür in eine Halle, die beinahe so aussah wie die, die ihn vorhin in den zweiten Stock geführt hatte. Über die Brüstung der Treppe sah Simlon etliche Geister hin- und herwirbeln, die geschäftig von einem Ort zum nächsten eilten.
„Der Weise möchte, dass ich dich darin unterrichte, wie du verhindern kannst, dass man deine Gedanken liest. Menschen mögen es nicht meine Fähigkeiten haben, doch es ist möglich, dass der Fürst Geister einsetzt, um an wichtige Informationen zu gelangen. Dem gilt es vorzubeugen“, erklärte Rhumpten. Seine Ausdrucksweise war sehr faktisch, als zitiere er eine Stichpunktliste.
„Das heißt, es ist absolut unmöglich, dass ein Mensch zum Gedankenlesen in der Lage ist?“, fragte Simlon neugierig und eilte dem Zentauren hinterher die Treppe hinunter.
„Das Gedankenlesen ist den Toten vorbehalten. Doch das heißt nicht, dass es keine anderen Möglichkeiten gibt, in jemandes Geist zu schauen.“ Simlon wollte unbedingt mehr darüber erfahren, doch ein plötzlicher Geistesblitz rief eine noch wichtigere Frage in sein Bewusstsein.
„Aber wenn es in Nirada Wesen gibt, die bereits gestorben sind, wieso haben die Geister dann nicht schon längst etwas gegen den Fürsten unternommen? Könntet ihr ihn nicht zur Strecke bringen?“ Erstmals lächelte Rhumpten, und es wirkte sehr zart und kämpferisch zugleich.
„Du gehst von der irrtümlichen Annahme aus, dass Geister unsterblich sind. In Wahrheit sind wir genauso sterblich, wie ihr Lebenden.“
„Wirklich?“, fragte Simlon überrascht, und erneut nickte der Zentaur.
„Der einzige Unterschied ist, dass wir der Zeit überlegen sind. Wir können weder Krankheiten bekommen, noch unglücklich Unfälle erleiden oder uns verletzen. Doch wenn ein anderer den Willen hat, uns zu töten, sind wir genauso verwundbar, als wären wir nie gestorben. Und der erneute Tod hätte für uns weitaus schwerwiegendere Folgen als für normal Sterbliche. Warum glaubst du, entscheiden sich nicht mehr Lebewesen für ein Leben als Geist?“ In diesem Moment flog ein Geist mit drei Schwänzen an ihnen vorbei und berührte Simlons Arm. Es war bitterkalt und doch lebendig.
„Wieso?“, fragte Simlon vorsichtig und rieb immer noch mit der Hand über die Stelle, an der der Geist ihn gestreift hatte, doch es hörte nicht auf zu kribbeln. Er fragte sich schon, ob er zu weit gegangen war, doch nach einer kurzen Weile sagte Rhumpten: „Weil ein Toter, der sich entscheidet, in die Welt der Lebenden zurückzukehren, durch diese Entscheidung seinen Platz im Jenseits verspielt. Wenn er noch einmal stirbt, muss er für immer als umher irrende Seele zu einem Teil der Sterne werden, und wer weiß schon, was das bedeutet. Es gibt Winkel in diesen Dimensionen, von denen keiner nur den blassesten Schimmer hat.“
„Aber…verzeih mir, ist das denn so schlimm?“ Rhumpten drehte den Kopf zu ihm und schaute ihn lange an.
„Menschen hassen das Unbekannte, und so geht es auch uns. Es liegt in unserer Natur, uns vor dem zu fürchten, was wir nicht kennen.“
Sie waren an einer Sackgasse angelangt, und eine massive Steinmauer versperrte ihnen den Weg. Simlon fiel erst jetzt auf, dass sie vollkommen allein waren, und eine drückende Stille sie begleitete. Er wollte bereits umdrehen, doch Rhumpten hielt ihn zurück. „Sieh dir die Wand genauer an, Mringard“, bat er ihn. Simlon griff eine der Fackeln von der Wand, um die düsteren Schattierungen besser sehen zu können. Mit zusammengekniffenen Augen stellte er fest, dass es sich um ein Wandgemälde handelte. Angestrengt betrachtete er die Zeichnungen und erkannte in der Reihe von links nach rechts einige schwarze Strichmännchen, daneben die undeutliche Abbildung eines Buches und noch weiter rechts einen Stern, der im Gegensatz zu allen anderen Zeichnungen mit blauen, nicht schwarzen, Strichen gemalt worden war. Rechts von ihm waren wieder einige Strichmännchen aufgemalt, die sich von dem Stern weg zu bewegen schienen.
„Was ist das?“, fragte Simlon konzentriert und starrte mit leicht geöffnetem Mund auf die Abbildungen. Irgendwie, er wusste nicht, weshalb, hatte er das Gefühl, dass diese Zeichnung wichtig war.
„Ich habe keine Ahnung“, erwiderte Rhumpten, und Simlon konnte nicht einordnen, ob er enttäuscht klang. „Selbst die ältesten und weisesten Geister wissen keine Lösung auf dieses Rätsel. Und Jomera scheint zwar mehr zu sehen als wir, aber ganz verstehen kann er es auch nicht. Ich hatte gehofft, du könntest uns weiterhelfen.“ Simlon betrachtete die Zeichnung erneut und versuchte, sie durch die Intensität seines Starrens zu zwingen, ihr Geheimnis preiszugeben, doch nichts geschah.
„Es tut mir leid“, sagte er leise und zog die Fackel zurück. Nun waren nur noch die Umrisse des blauen Sterns zu erkennen, als wollten sie gesehen werden und sich doch verstecken.
„Wie ich sagte“, summte Rhumpten, „es gibt Dinge, von denen man nie Kenntnis haben wird."
Der Abend war angebrochen, als es an der Tür klopfte und Rhumpten in Simlons Kammer trat.
„Er erwartet Euch nun, Mringard“, sagte er. Simlon nickte stumm und kratzte sich unwillkürlich am linken Unterarm, was er immer tat, wenn er nervös wurde. Er konnte es kaum erwarten, Jomera zu treffen.
Er folgte Rhumpten, und sie betraten den Fensterlosen Saal, der in das gewohnt fahle Licht der Kronleuchter getaucht war.
„Wo treffe ich ihn? Nicht im Fensterlosen Saal?“, fragte Simlon verdutzt mit Blick auf den leeren Holztisch, denn er war eigentlich davon ausgegangen, dass der Weise ihn hier erwarten würde. Rhumpten schnaubte belustigt.
„Ich denke, der Weise hat genug Vertrauen in dich, dass er davon ausgeht, dass du den Weg hierher auch alleine hättest finden können.“ Simlon schmunzelte unsicher.
„Das stimmt wohl“, entgegnete er. „Aber wohin gehen wir dann?“
„Du wirst es gleich sehen.“
Er führte Simlon tief in die Eingeweide der Burg. Ab und zu huschten Geister an ihnen vorbei, doch sie schienen sich nicht besonders für sie zu interessieren. Nachdem sie eine gefühlte Viertelstunde durch das Labyrinth aus Gängen gestapft waren, blieb Rhumpten, der die ganze Zeit vor ihm gelaufen war, stehen und trat zur Seite, sodass Simlons Blick auf eine dünne, elfenbeinfarbene Wendeltreppe fiel. In scheinbar endlos dünnen Spiralen kringelte sie sich nach oben und im verschwand im Schatten der hohen Decke in einem dunklen Loch.
„Scalari Sritnuma, die Sternentreppe“, erklärte Rhumpten auf Simlons fragenden Blick, „der Weise erwartet dich an ihrer Spitze.“
„Wohin führt sie?“
„In die Sternenwarte“, sagte Rhumpten monoton.
„Es gibt eine Sternenwarte?“, fragte Simlon verblüfft.
„Sonst würde die Scalari Sritnuma nicht in einer münden“, erwiderte der Zentaur trocken, als belustige ihn Simlons Naivität. Simlon verstand nicht, warum Rhumpten plötzlich so sarkastisch war. „Und nun solltest du gehen. Teile dir deine Kraft ein, die Treppe ist steil und ewig lang.“ Mit diesen Worten kehrte er um und war im nächsten Moment verschwunden. Leicht verwirrt begann Simlon mit dem Aufstieg. Seine Schritte klangen dumpf und pochend auf dem nicht erkennbaren Material, aus dem die Treppe bestand. In das Geländer waren überall die unterschiedlichsten Sternformen geschnitzt und hoben sich sanft und glatt von ihrem Untergrund ab. Machart und Zustand der Treppe ließen keinerlei Schlüsse auf ihr Alter zu.
Tatsächlich war der Aufstieg so beschwerlich, wie Rhumpten ihn in Aussicht gestellt hatte. Nach zweihundertdreiundvierzig Stufen hatte Simlon müde aufgehört zu zählen. Er hatte nicht gewusst, dass die Burg einen so hohen Turm hatte, der wohl weit über den Rest der Burg hinausragen musste, denn selbst als Simlon den Durchgang in der Decke erreichte, fiel nur ein münzengroßes Licht von oben auf ihn herab und verriet ihm, dass die Spitze noch weit entfernt war. Aber schließlich wurde das Licht immer größer, und Simlon fiel ächzend auf den Boden eines kreisrunden, engen Raums mit glattem Steinboden. „Da bist du ja“, vernahm er eine vertraute Stimme und blickte auf. Jomera stand vor einer Reihe von über und über mit Pergamenten, Karten und seltsamen Objekten voll gestopften Regalen. Hinter ihm saß ein Koloss von einem Teleskop, dessen gewaltiges Fernrohr durch eine Glaskuppel an der Decke auf die leuchtenden Sterne fixiert war, als sei es der Aufseher des Himmels. Simlon bemerkte, dass auf dem Boden des Raumes mit weißer Farbe etwas gezeichnet war, und er erkannte, dass es etwas wie eine detaillierte Sternenkarte sein musste.
Simlon verbeugte sich tief. „Hallo, Weiser!“ Jomera, in einen blassroten Umhang gehüllt, schritt auf das Teleskop zu und fuhr mit dem Zeigefinger liebevoll über die spiegelglatte Oberfläche.
„Wie war dein Tag heute?“, fragte der Weise.
„Gut“, sagte Simlon zögerlich, denn er wusste nicht, was für eine Antwort der Weise von ihm erwartete.
„Tatsächlich?“, sagte Jomera träumerisch und blickte von dem Teleskop auf „Das kann ich mir kaum vorstellen.“
„Wieso sollte es nicht so gewesen sein, Weiser?“
„Wegen allem, Simlon. In deinem Kopf muss ein Krieg ausgebrochen sein zwischen den Fragen, die du hast, und deiner Fantasie, die sie dir beantwortet. Du hast erfahren, dass deine Welt sich nun auf dich verlässt, und nur ein Narr wie Tringard würde nicht erkennen, welchen Preis dieses „Besonders-Sein“ hat.“ Jomeras Augen funkelten. Simlon zögerte, aus Angst, etwas Falsches zu sagen.
„Aber ist es nicht eine Ehre, der Auserwählte zu sein?“
„Spürst du ein Gefühl der Ehre, Simlon?“, fragte der Weise mit hoch gezogener Braue. Simlon antwortete nicht. „Natürlich nicht. Deine Angst übersteigt dein Ehrgefühl bei Weitem. Wenn es anders wäre, wärst du nicht bei Verstand.“ Er wartete, bis Simlon nickte und blickte plötzlich ernst. „Dieses Verhalten zeugt weder von Schwäche, noch von Feigheit. Es beweist Vernunft. Man ist zuerst man selbst und nicht der, den Andere in einem zu sehen hoffen.“ Aus irgendeinem Grund war Simlon unglaublich dankbar für diese Worte, denn sie nahmen ihm das Schamgefühl ein wenig, das daher rührte, dass er sich wünschte, niemals auf der Burg erschienen zu sein.
„Es ist also in Ordnung, Angst zu haben?“, fragte er und Jomera sah ihn durchdringend an.
„Sie nicht zu haben, wäre fatal. Angst hindert uns daran, den Weg vor uns zu unterschätzen. Jeder gute Krieger weiß, wovor er Angst hat. Seine Stärke liegt darin, sie zu kennen und ihr zu trotzen. Falls es dich beruhig; auch der Fürst verspürt Angst: Vor dir.“ Bei diesen Worten begann Simlon zu lachen, so absurd klang es, dass der mächtige Fürst von Dragon sich vor ihm, dem kleinen zurückhaltenden Bauernjungen, fürchten sollte - doch Jomera blickte ihn ernst an, und eine tiefe Falte lag auf seiner runzligen Stirn.
„Du fragst dich bestimmt, warum du heute hier oben auf der Sternwarte mit mir bist“, fuhr er unbeirrt fort, „Ich möchte dir erklären, was es heißt, der `Auserwählte´ zu sein…wenn es nur so einfach wäre.“ Er kam auf Simlon zu, und erst jetzt merkte der Junge, wie groß der Weise eigentlich war. Die blauen Augen des Alten blitzten.
„Es ist faszinierend, welche Windung des Schicksals dich und mich hierher gebracht hat. Dich dazu auserkoren hat, dein Leben zu riskieren, um das anderer zu retten. Ich kann dir leider nur sagen, dass es so ist, und dass du lernen musst, damit umzugehen. Es mag dir vielleicht nicht gefallen, aber es wird der Tag kommen, an dem du dich dem Fürsten stellen wirst, um dabei entweder zu triumphieren oder zu sterben.“ Die Selbstverständlichkeit in seiner Stimme ließ Simlon frösteln. Die beiden musterten sich kurz und innig.
„Das weiß ich“, sagte Simlon schließlich mit schwacher Stimme. „Vorausgesetzt, es ist unmöglich, dass Ihr Euch irrt?“ Der Weise seufzte und nickte.
„In diesem Fall bin ich mir sicher.“
„Die Prophezeiung könnte nicht...?“
„Nein. Ich habe alles überprüft, und ich weiß, dass sie sich auf dich bezieht. Es liegt dir im Blut.“ Simlon verstand zwar nicht genau, was er damit meinte, aber es war auch zweitrangig. Dies war seine letzte Aussicht gewesen, dass es sich um ein Missverständnis handeln könnte und er wieder nach Hause zurückkehren konnte. Komischerweise enttäuschte es ihn nicht, sondern es half ihm ein wenig, seine Situation zu akzeptieren. Er konnte sie nicht ändern, entweder er fand sich jetzt damit ab oder nie.
„Was gibt es nun zu tun?“, fragte er. Jomera räusperte sich und drehte ihm erneut den Rücken zu.
„Zunächst“, sagte er schließlich, „wirst du dich einer Ausbildung unterziehen müssen. Deine Kräfte sind außergewöhnlich, aber sie müssen noch geschult werden.“
„Aber das stimmt nicht. Ich habe keine außergewöhnlichen Kräfte“, warf Simlon ein.
„Du wirst es sehen“, entgegnete Jomera knapp, „Wenn du nichts dagegen einzuwenden hast, würde ich gerne dein Lehrer sein. Ich habe mit Rhumpten gesprochen, und wie ich hörte, hat er dir bereits erklärt, dass er dich die Verteidigung gegen Angriffe auf deine Gedanken lehren wird. Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit als wir haben, aber ich bin mir sicher, dass du schnell Fortschritte machen wirst, auch wenn es vieles geben wird, das nur du dir selbst beibringen können wirst und musst.“
„Wenig Zeit?“, fragte Simlon überrascht und enttäuscht, denn er hatte wenigstens gehofft, sich ein wenig mit dem Gedanken, der Auserwählte sein zu sollen, anfreunden zu können, doch Jomera wirkte plötzlich düsterer als zuvor.
„Denkst du, es war Zufall, dass ihr auf dem Weg zu meiner Burg angegriffen wurdet? Der Fürst sendet seine Drago-Soldaten nie ohne Grund aus. Ich glaube, dass er genau weiß, was vor sich geht.“
„Dann weiß der Fürst auch von der Prophezeiung?“, fragte Simlon mit flatternder Stimme. In seinem Bauch begann ein Unwohlsein wie ein Pendel hin und her zu schwingen.
„Selbstverständlich. Und er wird die Zeichen zu deuten wissen. Ich fürchte sogar, dass er bereits einen Weg in die andere Dimension gefunden hat, um sich des anderen Auserwählten anzunehmen.“
„Aber dann müssen wir ihm helfen“, rief Simlon, ohne auch nur den leisesten Hauch einer Ahnung zu haben, wie er das anstellen sollte, doch Jomeras entspannter Blick ließ ihn stutzen.
„Mach dir darüber zunächst keine Gedanken. Ein Freund von mir kümmert sich um ihn und sollte in der Lage sein, ihn zu schützen, bis du den Weg durch das Tor gehen kannst. Auch deshalb musst du hart trainieren. Die Tore haben ihre eigene Magie, und nur die fähigsten Krieger sind in der Lage, ihrer Macht zu trotzen. Gedulde dich“, sagte er mit leicht erhobener Stimme, als Simlon den Mund öffnete. „Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt, um in Unruhe zu verfallen.“ Es klang wie eine Rüge, und sofort stellten sich Simlons Nackenhaare auf.
„Verzeiht, Weiser“, sagte er eingeschüchtert, doch der Weise winkte ab und schritt hinüber zu dem Teleskop, durch das er in die Sterne blickte.
„Weißt du, Simlon, es bringt nichts, es nicht auszusprechen. Du hast einen unglaublich schweren Weg vor dir. Du musst dein zu Hause verlassen, womöglich für immer. Der Krieg wird dir vieles nehmen, und was ist die Erfolgsaussicht? So ungewiss wie der fliegende Wechsel der Jahreszeiten. Aber du wirst niemals alleine sein!“ Da war es schon wieder. Was meinte der Weise damit? „Komm her!“ Simlon stellte sich neben ihn. „Schau hier durch“, sagte der Weise und wich von dem gewaltigen Teleskop zurück, um Simlon Platz zu machen. Mit zusammengekniffenen Augen bückte er sich ein wenig und sah durch das Fernrohr, durch das die unglaubliche Vielfalt an Sternen beinahe so wirkte, als könne er sie mit der Hand greifen. Es war wunderschön.
„Beeindruckend, nicht wahr?“, sagte Jomera verträumt, „Die Sterne bergen Geheimnisse, die die Erde nicht kennt. Jenseits von ihnen liegt eine andere Dimension, und ich frage mich, ob man von dort ihre Rückseiten sieht. Es ist faszinierend. Sie sind unerschütterlich und strahlen auch, wenn alles rund herum dunkel ist. Als würden sie eine Macht besitzen, die verhindert, dass die Welt erlischt.“ Simlon schwieg und lauschte den Worten des Alten, als wären sie ein Schlaflied. Ein weiteres Mal starrte er hinauf und versuchte etwas zu erkennen, doch die Sterne schienen ihr Geheimnis verbergen zu wollen.
„Falls du dich fragen solltest, warum ich wollte, dass wir uns hier treffen“, sagte Jomera und deutete gen Himmel, „so ist das die Antwort. Ich möchte, dass du von nun an jeden Abend hierher kommst und die Sterne untersuchst.“
„Warum?“, fragte er behutsam. Der Weise lächelte geheimnisvoll.
„Hoffentlich um etwas zu entdecken, das ich nicht finden kann. Und sollte es sich nicht zeigen, hast du wenigstens deine Ausdauer beim Begehen der Scalari Sritnuma trainiert.“ Simlon verzog die Mundwinkel und schaute wieder in den Raum. Ihm war etwas schwarz vor Augen. Für einen Moment beobachtete er, wie Jomera mit grübelnder Miene durch die Kuppel spähte. Dann senkte der Alte den Kopf und legte seine langen Finger wieder aneinander.
„Ich denke, damit weißt du alles. Oder zumindest weißt du das, was ich dir sagen konnte. Aber bevor du wieder hinab steigst, möchte ich dir jedoch etwas geben.“ Er ging hinüber zu einem dreibeinigen Holzschemel, auf dem ein längliches, fest verschnürtes Päckchen lag, das von einem Samttuch bedeckt wurde. Mit einem gemurmelten Zauber löste er die Schnur und zog das Tuch beiseite. Simlons Atem stockte.
In Jomeras Hand lag das schönste und anmutigste Schwert, das Simlon jemals gesehen hatte. Die Klinge war so blau wie der Himmel selbst und schimmerte matt. Sie war sehr schmal, schien jedoch so scharf zu sein, als könne sie Dinge allein durch ihre Anwesenheit in Stücke schneiden. Der Griff war silberlegiert und von Rillen eingerahmt, die sich wie eine Spirale auf den Knauf zuspitzten, auf dem ein glänzender Kristall saß. Simlon sog die Luft tief ein, denn er spürte auf eine seltsame Art die bebende Kraft des Schwertes vor ihm.
„Sanaleor“ sagte der Weise leise, „Oder Himmelsblut, wie es in dieser Sprache heißt. Ich möchte, dass du es trägst.“
„Ich?“, fragte Simlon verdutzt, „das…das geht nicht. Ich kann es nicht annehmen.“
„Dieses Schwert ist eines der mächtigsten Schwerter in ganz Nirada. Es hat immer den größten Kriegern gehört, und du wirst bald einer von ihnen sein. Ich hätte das Gefühl, dich um dein Erbe zu betrügen, wenn du es nicht bekämst.“ Er hielt es Simlon hin, doch der griff nicht danach.
„Ich denke nicht, dass ich es führen kann. Ich weiß nicht einmal richtig, wie man kämpft.“
„Sanaleor weiß es. Außerdem hast du dich im Schwertkampf gegen einen Drago-Soldaten behauptet.“ Simlon verzog das Gesicht, aber dann griff er nach dem Schwert, das ihn wie ein Hypnotiseur einzulullen schien. Er umfasste den Griff- er war überraschend warm- und hob das Schwert. Bewundernd schwang er es einige Male. Es sirrte so natürlich durch die Luft, als würde er es seit Jahren tragen.
„Gut“, sagte Jomera feierlich und räusperte sich erneut, „Dies ist eines der fünf Schwerter, die die Ära der Sarpetier überstanden haben. Ihre Schwertschmiedekunst ist unübertroffen", sagte er, und plötzlich blickte er sehr ernst, und in seinem glatten Gesicht zogen sich die Falten zusammen, sodass er plötzlich irgendwie zerbrechlich wirkte.
„Sarpetier?“, fragte Simlon vorsichtig. Irgendetwas an diesem Namen kam ihm bekannt vor, doch er wusste nicht, woher es kam, denn er war sich sicher, ihn noch nie zuvor gehört zu haben. Jomera wischte sich eine seiner langen silbernen Strähnen aus dem Gesicht, sodass er kurz in Schatten gehüllt war.
„Hast du schon einmal von Orafar Normir gehört? “
„Nein. “
Jomera seufzte. „Nun gut, davon mehr ein andermal. Sarpetier ist der Name jenes vergessenen Königsvolkes, das vor dem Fürsten von Dragon über Nirada geherrscht hat“, erklärte er träge. Simlon erinnerte sich. Es gab viele Legenden um diese Zeit, doch keine Greifbaren.
„Wieso sind sie in Vergessenheit geraten? Soweit ich mich erinnere, ist ihre Herrschaft noch nicht allzu lange her“, fragte Simlon. Jomera schnaubte bitter.
„Wieso sollte man sich an etwas erinnern, dass es nicht mehr gibt?“, fragte er und löschte das Feuer einer Kerze, indem er mit der Handfläche sanft darüber fuhr. „Die Erinnerung an sie ist so schnell erloschen, wie diese Flamme. Kennst du das Tote Land?“ Simlon nickte und erinnerte sich, dass man ihm erzählt hatte, irgendwo im Westen von Nirada gäbe es ein ganzes Land, das gänzlich unbewohnt sei.
„Ja.“
„Dies war ihr Reich. Die Sarpetier waren gerechte Herrscher. Trotz ihrer Macht. Und sie waren stark, deutlich mächtiger, als alle anderen Völker Niradas, einschließlich der Zauberkraft der Elfen. Unter ihnen hat Nirada eine Blütezeit erlebt.“
„Aber wie konnte das zu Ende gehen?“, fragte Simlon neugierig.
„Genaues wissen nur die Sterne. Es ist nur bekannt, dass an einem schicksalhaften Tag eine gewaltige Explosion Lif Fibair, ihre Hauptstadt, erschütterte und sämtliches Leben auslöschte, das dort jemals existiert hat. Niemand hat überlebt. Anschließend ist in Nirada der Kampf um die Macht ausgebrochen, eine hässliche, grausame Zeit. Bis der Fürst von Dragon aus dem Nichts die Bildfläche betrat und die Gunst der Stunde nutzte, in der Nirada in Schockstarre zuschaute, wie er es vom einen auf den anderen Tag mit unbändiger Kälte eindeckte.“ Er machte eine erdrückende Pause und ging hinüber zur nächsten Kerze. Ein leichtes Prasseln ließ Simlon aufsehen - dicke weiße Flocken fielen auf die Glaskuppel des Turms und drückten so schwer auf sie, wie Jomeras Worte auf ihn.
„Also…ist der Fürst für den Untergang von Lif Fibair verantwortlich?“
„Es ist nicht ausgeschlossen. Der Fürst ist deutlich mächtiger, als jeder Sarpetier-Herrscher zuvor es gewesen ist. Aber niemand weiß, woher er kommt und wer er ist, nicht einmal, ob er überhaupt menschlicher Natur entspringt. Er ist sehr darauf bedacht, seine Anonymität zu wahren und schützt sich mit starken Schildzaubern davor, dass irgendjemand seine wahre Identität herausfindet. Sogar seine engsten Vertrauten kennen sie nicht. Auf der einen Seite macht ihn das schwer einschätzbar, auf der anderen Seite aber zeigt es auch, dass er etwas zu verbergen hat“, Jomera sprach nun mehr mit sich selbst. „Vielleicht ist das der Schlüssel zum Erfolg. Aber es ist nicht an der Zeit darüber zu philosophieren. Die Explosion wird eigentlich nicht auf ihn zurückgeführt. Es heißt, dass der Herrscher der Sarpetier selbst dafür verantwortlich gewesen sein soll - doch auch das ist nur Mutmaßungen“, schloss er und lächelte traurig, „Wer weiß es schon?“ Simlon schwieg betreten und blickte auf die Kerze hinab, über der Jomera stand. Ihre Flamme hatte zu flackern begonnen, als würde ihr jemand die Lebensenergie entziehen. Er dachte an das alte Volk, das über Nacht aus Niradas Erinnerung verschwunden war. Er konnte nicht glauben, dass es einfach nur ein Zufall war, dass der Fürst so kurz danach die Macht ergriffen hatte. Was steckte wirklich dahinter?
„Und niemand hat überlebt?“, fragte er deshalb.
„Oh, selbstverständlich. Ich habe nicht den geringsten Zweifel daran, dass es irgendwo in Nirada noch welche von ihnen gibt. Doch wie viele es sind oder wo sie sich aufhalten, das wissen nur…“
„…die Sterne“, beendete Simlon den Satz und errötete, als er merkte, dass dies vielleicht unhöflich gewesen war, doch der Weise schmunzelte selbstgefällig.
„Ich bin also schon berechenbar geworden. Du solltest jetzt schlafen gehen. Morgen früh beginnen wir mit deiner Ausbildung. Es wird ein langer Tag.“ Simlon spürte plötzlich, wie die Müdigkeit in seinen Kopf kroch, als wolle sie sich dort einnisten, und auf einmal war es ihm sehr recht, sich zurückziehen zu können, obwohl in seinem Kopf immer noch Fragen umherirrten. Doch eines musste er noch wissen.
„Warum ich?“, fragte Simlon und wieder durchbohrten ihn die azurblauen Augen des Weisen wie ein Eispickel, als würde er selbst nach dem Grund in Simlons Gesicht suchen.
„Ich habe nicht die leiseste Ahnung.“
Simlon biss sich enttäuscht auf die Unterlippe. „Gute Nacht, Weiser!“
„Enneyei, Mringard!“(Schlaf gut), erwiderte der Weise und fuhr endlich mit der Hand über die flackernde Kerze, deren Flamme, als wäre sie dankbar dafür, augenblicklich erlosch.