Читать книгу Der Stern von Nirada - Band 1 - Felix van Kann - Страница 5
ОглавлениеProlog - Órafar Normir - 51 Jahre zuvor
Wie sieht Trauer aus, wenn niemand mehr übrig ist, um sie zu empfinden? Alles, was übrig war, war Staub. Suppendicker Staub. Er hing als eine Pest über den Trümmern der Stadt, verweigerte mit seiner dämonischen Dichte jegliche Sicht, tauchte die Umgebung in ein schändliches, wüstenrotes Licht wie von einem Filter gedämpft. Wären noch Menschen hier gewesen, so hätte sich der Staub wohl bazillenhaft in ihren Kehlen eingenistet, sie ausgedörrt bis nur noch knöchernes Husten erklang. Doch das war nicht möglich. Denn niemand war hier. Órafar Normir war eingetroffen.
In der Geschichte Niradas war Órafar Normir, die nullte Stunde, erst dreimal vorgekommen. Das erste Mal - so lange vergangen, dass noch niemand die Zeit gemessen hatte – war sie in Form dreier mächtiger Urzeitkreaturen aufgetreten. Das zweite Mal war sie so verheerend ausgefallen, dass die Menschheit jegliche Gedanken daran verbannt und diesen Teil ihrer Geschichte schwarz gelassen hatte. Nur obskure, teilweise gar nicht so fantasielose Gerüchte überlebten in den Büchern.
Das dritte Mal war heute.
Órafar Normir gilt als die schlimmste anzunehmende Katastrophe, ein Tag der alles ändert. Eine Begebenheit, die ganze Familien und Generationen auslöschen kann, oder sogar ganze Zivilisationen wie sich heute erwies. Die Hauptstadt war so unvorbereitet von ihrem Untergang getroffen worden, dass sie schlichtweg davon gespült wurde wie eine Flaschenpost auf stürmischer See. Die einstmalige Pracht, errichtet über viele Jahrhunderte mit Muße, törichter Extravaganz und Herzblut, sie war in einem Hauch vom Gesicht der Erde geblasen worden. Was heute noch niemand zu beurteilen vermochte, war, dass die heutige Órafar Normir vielleicht nicht die schwerwiegendste der drei nullten Stunden war, aber die mit den schwerwiegendsten Folgen. Denn jeder Untergang des einen bringt Gelegenheiten für den Aufstieg eines anderen mit sich. Eine Gestalt, von Kopf bis Fuß in einen schwarzen Umhang gehüllt, trat zwischen den Trümmern auf die Reste der einstmaligen Hauptstraße. Erhaben, unberührt von der Zerstörung um sie herum, setzte sie gemächlich einen Fuß vor den anderen. Ihre Gangart hatte etwas Zerstreutes an sich, als wisse sie genau, wo sie stand, konnte es jedoch nicht begreifen. Die Gestalt sah zu, wie ein gebrochenes Windfähnchen im hilflosen Versuch, das Feuer zu löschen, das es erfasst hatte, verrückt vor sich hin rotierte, während die Flammen es langsam zerlegten wie ein vierblättriges Kleeblatt. Der Matsch auf dem Boden stank widerlich und ließ der Gestalt endgültig klar werden, dass die Stadt gebrochen war. Noch vor wenigen Stunden wäre dieses Zeichen der Verwahrlosung in einer Gesellschaft, die Reinheit und Hygiene beinahe bis zur Besessenheit vollstreckte, umgehend beseitigt worden. Jetzt war das nicht mehr der Fall. Ein gebrochenes Wasserrohr versprühte wie im Wahn seine Füllung. Eine goldene Glocke, einst Aushängeschild der vierten Kapelle, lag gespalten und zur Schmucklosigkeit verdammt auf dem aschfahlen Stumpf einer stattlichen, gefallenen Eiche. Dann sah die Gestalt die Leichen. Drei tote Männer in festlichen, zerfetzten Gewändern mit Rußflecken auf ihren glatt rasierten Gesichtern lagen ehrlos unter den Steinen eines Hauses. In den Überresten einer geplatzten Glasscheibe sah die Gestalt ein junges Mädchen, das schon fast nicht mehr als solches bezeichnet werden konnte. Die Stadt würde sich nie wieder von diesem Unglück erholen. Doch die Gestalt hatte keine Gefühle. All das Elend war ihr vollkommen gleichgültig. Und während unweit von ihr die Reste eines majestätisch angelegten Brunnens in sich zusammenfielen, lächelte sie. Denn die Essenz von Órafar Normir ist und bleibt, dass jeder Untergang des einen Gelegenheiten für den Aufstieg eines anderen mit sich bringt. Und die Gestalt würde diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen. Ihr Zeitalter sollte anbrechen.