Читать книгу Der Stern von Nirada - Band 1 - Felix van Kann - Страница 12
Kapitel 4 - Der Verbannte
ОглавлениеJamie schlug die Augen auf und verspürte das Gefühl von Panik, das man kurz empfindet, wenn man an einem anderen Ort als erwartet aufwacht und vollkommen orientierungslos ist.
Schnaufend schälte er sich aus dem dünnen Laken und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Er lag auf einer Matratze, die wiederum auf einem alten Holzboden lag, der müde aufstöhnte, als Jamie sich aufsetzte. Verwirrt blickte er sich um: Er schien in einer Art Hütte zu sein, denn der Raum, in dem er sich befand, war offenbar das einzige Zimmer. Durch zwei mit Insektenüberresten verklebte Fenster schimmerten sehr schwache Lichtstrahlen, als habe jemand die Scheiben von außen verhangen. Abgesehen von einem kleinen Tisch und einem nach kalter Asche riechenden Kamin war der Raum vollkommen leer und verlassen. Er stand auf und rümpfte die Nase - offenbar war die Hütte lange nicht mehr benutzt worden, denn der Boden war voller Staub, und einige Spinnen webten gemütlich ihre Netze in den Wandecken. Wie war er hierher gelangt?
Die Gedanken an das Geschehene kamen so plötzlich zurück, dass sie ihn unter ihrer Last beinahe zerquetschen. Er sank gegen die Wand und massierte sich die Schläfen, als könne das die massiven Kopfschmerzen verjagen, die er plötzlich verspürte. Die seltsamen Kreaturen kehrten in seinen Kopf zurück. Dann erinnerte er sich an den geheimnisvollen fremden Mann, der ihn gerettet hatte. Hatte er ihn etwa hierher gebracht? Wer war er?
Jamie ging zur Tür hinüber. Er hatte einen Entschluss gefasst. Es war egal, wieso er hier war, wichtig war nur, dass er schleunigst von hier und von der gesamten Situation, in die er immer tiefer hineinzuschlittern drohte, wegkam. Obwohl er darauf brannte, zu erfahren, was zur Hölle hier eigentlich vor sich ging, wusste er auch, dass der Mann, nur weil er ihn gerettet hatte, nicht zwangsläufig sein Freund war. Auch von Tyler hatte er sich Antworten erhofft - und war beinahe mit dem Tod bestraft worden.
Er drückte die Türklinke hinunter und war sich dabei schon fast sicher, dass sie verschlossen sein würde, doch er irrte sich. Sie sprang auf, und Jamie trat mit einem Gefühl von Zufriedenheit hinaus. Ein Gefühl, dass sich sofort in Fassungslosigkeit verwandelte, als er sah, was ihn vor dem Haus erwartete. Eine Mauer aus Bäumen war gut einen Meter vor der Tür aus dem Boden gewachsen und umzingelte die Hütte wie ein Palisadenzaun. Die Stämme standen so dicht beieinander, dass es vollkommen unmöglich war, mehr als nur einen Arm zwischen ihnen hindurch zu schieben. Mit offenem Mund umrundete er die Hütte, wobei er feststellen musste, dass es absolut kein Schlupfloch gab. Die Bäume waren gleichmäßig drei Meter hoch und frei von Ästen, als wolle jemand verhindern, dass er darüber kletterte.
„Ich glaub, ich bin im Wald“, sagte Jamie entgeistert und schüttelte sogleich den Kopf, weil der Spruch so unsäglich bescheuert war. Nachdenklich kratzte er sich am Kopf. Die Bäume hätten niemals zufällig so wachsen können. Probehalber trat er gegen den Stamm, doch er war so fest wie erwartet, und alles was ihm das brachte, war ein schmerzender Fuß. Die grüne Baumkrone schien hämisch auf ihn hinab zu linsen.
Resigniert kehrte er in die Hütte zurück und warf sich auf die Matratze. Seine Situation gefiel ihm nicht, und wenn er ehrlich zu sich war, musste er sich eingestehen, dass er einen immer größeren Respekt vor den Dingen entwickelte, die um ihn herum geschahen und ihn in ihre Mitte zu ziehen schienen. Ihm entglitt die Kontrolle, ein Gefühl mit dem er sich nicht abfinden wollte. Entschlossen schüttelte er den Kopf. Er würde sich nicht unterkriegen lassen, und erst recht würde er nicht darauf warten, dass jemand zurückkam und sonst etwas mit ihm anstellte. Eine Reihe Bäume konnte ihn nicht aufhalten. Er sprang wieder auf, dehnte seine Finger, bis sie knacksten, und schritt hinaus.
Eine halbe Stunde später kam er fluchend wieder hinein. Er pustete gegen seine pulsierenden, von Schwielen überzogenen Finger und keuchte angestrengt. Völlig unmöglich! Einen Moment lang blieb er stehen und dachte nach. Es musste doch einen Weg hinaus geben. Aber Jamie hatte das Gefühl, dass jemand großen Wert darauf legte, ihn zu sehen, bevor sich dieser Weg offenbarte.
In der Hütte wurde es langsam dunkel. Die alten Pendelleuchten, die an der Decke hingen, hatten kurz aufgeflackert, als er den Lichtschalter betätigte, dann aber sofort den Geist aufgegeben und die Hütte den Schatten überlassen, sodass er nun fast nichts mehr sehen konnte.
Er lag auf der Matratze und langweilte sich zu Tode. Wer auch immer ihn hierher gebracht hatte, schien es nicht sonderlich eilig zu haben, und das nervte Jamie gewaltig. In den vergangenen Stunden hatte er noch drei erfolglose Ausbruchversuche gestartet. Er hatte sogar versucht, seine Fähigkeiten zu mobilisieren, doch in seinem Inneren regte sich zu seiner Enttäuschung weniger als in einem Leichenschauhaus, was ihn so sehr verbitterte, dass er schließlich widerwillig einsah, dass er sich wohl gedulden musste.
Ein Knacken ließ ihn aufhorchen. Mit durchgedrücktem Rücken lauschte er angestrengt auf das, was vor der Hütte passierte. Ein Knallen und Peitschen war zu hören, und durch das Fenster fiel plötzlich wieder ein wenig mehr Licht. Jemand war da.
Mit pochendem Herzen glitt er vom Bett und sah, dass die Baumkette vor der Hütte einfach verschwunden war. Nichts deutete mehr darauf hin, dass sie je existiert hatte. Jamie schluckte, als er vor dem Haus Schritte hörte. Vorsichtig schlich er über den knarrenden Boden hinter die Tür und hielt den Atem an. Es war wichtig, dass er das Überraschungsmoment auf seiner Seite hatte, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Er hatte nicht vor, es seinem Entführer einfacher zu machen, indem er sich gefügig unterwarf. Er würde agieren.
Ein dumpfes Stapfen war vor der Tür zu hören, dann sprang sie auf. Jamie ließ den langen Holzsplitter aus seinem Ärmel gleiten, den er aus dem Boden herausgelöst hatte, und wog ihn nervös in der Hand. Dem Fremden würde er einen unerwarteten Empfang bereiten.
Doch anstatt einzutreten, hielt die Person auf der Schwelle inne. Jamie wagte es kaum zu atmen. Was ging hinter der Tür vor sich? Dann schließlich machte die Person doch den Schritt ins Innere, und Jamie witterte seine Chance. Den Holzsplitter erhoben, sprang er hervor, bereit zu zustechen, doch eine riesige Hand schloss sich fest wie eine Stahlkette um sein Handgelenk und drehte es so, dass er den Splitter fallen lassen musste. Jamie schrie auf, und sein Schrei übertönte die Worte, die die Gestalt nun mit donnernder Stimme aussprach. Im nächsten Moment wurde Jamie von einer unsichtbaren Kraft gepackt, die ihn mitriss und hart gegen die Wand schleuderte, von der er entkräftet auf die Matratze zurücksank.
„Das nächste Mal“, sagte eine helle Männerstimme reserviert, „überleg dir bitte eine klügere List. Etwas weniger Offensichtliches vielleicht.“ Vor Jamies Augen tanzten Lichter umher, doch nun erkannte er schemenhaft einen Mann, der ihm bereits einen massiven Rücken zugewandt hatte und zum Kamin schritt.
„Hätte ja klappen können“, sagte er, nach wie vor keuchend.
„Dann bist du davon ausgegangen, dass dein Gegner dumm wie Brot und so langsam wie ein altersschwaches Faultier ist, und das ist schon ein Fehler für sich. Unterschätze niemals einen Feind. Anaptirm! (Brenne!)“ Eine Flamme züngelte im Kamin auf und tauchte die Hütte in orangefarbenes Licht. Jamies Rücken schmerzte stark von dem Aufprall, doch er interessierte sich mehr für den fremden Mann, der sich nun auf den Schaukelstuhl fallen ließ und seine Hände über dem Feuer wärmte.
„Wer bist du?“, fragte Jamie herausfordernd, „und was hast du mit mir vor?“
„Mein Name ist Gwin. Gwin, der Verbannte“, sagte er schlicht und drehte sich erstmals zu Jamie um, sodass er ihm ins Gesicht sehen konnte. Jamie erkannte ihn sofort. Es war der Mann, der ihn vor den Kreaturen gerettet hatte. Damals hatte Jamie nur seine Umrisse erkennen können, doch nun wurde ihm klar, dass er ihn sich ganz anders vorgestellt hatte. Sein Gesicht bildete einen brutalen Kontrast zum Rest seines Körpers, weil es weich, kindlich und eindrucksvoll gutmütig wirkte. Dunkles Zottelhaar kräuselte sich über die platte Stirn und präsentierte sich beinahe als Vorhang für zwei stille, konturenscharfe olivgrüne Augen. Ohne es zu wollen, flößte der Mann ihm ein grenzenloses Vertrauen ein, als er mit einem schmallippigen, breiten Lächeln zu Jamie hinab blickte. Sei vorsichtig, ermahnte sich Jamie, denn schließlich hatte der Mann ihn eben angegriffen. Widerwillig musste er sich jedoch eingestehen, dass allein Gwins Erscheinung ihn beeindruckte. Er war deutlich über zwei Meter groß und von Kopf bis Fuß muskelbepackt. Seine Haut war ledrig, aber beinahe leuchtend hell, und das mittellange Haar stand ungebändigt vom Kopf ab.
„Na gut, Gwin. Kannst du mich bitte nach Hause bringen, meine Eltern machen sich bestimmt bereits Sorgen um mich“, sagte er bewusst unfreundlich, doch Gwin sah ihn nur an, und er schien etwas traurig zu sein.
„Nach Hause wirst du eine lange Weile nicht mehr gehen. Um deine Eltern mach dir keine Sorgen…sie erinnern sich nicht an dich.“
„Was?“, sagte Jamie halb lachend, halb verunsichert, „was erzählst du da für einen Unsinn? Was hast du mit mir vor?“, fragte er erneut, diesmal noch eindringlicher. Gwin seufzte schwermütig und kam näher, doch er sagte nichts. In diesem Moment fiel Jamie auch die seltsame Kleidung des Mannes auf. Er trug einen dicken, grauen Strickpullover aus einem fremden Fell, das ein wenig wie Wolle aussah, nur drahtiger, und eine schwarze Hose aus Stoff, deren Enden in zwei schwere Stiefel gestopft waren. So würde er nicht mal an Halloween rausgehen. Laut sagte er das jedoch nicht, denn an einem Lederriemen, den Gwin um die Taille gebunden hatte, baumelte eine Armbrust. Gwin schien zu merken, dass Jamie ihn musterte, denn er schürzte die Lippen.
„Du siehst verwundert aus“, sagte der Mann ruhig. Jamie schnaubte verbittert. Mit einem Mal war alle seine Wut verflogen, und er zweifelte einfach nur an seinem Verstand.
„Klar, wie denn auch nicht? Ich meine, mein Tag kann nicht noch schlechter laufen. Erst werde ich von zwei Wesen verfolgt, von denen ich nur hoffen kann, dass ich sie mir nur eingebildet habe, und dann erwache ich gefangen in irgendeiner Hütte, die von einer Baumwand umschlossen wird - und dann begegne ich dir…“ Er beendete den Satz nicht, doch er wusste, dass er das nicht musste. „Ich will einfach nur wissen, was mit mir geschieht!“ Seine Stimme klang beinahe flehend. Der große Mann blickte ihn einfühlsam an, rückte näher zur Matratze und setzte sich unmittelbar vor den Jungen, der es trotz allem noch schaffte, den Blick stur und sicher zu erwidern.
„Ich weiß, was in dir vor sich geht, Jamie“, sagte er mit seiner rollend warmen Stimme und fuhr sich durch sein dichtes Haargestrüpp. „Ich will dir helfen. Zunächst aber möchte ich dich bitten, nicht mehr das Wort ´gefangen´ zu verwenden. Es steht dir frei zu gehen, auch wenn du nicht wegrennen kannst.“ Er ließ im Raum stehen, was er damit meinte, und fuhr fort: „Ich verlange nur, dass du dir anhörst, was ich dir zu sagen habe. Und zwar alles.“ Er sagte es nicht laut, aber befehlsgewohnt, sodass Jamies Resistenz kurzzeitig brach. Ihm wurde klar, dass Gwin seinen Willen für gewöhnlich durchzusetzen wusste, und für einen Moment gab ihm das ein Gefühl der Geborgenheit.
„All diese Dinge, die heute passiert sind“, begann Gwin, und Jamie spürte, dass ein flaues Gefühl sich in seiner Magengegend ausbreitete, „passieren aus einem Grund. Ich kann dich beruhigen, Jamie, du bist nicht verrückt. Und du hast dir nichts davon eingebildet. Was ich sagen will, ist, dass deine Fähigkeiten, genauso wie diese Kreaturen, real sind, wenn auch nicht von dieser Welt. Sie entspringen einer anderen Dimension, Jamie. Einer Welt, die parallel zu dieser hier existiert. Sie heißt Nirada und befindet sich derzeit in einer schweren Notlage, aus der du…“
„Das meinst du nicht ernst, oder?“, unterbrach ihn Jamie grinsend, „du verarschst mich doch!“
„Nein, ich sage die Wahrheit.“ Jamie starrte ihn immer noch mit offenem Mund an, als habe Gwin eine aufdringliche Warze im Gesicht. „Ich kann verstehen, dass…“ Aber Jamie war aufgesprungen und auf dem Weg zur Tür.
„Bleib sitzen“, sagte Gwin scharf, aber Jamie beachtete ihn nicht. „Ich sagte, bleib sitzen!“
„Sorry, aber das kannst du vergessen!“, entgegnete Jamie aufgebracht lachend. Die Tür knallte vor ihm ins Schloss und ließ sich nicht öffnen. „Du hast gesagt, dass ich gehen darf“, zischte Jamie, nun wütend.
„Sobald ich dir alles erklärt habe, ja“, entgegnete Gwin, nun wieder ruhig.
„Aber ich bitte dich“, rief Jamie widerspenstig und warf die Arme in die Luft. Eine Welle der Enttäuschung, die er sich selbst nicht erklären konnte, überflutete ihn und ließ seine Stimme schwach werden. „So einen Schwachsinn habe ich ja noch nie gehört. Ich weiß nicht, ob du das witzig findest oder irgendeiner Sekte angehörst, aber das ist doch nicht normal!“
Gwin sprang so plötzlich auf, dass Jamie erschrocken zurückwich.
„Aber du bist normal?“, fragte der große Mann plötzlich intensiv und kam zu ihm hinüber, „sag mir, Jamie, gab es einen Tag in den letzten Jahren, an dem du von dir selbst gedacht hast, du seiest normal?“
„Ich…“
„Du kannst mich belügen, aber niemals dich selbst. Die Wahrheit wird dich nicht loslassen. Du scheinst nicht dumm zu sein. Ich weiß, dass du dich hinterfragst und wissen möchtest, was es ist, dass dich von den anderen unterscheidet, ich habe das auch getan!“
„Und was ist das?“, fragte Jamie herausfordernd, doch immer noch im Rückwärtsgang. Gwin blieb kurz vor ihm stehen, und als Jamie dachte, er wollte ihn anschreien, sackten seine Schultern ein, und er sagte ganz ruhig: „Magie. Jamie, es ist Magie. Und die Tatsache, dass dein Schicksal nicht dieser Welt bestimmt ist, sondern einer anderen.“ Die Zeit schien für einen Moment anzuhalten, in dem das Wort Magie wie auf einem Bildschirmschoner von einer Ecke von Jamies Bewusstsein in die andere gestoßen wurde.
„Ma…Magie?“, fragte Jamie entgeistert und blickte in Gwins Gesicht, in dem auf so erschreckende Weise Aufrichtigkeit geschrieben stand. In der Hütte war es nun vollkommen still. Dann nickte Gwin.
„Ich weiß, dass es unglaublich klingt. Aber ich habe bewiesen, dass in mir genau dieselbe Kraft wohnt, wie in dir, das sollte reichen, um zu erkennen, dass ich nicht scherze. Und ich bitte dich, mir weiterhin zuzuhören.“ Ohne zu wissen, was er tat, glitt Jamie zurück auf die Matratze.
„Aber das klingt so falsch“, sagte er sich sträubend. Gwin lächelte sanft.
„Oh ja, das tut es. Als ich das erste Mal davon hörte, dass es außer meiner Heimat noch eine andere Dimension gibt, habe ich ähnlich reagiert, wie du.“
„Heißt das, du bist..“
„Ja“, sagte Gwin knapp, „ich stamme aus Nirada. Aus Smetland, um genau zu sein, einem kleinen Land im Südosten Gwest Nordias.“ Jamie verstand kein Wort von dem, was er sagte, und befahl sich immer noch, nicht auf eine solche Lüge hineinzufallen, doch sein Herz wusste es besser: Im Grunde hatte er von der ersten Sekunde an nicht den geringsten Zweifel an Gwins Geschichte gehabt.
„Also bist du ein Zeitreisender oder so was?“, fragte er langsam. Gwin lachte und es war ein dumpfes Grollen, als würde eine Felskugel über Kies rollen.
„Nein, eher ein Dimensionsreisender“, gluckste er tief, „und das auch nicht unbedingt freiwillig.“
„Wie meinst du das?“, fragte Jamie, doch der Hüne winkte ab.
„Lass uns dieses Thema ansprechen, wenn es sonst nichts mehr zu bereden gibt.“
„Okay“, befand Jamie und kratzte sich an der Nase, „und es ist wirklich…Magie?“
Abermals nickte Gwin. „Ja. Aber sie ist in Nirada bei Weitem nicht so selten, wie sie hier vorkommt. Nicht jeder, aber einige beherrschen sie, natürlich unterschiedlich stark. Die Wesen, die dich angegriffen haben, beispielsweise. Auch sie sind zauberkundig.“
„Was waren das für Geschöpfe?“, fragte er sofort, „und warum wollten sie mich töten?“
„Sie werden Drago-Soldaten genannt“, sagte Gwin schwerfällig und zog die Wangen hoch, als hätte er Schmerzen.
„Und wieso hat sich der eine freiwillig ertränkt? “
„Weil Drago -Soldaten kein Wasser vertragen. “
„Ja, hab ich gemerkt, aber wieso ist er mir dann überhaupt nach gesprungen? Wie dumm kann man sein? “
„Weil Drago-Soldaten nie von ihren Befehlen abweichen. Blinder Gehorsam ist nicht immer die beste Verhaltensweise, das heute war eine Art Musterbeispiel dafür. Aber sie wurden beauftragt, dich zu töten und zwar aus genau demselben Grund, aus dem ich bei dir bin und warum wir uns hier aufhalten. Ich sagte, Nirada sei in einer Notlage. Gewissermaßen bist du derjenige, der es daraus befreien kann.“
„Ich? Hmm?“ fragte Jamie schnell. Gwin zögerte, als habe er Bedenken, dass Jamie ihm Glauben schenken würde. „Erzähl es mir einfach!“ Die Stimme des Jungen klang begierig, und Gwin musterte ihn eingehend, als versuche er, in ihm zu lesen. Auf einmal wirkte Jamie sehr aufmerksam, keine Spur war geblieben von der anfänglichen Aufmüpfigkeit, mit der er Stärke hatte demonstrieren wollen. Gwin verstand. Jamie musste seit Jahren nach genau diesen Erklärungen gesucht haben, ohne sie je zu finden. Wie einsam und alleingelassen er sich auf dieser Suche vorgekommen sein musste.
„Nirada erlebt in diesen Tagen die schlimmste Zeit in seiner Geschichte. Der Fürst von Dragon beherrscht Gwest Nordia und unterdrückt die Völker meiner Heimat. Es herrscht keine Freude mehr in Nirada, sondern nur noch Willkür und Gewalt. Der Fürst kennt keine Gnade, weder mit Feinden, noch Untergebenen, noch Freunden. Er nutzt seine magischen Fähigkeiten, die bedauerlicher Weise umfassender sind als die eines jeden anderen, der je in Nirada gelebt hat, um den Menschen alles zu nehmen, woran sie je Freude hatten. Ein Mantel der Angst und des Hasses bedeckt das ganze Land und raubt seinen Bewohnern den Schlaf.“
„Das hört sich nicht so gut an“, evaluierte Jamie, und Gwin stieß ein ungehalten spitzes Lachen aus.
„Nein, in der Tat nicht. Keiner kann begreifen, woher diese wahnsinnige Wut auf Nirada kommt. Macht ist eine Versuchung, und nach ihr zu streben liegt in der Natur des Menschen. Doch der Fürst sieht sich nur sich selbst gegenüber verpflichtet. Viele Jahre schon suchen wir nach einem Weg, ihn zu stürzen, doch er schien übermächtig. Nun jedoch“, er sah Jamie aus seinen dunklen Augen an und vollkommen unvorbereitet traf diesen die Erkenntnis, „haben wir dich gefunden.“
„Mich?“, fragte er fassungslos und deutete mit dem Finger auf sich, als wolle er Gwin begreiflich machen, von wem er da sprach.
„Dich!“, antwortete Gwin grimmig,„Es ist eine Prophezeiung gemacht worden, die deine Person betrifft. Zwei Auserwählten soll das möglich sein, was keinem anderen gelingen kann. Du bist einer von ihnen.“ In Gwins Augen glänzte es, als er diese Worte sprach, und sogar das Feuer hinter ihm schien die Aussagekraft seiner Worte zu verstehen und dehnte sich kurz aus.
„Aber das kann nicht sein?“, haderte Jamie mit sich, fast so, als versuche er den Lösungsweg einer viel zu schweren Matheaufgabe nachzuvollziehen, „ wie soll ich…“
„Ich bin durch diese ganze Dimension gereist auf der Suche nach jemandem mit deinen Kräften“, entgegnete Gwin fest, „es gibt keinen Zweifel. Du bist der, den ich gesucht habe. Und die Drago-Soldaten haben es bestätigt. Sie spüren es auch.“
„Okayyy…“, begann Jamie und griff sich an den Kopf, als hoffe er, sich dadurch sortieren zu können, doch in seinem Kopf hatte nichts mehr einen Sinn, „was ist mit dem anderen Auserwählten?“
„Er befindet sich in Nirada“, sagte Gwin, nun hastig, „und das ist auch der Grund für den Angriff der Drago-Soldaten. Die Prophezeiung besagt, dass es die Aufgabe des anderen Auserwählten ist, dich in dieser Welt aufzusuchen, und dann mit dir gemeinsam nach Nirada zurück zu kehren.“
„Aber wie soll das möglich sein?“, fragte Jamie. Es schien unmöglich, sich vorzustellen, dass irgendwo in diesem Universum eine andere Dimension existieren sollte – und er dorthin reisen sollte.
Gwin schien sich kurz zu sammeln, dann antwortete er: „Über denselben Weg, der auch mir den Übertritt ermöglichte: Durch die Dimensionstore.“ Als Jamie ihn nur wie ein Fisch mit offenem Mund musterte, fuhr er fort: „Sieben Tore ermöglichen den Übergang. Das ist auch der Grund, warum wir hier sind: Es ist unglaublich schwer, die Dimensionstore zu finden, denn sie sind gut getarnt und können selbst an Orten erscheinen, die niemals ein Mensch erreichen wird. Es ist unseren Leuten jedoch gelungen, ein Tor ausfindig zu machen, durch das der Auserwählte gehen wird, und sein Gegenstück wird hier ganz in der Nähe erscheinen. Wenn alles nach Plan verläuft, wird der Auserwählte also schon in wenigen Wochen bei uns sein.“
„Wochen? Wieso? Was?“
„Weil der Übergang sehr beschwerlich ist und selbst die größten Krieger Schwierigkeiten damit bekommen. Er muss erst einiges lernen, um der Aufgabe gewachsen zu sein. Solange müssen wir uns in dieser Gegend versteckt halten und hoffen, dass wir unentdeckt bleiben.“
„Heißt das, es gibt noch mehr von diesen Kreaturen?“, fragte Jamie und erhob sich, doch Gwin beschwichtigte ihn mit den Händen.
„Ich bin mir sicher. Der Fürst hat die Zeichen zu deuten gewusst und offenbar ebenfalls ein Tor geöffnet, durch das er nun seine Schergen sendet, um dich zu finden. Es zeugt schon von außergewöhnlichen Fähigkeiten, dass er in der Lage ist, mehr als eine Person durch das Tor zu befördern, aber wie bereits gesagt: Er ist der wohl mächtigste Magier aller Zeiten.“
„Wie viele Drago-Soldaten sind es?“
„Es werden wohl nicht mehr als acht sein, denen er den Durchgang ermöglicht haben kann. Zwei von ihnen haben wir heute erledigt, und ich habe zwei gestern Abend vor deiner Haustür erwischt.“
„Was? Die Viecher waren bei mir zu Hause?“, rief Jamie panisch. Die Gefahr war so drohend nah gewesen, und er hatte gemütlich im Bett gelegen und an Rom gedacht. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken.
„Ja, aber ich habe dafür gesorgt, dass sie das in Zukunft besser lassen sollten, wenn sie nicht mit einem Fluch belegt werden wollen“, erklärte Gwin mit gewissenhaftem Schmunzeln. „Wie auch immer. Sie sind uns auf den Fersen. Wir können also nicht lange bleiben. Ich würde ein erneutes Aufeinandertreffen lieber vermeiden.“ Jamie sah das ähnlich. Am liebsten wäre es ihm, nie wieder einem dieser Wesen zu begegnen, denn auch wenn sie sie beide erledigt hatten und sie alles andere als kluge Kerle waren, waren sie doch Furcht einflößend mächtig gewesen. Er merkte, dass Gwin ihn beobachtete, und vermied es aufzuschauen. Stattdessen streckte er sich ausgiebig und gähnte. Doch Gwin ließ sich nichts vormachen.
„Wie fühlst du dich?“, fragte er fürsorglich und legte die glatte Stirn in tiefe Falten. Jamie überlegte einen Moment. Gute Frage. Wie fühlte er sich?
„Wenn ich das richtig verstanden habe, werde ich in einen Krieg hineingeworfen, von dem ich nicht einmal wusste, dass er existiert, und mich verfolgen Wesen, die von einem übermächtigem Fürsten geschickt wurden, der nichts lieber hätte als mich tot zu sehen. Eigentlich müsste ich mich also absolut schrecklich fühlen, aber irgendwie ist es nicht so. Ich…bin erleichtert. Verstehst du das?“ Gwin lächelte und bewegte den Kopf, als höre er Musik. Zum ersten Mal erwiderte Jamie das Lächeln. Er wusste, dass Gwin ihn verstand, und es fühlte sich gut an. Er wusste endlich, wer er war! Und auch, wenn es nichts Gutes bedeutete, hieß es doch wenigstens, dass es einen Platz gab, an den er gehörte. Es gab andere Menschen mit ähnlichen Fähigkeiten wie er selbst, und sie hatten sogar eine eigene Welt. Diese verstörende Erkenntnis brachte etwas Beruhigendes in sein Leben. Nirada, dachte er, und ein leichter Schauer lief ihm über den Rücken.
„Ich bin müde“, sagte er, „ich habe den ganzen Tag damit verbracht, zu versuchen, über Bäume zu klettern.“ Gwin grinste schelmisch und erhob sich, während Jamie sich auf der Matratze ausrollte.
„Warte“, hielt er ihn auf, und Gwin blickte über seine Schulter, „was wäre eigentlich gewesen, wenn ich dir kein Wort geglaubt hätte? Hättest du mich wirklich gehen lassen?“ Doch Gwin zuckte nur mit den Schultern.
„Ich wusste, dass du mir glauben würdest.“ Er klang so vollkommen überzeugt, dass Jamie nur den Kopf schütteln konnte. Gwin hatte ihn durchschaut, bevor er auch nur ein Wort mit ihm gewechselt hatte.
„Warte“, sagte Jamie erneut, und Gwin drehte sich noch einmal um, „ich habe noch eine Frage.“
„Nur zu!“
Jamie zögerte kurz.
„Nun sind alle anderen Fragen, naja, halbwegs… beantwortet? Also…warum nennt man dich ´den Verbannten´?“, fragte er. Auf Gwins Gesicht breitete sich ein düsterer Schatten aus, der nichts mit dem aufflackernden Feuer zu tun hatte, und Jamie befürchtete, ihn verärgert zu haben.
„Man nennt mich so, weil ich Fehler begangen habe. Viele, schwerwiegende Fehler. Doch ich bin gerade dabei, sie wieder gutzumachen.“
„Fehler?“, fragte Jamie neugierig, doch Gwin antwortete nicht, sondern wirkte auf einmal abweisend.
„Ich bitte dich, dies meine Sorge lassen zu sein“, sagte er nicht unfreundlich, aber sehr bestimmt. Dann löschte er die Flamme des Kamins, lehnte sich im schimmernden Mondlicht in dem Schaukelstuhl zurück und verstummte. Jamie schaute auf die reglose Gestalt Gwins und überlegte fieberhaft. Was wollte Gwin verbergen? Aber dann fielen ihm schnell die Augen zu, und er träumte von Welten, die er weder kannte, noch verstand. Gwin allerdings konnte noch eine ganze Weile keinen Schlaf finden. Jamie hatte die Erinnerung an alte Wunden geweckt.