Читать книгу Der Stern von Nirada - Band 1 - Felix van Kann - Страница 8

Kapitel 2 - Schatten über London

Оглавление

Der junge, dunkelhaarige Mann mit dem rabiaten Blick lungerte an einer Straßenecke. Er folgte den drei Touristen, die durch die Innenstadt Roms spazierten, nun schon eine ganze Weile. Geduldig wartete er darauf, dass die drei - eine Frau, ein Mann und ein etwa fünfzehnjähriger Junge - von der Straße in eine der vielen verwinkelten Nebenstraßen abbogen, von denen es so viele in diesem Teil der Stadt gab.

Er war auf die kleine Familie aufmerksam geworden, als der Vater auf einem kleinen Markt seine Brieftasche gezückt und dabei versehentlich mehrere große Geldscheine hatte aufblitzen lassen. Die würde er sich unter den Nagel reißen. Er würde sich einfach den Jungen greifen, ihn ein wenig mit seinem Messer bedrohen, und schon würde sein Vater kuschen. Es war ein routinierter Ablauf für ihn. Und während er im Schatten der glühenden Stadt lauerte, offenbarte sich auch schon die Gelegenheit. Die Frau zog den Mann in eine Seitenstraße.

„Dort muss es sein, Robert“, sagte seine Mutter, Lisa Mayer, aufgeregt. Jamie rollte mit den Augen. Sein Vater hatte deutsche Vorfahren, daher der Nachname, obwohl sie aus England stammten. Jamie störte das nicht. Es gab schlimmere Namen als Jamie Mayer. Vielmehr hingegen störte ihn Rom, oder jedenfalls die Erkundungstouren, die seine Eltern ihm aufzwangen und die ihn wie auf einer Odyssee durch die Innenstadt trieben. Er starrte seine Mutter an, wie sie seinem Vater hitzig den Aufbau einer Therme erklärte, wo dieser doch mehr über Thermen wusste, als über sein eigenes Bad zu Hause. Zunächst noch hatte ihn die Aufgeregtheit seiner Eltern noch belustigt, nun jedoch fand er sie gar nicht mehr sonderlich amüsant. Seine Mutter, eine kleine, zierliche und hübsche Frau, lehrte Geschichte an einer renommierten Londoner Universität und hatte schon immer von einem Familienurlaub nach Rom geträumt. Auch sein Vater war dieser Idee inbrünstig verfallen. Äußerlich war er das genaue Gegenteil seiner Frau: blond, bullig groß und mit einem kurzen Kinnbart, den er trug, weil Jamie ihn davon hatte überzeugen können, dass alle Archäologen, die sich mit antiken römischen Artefakten befassten, ohne einen solchen Bart nicht ernst genommen werden könnten. Allerdings hatte dies zum genauen Gegenteil des Beabsichtigten geführt: Jamie fand, dass er damit aussah wie ein untalentierter Zauberer, der auf Kindergeburtstagen schlecht geformte Luftballontiere an buhende Kinder aushändigt. Trotzdem redete er seinem Vater weiterhin gut zu, wenn dieser auch nur den leisesten Anflug von Zweifel zeigte.

Jamie war fünfzehn Jahre alt, weder klein noch groß, und hatte relativ kurzes, wuscheliges dunkelblondes Haar, das sich partout nicht zähmen ließ. Aus seinem für sein Alter übermäßig kantigen Gesicht ragte eine spitze Nase mit einigen Sommersprossen hervor, die sich jedoch nur in den Sommermonaten zeigten, und zwei intensiv leuchtende grüne Augen schwenkten lässig hin- und her. Seine Ohren standen ein wenig ab, aber diesen kleinen Makel konnte er verkraften. Man schätzte ihn oft als etwas älter ein, obwohl er selbst nicht so empfand. Er war einfach ein ganz normaler Junge.

„Weißt du überhaupt, was das für Gebäude sind?“, fragte seine Mutter und sah Jamie mit hochgezogenen Brauen an. Er war nie gut in Geschichte gewesen, aber das nur, weil Schularbeit ihn generell nicht interessierte.

„Heh?“, fragte er und zog mit fragendem Blick seine Ohrenstöpsel aus den Ohren, obwohl gar keine Musik lief.

„Diese Gebäude. Wie nennt man sie?“, fragte seine Mutter in ihrem spitzfindigen Lehrertonfall und deutete auf ein Haus hinter sich.

„Ne Therme? Ist doch sch..." Plötzlich machte es einen Ruck und Jamie spürte, wie sich ein fester Griff um seinen Oberkörper schloss. Er wusste sofort, was vor sich ging. Seine Mutter schrie auf.

„Halt´s Maul“, rief ein Mann mit starkem südländischem Akzent, nah an Jamies Ohr, „sonst schneide ich deinem Jungen die Ohren ab!“ Jamie spürte etwas bedrohlich Kaltes, Scharfes an seinem Hals entlangfahren, ohne Zweifel war es die stumpfe Seite eines Messer. Es lief ihm heiß über den Rücken. Alles war so schnell gegangen, dass er nicht hatte reagieren können.

„Geld her“, zischte der Mann roh, „und Schmuck und I-pod. Los, sonst brauchst du das Ding sowieso nicht mehr.“ Eine seltsame Art Zorn stieg in Jamie auf, verflog aber sofort wieder und verwandelte sich in quälende Machtlosigkeit.

„Hast du nicht gehört, man? Beweg dich!“ Jamie sah in das Gesicht seines überrumpelten Vaters, der vor Angst gelähmt schien. Dieser Anblick löste es aus.

Er spürte etwas in sich aufwallen, fremd und doch seltsam vertraut. Die scharfe Kante des Messers begann zu vibrieren. Dann löste sich der Druck auf seiner Haut ganz auf und eine pappige Flüssigkeit lief an seinem Hals hinab. Einen schrecklichen Moment lang dachte er, es sei Blut, doch es war dickflüssiger, fast wie eine noch nicht getrocknete Betonmischung.

„Che diav…?“, stöhnte der Mann entsetzt auf und sah irritiert auf das Messer hinab, beziehungsweise auf das, was davon noch übrig war. Die Metallklinge war nun nicht mehr als solche zu erkennen. Sie schmolz so schnell wie Eis im Ofen, und die Überreste liefen kriechend an dem Jungen hinunter. Fassungslosigkeit ergriff ihn. „Che…?!“ Für den Bruchteil einer Sekunde lockerte er den Griff um Jamie, was dieser sofort nutzte. Er rammte dem Mann mit einem beherzten Schlag den Ellbogen in den Magen und wand sich geschickt aus der Umklammerung. Sirenen heulten in der Ferne auf, und der vollkommen überforderte Mann richtete sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf.

„Verschwinde lieber“, zischte Jamie ihn an und klang dabei weitaus gefährlicher, als er sich fühlte. Doch die Aufforderung war überflüssig, denn der Mann drehte bereits ab und verschwand so schnell er konnte. Zurück blieb nur eine Pfütze der dicken Metallpampe, die sich mit dem Alltagsstaub Roms vermischte. Langsam schob sie sich auf den Gully zu.

„Was…war das denn?“, stammelte sein Vater, sichtlich konfus.

„Ich habe keine Ahnung“, erwiderte seine Mutter nicht minder mitgenommen, „es muss wohl ein Plastikmesser oder so etwas gewesen sein. Sonst kann ich mir wirklich nicht erklären, wie…“ Sie kam auf Jamie zu und schloss ihn fest in die Arme. "Aber es ist ein Geschenk des Himmels!" Jamie sagte nichts, wischte den restlichen Schmodder von seinem Hals und schaute nach wie vor gedankenverloren zu der geschwürartigen Paste am Boden hinab. Sein Magen schnürte sich weiter zu. Aber nicht wegen des Überfalls. Das Messer war nicht aus Plastik gewesen, sondern aus purem Metall, und auch die Polizeisirenen waren nicht echt gewesen. Dies war kein Geschenk des Himmels, sondern etwas viel Unerklärlicheres. Er, Jamie, hatte das Messer zum Schmelzen gebracht und die Polizeisirenen ertönen lassen. Diese Fähigkeiten waren nicht zum ersten Mal aufgetreten, und sie waren der Grund, warum er sich nie wie ein normaler Junge hatte fühlen können. Beunruhigt wandte er den Blick ab und erwiderte den Druck seiner ihn im Arm haltenden Mutter. Wenn er ehrlich war, wusste er in diesem Moment nicht, wovor er mehr Angst hatte: vor diesem Mann oder sich selbst.

Jamie lag auf seinem Bett in London und beobachtete gelangweilt die Schatten, die von den Scheinwerfern eines startenden Autos an die Decke projiziert wurden. Das monotone, doch kurios rhythmische Prasseln an seinem Fenster verriet ihm, dass es stark regnen musste.

In weniger als zwei Stunden würde die Schule wieder beginnen. Seltsamerweise freute er sich mehr denn je auf den Schulbeginn, denn er hoffte, dass er ihn vom ständigen Grübeln ablenken konnte, das die ewig gleichen Bilder wie in einem voraussehbaren Film wieder und wieder durch seinen Kopf jagen ließ. Der Geruch des Mannes, die Furcht in den Augen seines Vaters, die warme Flüssigkeit.

Gähnend setzte sich Jamie auf. Durch die Schlitze seiner Jalousien fielen die Lichter einer zu stark eingestellten Straßenlaterne in den Raum, und Jamie betrachtete sie so eingehend, bis es ihm die Sinne raubte.

Das Ganze war nun schon eine Woche her. Seitdem fragte er sich in jeder Sekunde, was er da getan hatte und woher es kam. Doch er fand keine Antworten. Es gab keine Erklärung. Aber er hatte es sich nicht nur eingebildet.

Er schwang die Beine vom Bett und erhob sich. Taumelnd watschelte er über den kalten Flur des Einfamilienhauses in der Baker Street nahe der Themse am Schlafzimmer seiner Eltern vorbei, aus dem lautes Schnarchen drang - seine Eltern mussten heute erst nach ihm aufstehen. Er trat vor den Spiegel im Bad und musterte sich mit zusammengekniffenen Augen. Seine kurzen Haare waren wie immer unverständlicherweise vollkommen ungeordnet, und seine hoch stehende linke Wange war zerknittert und von einem roten Druckfleck gezeichnet; Attribute, an denen sein viel zu hartes Kissen Schuld war. Sein Blick blieb, wie beinahe jeden Morgen, an der roten Narbe hängen, die knapp unter seiner schmächtigen rechten Brust saß. Die Narbe war nicht sonderlich groß, aber ihre Form war äußerst eigentümlich: Sie war gezackt wie eine Welle, die von einer weiteren waagerechten Linie unterlaufen wurde. Jamie hatte keine Ahnung, woher sie stammte. Weder er, noch seine Eltern konnten sich daran erinnern, wann und wie er sie sich zugezogen hatte. Jamie fand das schon etwas seltsam, doch sie schmerzte nie, und von daher fand er sich einfach damit ab.

Wieder blickte Jamie seinem Doppelgänger im Spiegel ins Gesicht. Das, was ihn wohl am meisten an sich störte war nichts Äußerliches, sondern etwas, das ihm schon eine Weile aufgefallen war. So lange er sich auch ansah: Er konnte sich selbst nicht verstehen. Sicher, er verbrachte nicht allzu viel Zeit damit, über sich selbst nachzudenken, aber oftmals konnte er im Nachhinein seine getroffene Entscheidungen nicht nachvollziehen, nicht einmal richtig verarbeiten. Er hatte leichte Stimmungsschwankung, manchmal wurde er ohne Grund unglaublich wütend. Aber im Grunde kümmerte ihn das kaum, er war mit sich zufrieden, beneidete niemanden und wünschte sich nicht, wie viele anderen in seinem Alter, jemand anderes zu sein. Er war halt er. Und so wie er sein Leben bisher gelebt hatte, würden die Antwort irgendwann schon von alleine kommen.

Schnell zog Jamie sich an, aß in Windeseile einen Toast und verließ das Haus.

Der Regen versiegte, als er zur Tür hinauskam, doch sein feuchter Duft lag noch in der Luft. Es hätte nun eigentlich bereits recht sonnig sein müssen, denn es war schönes Wetter vorausgesagt, doch eine Nebelschicht schien tief über der Stadt zu hängen und sorgte für eine lethargische Atmosphäre. Genervt schnalzte er mit der Zunge, trat an den Fahrradschuppen, wo er sein altes, verwittertes Mountainbike hervorholte und sich dann auf den Weg zur Schule machte.

Der Wind pflügte Jamie kühl ins Gesicht, als er aus der hübschen, doch äußerst einheitlichen Wohnsiedlung auf die Hauptstraße abbog und über eine der kleineren Londoner Brücken die Themse überquerte, die trotz Windstille rätselhaft unruhig wirkte.

Wenig später erreichte er den Schulhof und schloss sein Rad an einer rostigen Kette an. Es war bereits einige Minuten nach 9, deshalb lag der Schulhof schon ausgestorben da. Jamie spurtete quer über den Hof auf das Hauptgebäude zu, doch plötzlich hielt er inne, als etwas Fremdartiges wie ein elektrischer Schlag durch seine Glieder fuhr. Er wartete und lauschte. Nichts. Was war dieses Gefühl gewesen? Er beschloss, dass nun nicht der richtige Zeitpunkt war, um sich lange aufhalten zu lassen, deshalb schüttelte er den Kopf und hastete ins wärmende Innere. Verlassene Stille kehrte auf dem Hof ein.

Dann lösten sich die zwei schwarzen Gestalten aus den dunstigen Schatten. Aus ihren dunklen Kapuzen starrten sie hinüber zu der nun klackend ins Schloss fallenden Tür, durch die Jamie soeben verschwunden war. Es waren Drago-Soldaten, und sie waren gekommen, um den Auserwählten zu töten. Die Schatten über London begannen sich zuzuziehen.

„Du bist zu spät“, schnaubte Mr. Ryan, als Jamie den Klassenraum betrat, „viel zu spät!“

Jamie seufzte. Ging das schon wieder los.

„Sorry“, sagte er gelangweilt, „aber Sie sind ja auch gerade eben erst gekommen.“ Mr. Ryan stand immer noch mit Hut und einer Jacke vor der Klasse, die seine gewaltigen Fettberge unschön zur Geltung brachte. Jamie war kurz davor „Schicker Schnitt“ zu sagen, doch er verkniff es sich.

„Und ich dachte schon, die Ferien hätten vielleicht etwas geändert“, sagte Mr. Ryan theatralisch, und ein öliges Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. „Aber wie denn, Jamie, wie denn auch?“ Sie haben dir auch nicht beim Abnehmen geholfen, dachte Jamie wütend. Es war nicht seine Art, grundlos frech zu sein, aber Mr. Ryan verdiente es, und dann sah er auch keinen Grund, sich den Mund verbieten zu lassen. Der Lehrer ließ keine Gelegenheit aus, Jamie zur Weißglut zu treiben, und er wusste auch wieso: Ryan mochte ihn nicht, weil er Angst vor Jamie hatte.

Bereits in der allerersten Unterrichtsstunde hatte Ryan einen Mitschüler von Jamie so sehr zusammen gestaucht, dass dieser in Tränen ausgebrochen war. Als Jamie Ryan daraufhin erklärte, warum sein Verhalten lächerlich sei, hatte er der ganzen Klasse einen schwierigen Aufsatz aufgebrummt. In diesem Moment waren sämtliche Reagenzgläser, die Ryan für die Physikstunde mitgebracht hatte, explodiert.

Nur unwesentlich später, beim Nachsitzen, war Ryans Schreibtisch plötzlich in Flammen aufgegangen, nachdem der Lehrer Jamie mit Bemerkungen und Andeutungen immer wieder gereizt hatte.

Seitdem stichelte Ryan wann immer es ging gegen Jamie, doch er wagte es nicht mehr, sich zu weit aus dem Fenster zu lehnen. Jamie war das auch ganz Recht so, schließlich hatte er keine Ahnung, wie er diese Fähigkeiten auslösen konnte. Er wurde von solchen „Momenten“, wie er sie nannte, überflutet und konnte sie weder beeinflussen, noch kontrollieren, doch er ließ Ryan gerne glauben, dass er es tat. Es war eigentlich ohnehin nicht seine Absicht, seine Fähigkeiten zu verwenden, da er sich ja selbst vor ihnen fürchtete. Aber das hieß nicht, dass er sich Ungerechtigkeiten gefallen ließ. Das verbot ihm sein Stolz.

Ryans schweineähnliche Augen waren nun böse auf Jamie gerichtet, der ihn übertrieben freundlich angrinste. Was für eine Witzfigur, dachte er sich, als er sah, wie Ryan drohend den Finger hob, um die Klasse, die ohne Ausnahme zu lachen begonnen hatte, zu beruhigen.

„Wenn das noch einmal vorkommt“, sagte Ryan mit erhobener Stimme und klang beinah wie ein Frosch mit Mandelentzündung, „schicke ich dich zum Direktor! Du denkst immer noch, du seiest der Obercoole“ Jamie antwortete nicht, obwohl er vor Allem Mr. Ryans schändlichen Missbrauch am Jugendjargon korrigieren wollte, doch es war zu früh dazu. Er leugnete nicht, dass er ein gesundes Selbstbewusstsein hatte, aber anders als seine unerklärliche Unausgeglichenheit, empfand er dies nicht als fehlerhaft. Jamie war mit sich zufrieden, beneidete niemanden, und wünschte sich nicht wie viele andere Jugendlichen seines Alters jemand anderes zu sein.

Er ließ sich auf seinen Platz fallen und hörte stumm zu, wie Ryan den Unterricht begann. Das Fenster war beschlagen, und sein Blick fiel zum ersten Mal auf die Uhr, deren lange schwarze Zeiger wie Hämmer schlugen…langsame Hämmer. Und dann war da plötzlich wieder dieses Gefühl von vorhin…

Eine Welle des Unwohlseins breitete sich in seinem ganzen Körper aus und verursachte ein Kribbeln auf seiner Haut, als würden kleine Spinnen darüber laufen. Es war ein fremdes Gefühl, nichts, was er kannte, und doch war es ihm so seltsam vertraut wie Freude oder Trauer.

Er setzte sich auf und starrte ins Leere. Ein schrecklicher Gedanken kam ihm. Dieses Gefühl war nichts Greifbares, nichts Menschliches…genauso wie seine Fähigkeiten. Er fühlte, wie das Unbehagen in ihm weiter wuchs. Dann, ohne es zu wollen oder es verhindern zu können, wurden seine Gedanken weg gerissen, und er tauchte ein in eine matte Traumwelt. Eine Welt, in der er von oben in den Korridor seiner eigenen Schule spähte, und in der er die Aura wie ein Magnet anzuziehen schien. Da waren sie. Sie glitten über den Flur, als hätten sie keine Füße, riesengroß und in schwarze Umhänge gehüllt, auf denen ein rotes Wappen eingraviert war. Sie schwebten zielstrebig weiter den Korridor entlang und Jamie wusste, dass er ihr Ziel war.

„JAMIE!“, schrie Mr. Ryan, und Jamie wurde so abrupt in die Wirklichkeit zurück gerissen, als ziehe jemand seinen Kopf aus eiskaltem Wasser.

„Was fällt dir ein, du kleiner…das war…hey, setz dich wieder hin!“ schimpfte Ryan weiter, denn Jamie war aufgesprungen. Die ganze Klasse starrte ihn nun an, aber es war ihm egal. Fieberhaft überlegte er, was er tun konnte. Die Wesen würden gleich hier sein. Er fragte sich gar nicht erst, ob es vielleicht ein Traum gewesen war, pure Fantasie. Er wusste, dass es gleich schon zu spät sein würde.

Sein bleiches Gesicht suchte nach einem Weg hinaus. Das Fenster? Sie waren im dritten Stock. Die Tür? Da konnte er sie auch gleich mit einem Händedruck empfangen. Sein Blick blieb an der Signallampe hängen, die immer die Pause ankündigte. Das war es! Wenn er den Feueralarm auslösen konnte, würde die Schule evakuiert werden. Aber wie? Im Raum gab es keinen Feuermelder, sondern nur auf den Fluren. Dafür war keine Zeit. Ihm wurde klar, dass er seine Fähigkeiten würde brauchen müssen.

„Läute!“, schrie er in seinem Kopf. Nichts passierte. „Läute!“, probierte er es erneut, dieses Mal noch energischer, doch die Glocke regte sich nicht, und wütend wurde ihm bewusst, dass er nur noch wenige Sekunden hatte. Und dann wären sie alle in Gefahr. Es überflutete ihn ganz plötzlich.

„Echerirm (Klang)!", rief er heiser, und er wusste, dass es dieses Mal klappen würde, als das wohlige Gefühl sich in seinem Körper ausbreitete. Mr. Ryan packte ihn an den Schultern und öffnete den Mund, um ihm, wie so oft, unter einem Speichelregen niederzuschreien, als, und für Jamie war es der schönste Klang der Welt, der Feueralarm ertönte.

Die Schüler drangen über den engen Flur auf das Hauptportal zu. Hier und da waren laute Stimmen zu hören, und hysterische Diskussionen flammten unter den Schülern auf. Jamie selbst ließ sich ein wenig zurückfallen, um sich zu konzentrieren, denn im Gegensatz zu den anderen wusste er ja, dass es keinen Brand gab. Für ihn stand jedoch außer Frage, dass er seine Mitschüler vor einer viel größeren Gefahr rettete. Er achtete auf das Gefühl, dass ihm vorhin die Ankunft der Wesen verraten hatte, doch es war verschwunden. Es schien, als habe er sie vertrieben. Vorerst zumindest, denn er gab sich keine Sekunde lang der Illusion hin, dass dies ihr letzter Besuch bleiben würde. Was waren das für Gestalten? Und was wollten sie von ihm?

Die Menge schwemmte ihn auf den Schulhof, wo mittlerweile die meisten Kinder zusammen gekommen waren und sich in kleinen Grüppchen unterhielten. Jamie sah Mr. Ryan mit seiner Klasse in der Nähe, damit wusste er schon mal, wo er nicht hingehen würde. Wie sollte er sich verhalten? Neben sich hörte er einige Fünftklässler, die sich lautstark mit quengeligen Stimmen unterhielten.

„Wo brennt es denn?“

„Was passiert denn jetzt?“

„Ich wette, die Schule wird geschlossen!“

„Nein, es gibt kein Feuer.“ Diese Worte ließen Jamie herumfahren. Ein schmächtiger, weißblonder Fünftklässler sprach. „Es waren diese Monster!“

„Was…“, sein Magen zog sich zusammen, als er auf den Jungen zutrat, „was hast du gerade gesagt?“ Der Junge sah ihn mit großen, unterlaufenen Augen an und schien doch an ihm vorbei zu blicken. „Was hast du da gerade gesagt, Kleiner“, insistierte Jamie, nun eindringlicher.

„Zwei Monster. Auf dem Flur. Ich habe sie gesehen.“ Die Stimme des Jungen klang unheimlich und verschwörerisch.

„Du hast sie…Wie heißt du?“, fragte Jamie aufgeregt. Konnte es sein, dass der Junge dieselben Fähigkeiten hatte, wie er selbst?

„Tyler“, sagte der Junge, „Tyler Leads.“

„Gut, Tyler, hör zu…“ Doch er wurde von einer hübschen jungen Lehrerin unterbrochen, die an ihn herantrat.

„Machst du wieder meinen Kleinen Angst, Jamie?“, sagte sie und schenkte ihm ein breites Lächeln, das er flüchtig erwiderte.

„Keine Sorge, Mrs. Lindner. Dazu habe ich wiederum zu viel Angst vor Ihnen.“

„Das solltest du auch“, sagte sie gut gelaunt. Sie war Jamies Kunstlehrerin, und auch wenn er unfassbar unfähig in ihrem Unterricht war, mochte sie ihn sehr gerne. „Geh jetzt lieber zu deiner Klasse, Jamie. Mr. Ryan macht sich bestimmt schon Sorgen“, sagte sie.

„Das würde er nicht mal, wenn ich schreiend in den Flammen stehen würde“, entgegnete Jamie, hob die Hand, als er ihre wunderbar ironisch tadelnde Miene sah, und drehte sich ab. Er blickte zu Tyler, der seinen Blick ohne Regung erwiderte. Was für ein seltsames Kind, dachte er, als er über den Schulhof schlenderte. Irgendetwas stimmte nicht mit dem Jungen, irgendetwas stimmt nicht mit dem ganzen Tag, doch er würde herausfinden, was es war. Er beschloss, den Jungen nach der Schule aufzusuchen.

Natasha Floring war dem Regen nicht entkommen. Missgelaunt und mit einer Hand fest auf den rebellischen Regenhut gepresst, schloss die Putzhilfe der Mayers die Haustür zur Baker Street 74 auf. Sie seufzte, als sie beim Mantel Ablegen daran dachte, gleich wieder die „Höhle“ betreten zu müssen, wie sie Jamies Zimmer getauft hatte. Der Junge schockierte und beeindruckte sie jede Woche aufs Neue mit der Kreativität, mit der er Chaos schuf.

Ein Geräusch verriet ihr, dass etwas nicht stimmte. Erschrocken fuhr sie hoch und blickte auf die sperrangelweit geöffnete Tür, die ins Wohnzimmer führte.

„Mrs. Mayer?“, rief sie fragend, „Jamie?“ Doch es war nicht Jamie. Ein Schatten löste sich aus der Schwärze und glitt drohend auf sie zu. Natasha Floring schrie spitz auf, machte kehrt und versuchte, durch die immer noch offen stehende Haustür zu entkommen. Wie von Geisterhand fiel sie vor ihr ins Schloss, während sich der Schatten wie ein sich in ihrer Furcht suhlendes Raubtier auf sie zuschob.

Die Feuerwehr traf an der Schule ein und suchte nach dem Brand, doch sie fanden nicht den Hauch einer Spur, die auf ein Feuer hindeutete, geschweige denn den Feuermelder, von dem aus der Alarm betätigt worden war. Schließlich wurde die Aktion als Fehlmeldung eingestuft, und die Schüler konnten in ihre Klassen zurückkehren. Jamie hatte sich längst unauffällig aus dem Staub gemacht.

Er raste auf seinem Rad nach Hause. Ihm war bewusst, dass die beiden Wesen zurückkehren würden, und natürlich würden sie zunächst wieder in der Schule auftauchen. Sein Rad schlitterte über den nassen Boden, und er überfuhr eine rote Ampel ohne zu bremsen. Wütendes Hupen pöbelte ihn an, doch die Geräusche waren so weit entfernt, als höre er sie durch eine Glaswand. Er würde schnell ein paar Sachen zusammenpacken und dann verschwinden, wohin wusste er noch nicht, nur, dass er niemanden in Gefahr bringen durfte und dass er nicht mehr viel Zeit hatte.

Vor dem Haus bremste er scharf, warf das Rad in die Einfahrt und hastete eilig zur Tür. Als er eintrat, traf ihn fast der Schlag. Der Flur lag im Dunkeln und trotzdem sah er eine dunkle Farbspur auf dem Boden, die sich bis zur Tür ins Wohnzimmer zog. Er brauchte kein Licht, um zu erkennen, dass es Blut war. Eine grauenvolle Angst packte ihn und ließ seinen Mund trocken werden. Er wollte fort, er musste sogar, und soweit rennen wie es ging, denn sein zu Hause war nicht mehr sicher. Doch wie in Trance wandelte er ins Wohnzimmer, er musste sehen, wer es war…

Mrs. Florings Leiche lag auf dem neuen Teppich, den seine Mutter erst vor einigen Wochen hatte verlegen lassen. Ihre Augen waren blutunterlaufen und stierten ins Leere, das schwarze Kleid war blutbesudelt, und ein breites Loch klaffte in ihrer Brust. Jamie sah sie in einem Moment unendlicher Stille an. Dann übergab er sich auf den Teppich. Die Realität war viel härter, viel abstoßender als alles, was er sich je hätte vorstellen können. Er begann zu schluchzen. Was sollte das Ganze? Warum?

Aus dem Nichts schwebte plötzlich eine der seltsamen Kreaturen, die er in der Schule gesehen hatte, in den Raum. Irgendwie hatte Jamie zwar damit gerechnet, doch trotzdem war er nicht vorbereitet. Wie er so vor ihr stand und sie die Lanze in ihren langen trockenen Fingern drehte, sah sie noch viel Furcht einflößender aus als in seiner Vision.

In diesem Moment entsann er sich seiner Beine und floh. Er rannte so schnell wie noch nie, das Blut schoss ihm in den Kopf und vernebelte alles. Nur weg hier. Von der Leiche…von dieser Gestalt.

Er stürmte aus dem Haus auf sein Rad zu, riss es hoch und trat in die Pedale auf das Gartentor zu, aber er musste scharf abbremsen, als es schwungvoll zufiel. Er sah, wie die Gestalt in der Tür erschien, und wusste, dass sie es magisch versperrt haben musste. Drohend kam sie näher.

Nein, dachte er panisch, aber entschlossen, das kann es nicht gewesen sein! Mit einem Ruck wurde das Tor aus seinen Angeln gesprengt und schlitterte mit einem grauenvollen Kratzen über die Straße. Offenbar war es ihm gelungen, seine Kraft freizusetzen, und das keine Sekunde zu früh, denn das Wesen steuerte bereits mit erhobener Lanze auf ihn zu. Jamie trat mit aller Kraft in die Pedale und preschte mit pfeifenden Ohren davon. Nach wenigen Sekunden wandte er sich um und bereute es sofort, denn die Gestalt glitt hinter ihm her, und der Abstand verkleinerte sich rapide.

„Scheiße, was ist das denn?“, rief er ungläubig und trat noch schneller in die Pedale, obwohl seine Beine bereits brannten. Er musste an einen Ort, an dem viele Leute waren, so wie vorhin. Wo das Monster nicht würde agieren können.

Doch die Straßen waren wie ausgestorben. Nur der Nebel verdichtete sich weiter und waberte wie ein ungebetener Besucher durch die Straßen. Ihm fiel der Marktplatz ein, der einige hundert Meter entfernt lag, denn dort tummelten sich immer viele Menschen. Zwischen denen er würde untertauchen können. Mit diesem Gedanken im Kopf zog er das Tempo weiter an und versuchte, durch riskante Wendemanöver das Wesen ein wenig abzuschütteln, doch vergeblich. Das Monster klebte an ihm.

Endlich tauchten zwischen den Nebelmassen die ersten Stände des Marktplatzes auf, und einen Moment lang war er sich sicher, dass er es schaffen würde. Aber er irrte sich.

Auf dem ganzen Marktplatz war kein einziger Mensch. Alles war wie immer, nur vollkommen ausgestorben. Was ging hier vor?

Jamie blieb in der Mitte des Platzes stehen und wirbelte mit quietschenden Reifen herum, sodass er dem Wesen genau gegenüber stand. Ihm wurde klar, dass es niemanden gab, der ihm helfen konnte. Vermutlich war das Wesen dafür verantwortlich, und für einen Moment fühlte er sich vollkommen verlassen.

„Okay“, rief er keuchend, „Chill mal kurz. Frieden?“ Das Wesen reagierte nicht, und Jamie hatte es auch nicht erwartet. Er atmete schwer, und seine Haare klebten an seiner Stirn, während er fieberhaft überlegte, was er tun konnte. Das Wesen nahm ihm das Denken ab, denn es griff umgehend an. Seine Augen schossen umher, in der Hoffnung irgendwelche Hilfe auszumachen, und er fand sie! In einem schmalen Durchgang zwischen zwei Gemüseständen überlappten die Holzdächer, sodass sie einander fast berührten. Vielleicht war das seine Chance! Er jagte auf den Durchgang zu und das Wesen schoss hinter ihm her.

„Dichotoirm dyo tair!“ (Zerteile dich in zwei) Er hatte gemerkt, wie die Kraft in ihn zurückgekehrt war, und es ausgenutzt. Die Holzstützen der beiden Stände wurden durch einen perfekt glatten Schnitt geteilt, und die Hütten begannen zu kollabieren. Mit einem grässlichen Knarzen krachten die schweren Holzbalken der Dächer hinab, kollidierten mit dem Wesen und begruben es unter sich. Jamie jubelte erstickt auf, dann begann er schrecklich zu husten. Als würde ein Gewicht ihn in die Tiefe ziehen, überkam ihn die Erschöpfung, die Aktion war offenbar sehr kraftaufwändig gewesen, und auch das wohlige Gefühl versiegte wie eine ausgedörrte Quelle.

Gequält zwang er sich, weiterzufahren, soweit fort von hier, wie es nur irgendwie ging. Schnell bog er in eine Seitenstraße ab, dann direkt wieder nach rechts und noch einmal rechts. Er verbot sich, stehen zu bleiben, denn auch wenn er jetzt viel Platz zwischen sich und das Monster brachte, konnte es ihn immer noch finden. Gehetzt blickte er sich um, doch es war nichts zu sehen außer dem dichten Nebel. Vor ihm jedoch tauchte jetzt eine Brücke auf, er musste wohl wieder an der Themse sein, und da kannte er sich aus. Er grinste zum ersten Mal.

Aber er hatte sich zu früh gefreut, denn in diesem Moment vernahm er ein Rascheln über sich. Langsam sah er hoch - und raste schreiend weiter. Etwas Dunkles rauschte auf ihn hinunter und knallte fest hinter ihm auf die Straße. Es war eine Regenrinne, und Jamie war klar, dass das kein Zufall war. Wie ein Schatten schwebte die dunkle Gestalt vom Dach des nächsten Hauses hinab und kam unmittelbar hinter ihm auf dem Boden auf. Er merkte, dass ihn die Kreatur jetzt holen wollte. Jetzt.

Seine Lungen pochten wie sein Herz, als er weiterfuhr. Er keuchte von der Anstrengung, die ihn seine Aktion auf dem Marktplatz gekostet hatte, und er wurde einfach nicht schnell genug. Das Fahrrad flog über den Asphalt auf die Brücke zu, doch er sah im Augenwinkel, dass es nicht reichte. Die Gestalt holte auf, und Stimmen in seinem Kopf wurden laut, die ihm sagten, endlich aufzugeben. Er konnte nichts mehr mobilisieren.

Er drehte den Kopf ein weiteres Mal um den Abstand zu überprüfen…dann verlor er die Orientierung. Seine Arme hatten bei seinem Blick zurück die Kontrolle über den Lenker verloren, und er ratterte unaufhaltsam auf die Kante des Bürgersteigs zu. Er bremste scharf, doch es war zu spät - der Vorderreifen traf hart auf den hohen Bürgersteig, und das Fahrrad warf ihn vorne über den Lenker wie ein bockiges Pferd. Er verlor das Gleichgewicht, und sein Herz fiel so tief wie er selbst, als er über die Brüstung geschleudert wurde und in die Themse stürzte.

Eisige Kälte umfing ihn, als er in die trüben Wassermassen einschlug. Ein höllischer Schmerz durchfuhr seinen Rücken. Aufgeklatscht aus gut fünfzehn Metern Höhe - er hatte Glück, dass er noch lebte. Japsend stieß er nach oben an die Luft, die Kälte bohrte sich wie tausend kleine Nadeln in seinen Körper. Das nächste Ufer war noch weit entfernt, und er begann zu schwimmen. Er blickte hoch zur Brücke, die wie ein Berg vor ihm lag, und auf der eine einzelne Gestalt stand. Jamie sah sofort, was sie vorhatte: Sie setzte zum Sprung an.

Verzweifelt planschte er weiter und merkte, wie sich seine Klamotten wie ein Schwamm mit Wasser voll sogen und ihn in die Tiefe zu ziehen begannen. Das war dann wohl das Aus. Sicher konnte die Gestalt auch deutlich schneller schwimmen als er, und wenn nicht, dann würde er vor Kraftlosigkeit ertrinken. Er schluckte Wasser, als seine schweren Arme nicht mehr schnell genug paddelten, und eigentlich wartete er nur darauf, dass das Monster sich von hinten auf ihn stürzte. Er wollte sich nicht umdrehen, wollte es nicht sehen, doch er konnte nicht anders...und er erstarrte.

Das Wesen hatte sich keinen Zentimeter bewegt, sondern versuchte mühsam, sich über Wasser zu halten. Und dann, Jamie glaubte seinen Augen nicht zu trauen, begann das Wesen sich in Nichts aufzulösen. Wenige Augenblicke später war es gänzlich verschwunden. Jamie sah so ungläubig drein, als habe er den Papst bei der Verlesung eines satanistischen Rituals erwischt.

„Ne, oder?“ Er streckte kurz die Faust aus dem Wasser. „Da siehst du‘s, du blöde Sau!“, rief er triumphierend. Dann kehrte die Müdigkeit zurück, doch er begann wieder zu schwimmen. Noch war er nicht sicher. Das Ufer war nicht mehr sonderlich weit entfernt, aber trotzdem würde es noch ein ganzes Stück Arbeit sein. Er konnte es nicht glauben. Die Themse hatte gesiegt. Er hatte den Fluss noch nie so sehr geliebt wie jetzt. Über London begann sich zum ersten Mal am heutigen Tage die angekündigte Sonne zu zeigen.

Ein kleines Mädchen spielte mit einem roten Ball am Ufer der Themse. Sie war ein ganzes Stück von ihren Eltern entfernt, während sie fröhlich gegen die Kugel trat. Ungeschickt stieß sie zu fest dagegen, sie rollte in ein Gebüsch nahe dem Ufer, und das Mädchen hopste fröhlich darauf zu. Da schoss der Ball an ihr vorbei und segelte klatschend auf den Fluss.

„Kackball“, fluchte jemand aus dem Gebüsch. Jamie war vollkommen durchnässt und genauso missgelaunt darüber, zitternd durch die Gegend laufen zu müssen. Er hatte sich kurz am Ufer ausgeruht, als ihn der Ball am Kopf getroffen, und er in seinem immer noch andauernden Adrenalinschub die Kontrolle verloren hatte. Er blickte das kleine Mädchen an, das ihn mit verständnislosen, sich herzzerreißend mit Tränen füllenden Kulleraugen ansah. „Es…es tut mir leid, Kleine“, sagte er errötend und kratzte sich ungestüm am Kopf. „Ich…kauf dir einen neuen Ball“, stammelte er.

„Hey“, rief ein Erwachsener von weiter hinten. Jamie befand, dass es Zeit war zu verschwinden. „Wir sehen uns“, sagte er zu der Kleinen und schleppte sich eilig weg. Das fehlte gerade noch, erst hauchdünn einem übermenschlichen Monster zu entfliehen, um dann von einem aufgebrachten Familienvater verdroschen zu werden.

Ein wenig entfernt blieb er stehen und ließ sich auf eine Bank fallen. Zwar ging es ihm körperlich etwas besser, doch er war sehr erschöpft. Er seufzte bei dem Gedanken daran, dass noch keine Zeit war, sich ausgiebig auszuruhen.

Ihm war klar, was er tun musste. Er musste versuchen, den kleinen Jungen von seiner Schule, Tyler Leads, ausfindig zu machen. Er schien der Einzige zu sein, der die Wesen ebenfalls sehen konnte, und das machte ihn interessant. Er hatte immer noch nicht den blassesten Schimmer, was die Kreaturen von ihm wollten. Vielleicht konnte der Junge etwas Licht ins Dunkel bringen.

Er stapfte zu einer Telefonzelle und warf die wenigen Münzen ein, die sich noch in seiner Tasche befanden. Sein Handy ließ sich nicht mehr anstellen, was ihn bei der Menge an Wasser, mit der es konfrontiert worden war, auch nicht verwunderte. Über die Schule ließ er sich mit Mrs. Lindner verbinden, die ihm zwar zweifelnd, jedoch ohne zu zögern, die Adresse der Familie Leads gab. Gedankenverloren betrat er die U- Bahn, setzte sich in den nächsten Zug und fuhr in Richtung Clapham, dem Teil Londons, in dem die Leads wohnten, und schlief beim gleichmäßigen Ruckeln der Bahn beinahe ein.

Die Wolken hatten sich wieder ein wenig zugezogen, nur der Nebel war nicht zurückgekehrt, und beruhigt stellte er fest, dass auf der Straße Menschen umher liefen. Er hatte zwar keine Erklärung dafür, jedoch musste die Abwesenheit jeglichen Lebens etwas mit den Gestalten zu tun gehabt haben.

Er bog in die Straße ein, in der der Junge lebte und versuchte, sein Haar ein wenig zu richten, um nicht gänzlich wie ein Verwahrloster auszusehen, wo er sich doch schon so fühlte. Es gelang ihm nicht. Seine Klamotten klebten immer noch an seinem Körper, und seine Unterhose scheuerte an Stellen, an denen es ihm lieber gewesen wäre, wenn sie es nicht täte.

Tyler wohnte in einem stattlichen, weißen Haus mit einem penibel gepflegtem Vorgarten. Für einen Moment fragte sich Jamie, ob es nicht verrückt war, jetzt hier zu stehen. Doch dann seufzte er und drückte auf die Klingel. Eine ganze Weile lang geschah nichts, dann öffnete sich die Tür knarrend. Es war Tyler und er sah Jamie alles andere als verwundert an.

„Äh, hi“, begann Jamie, ein wenig unsicher, wie er beginnen sollte, obwohl er eigentlich sehr gut im Improvisieren war. „Tyler, erinnerst du dich an mich? Ich bin hier, weil…“

„Ich weiß, weshalb du hier bist“, unterbrach ihn Tyler. Seine Stimme war monoton, so monoton sogar, dass Jamie fand, er könne ohne Probleme Synchronisationen für Horrorfilme sprechen. „Weil ich sie sehen kann, richtig?“

„Ich verstehe nicht ganz“, sagte Jamie.

Tyler sagte nichts, doch sah ihn allwissend an, und eine Spur von Ärger stach in Jamies Magen. Es missfiel ihm, dass Tyler ihn offenbar voll und ganz durchschaute.

„Komm erst mal rein“, bot der Junge an und wich einen Schritt zurück. Er wirkte so untypisch für einen Fünftklässler, aber eigentlich auch befremdlich für irgendeine Art von Mensch. Plötzlich war sich Jamie nicht mehr so sicher, ob es klug gewesen war, hier zu erscheinen.

„Ich weiß nicht, Kleiner“, sagte er zögernd.

„Warum?“, fragte Tyler kühl. Weil du so wirkst, als würdest du mich gleich in einen Folterkeller sperren, dachte Jamie, sagte jedoch nichts. Er musste wissen, was der Junge ihm zu sagen hatte. Und er hatte ja wohl keine Angst vor so einem kleinen Jungen. Deshalb betrat er widerwillig das Haus und wurde von Tyler ins Wohnzimmer geführt. Dort angekommen bot der Junge ihm einen Platz auf der Couch an, und Jamie ließ sich misstrauisch fallen, ohne Tyler dabei aus den Augen zu lassen. Er war zwar nicht größer als gefühlte ein Meter zehn, aber die beunruhigend leblose Art des Jungen verwirrte Jamie. Er wollte das hier schleunigst hinter sich bringen und dann weg von hier.

„Also“, begann er und versuchte nicht einmal, freundlich zu klingen, „was kannst du mir über diese Wesen erzählen, die du in der Schule gesehen hast?“

„Nicht gesehen“, erwiderte Tyler und starrte Jamie an.

„Da hast du aber eben noch was anderes behauptet“, entgegnete Jamie bemüht ruhig. Tyler grinste, doch es war nur ein Zähneblecken.

„ Sehen können und gesehen haben…unterschiedlich.“

„Gut, Kleiner. Dann sag ich dir mal was: Nur weil du denkst, du könntest mich verarschen, heißt es nicht, dass du es kannst! Unterschiedlich.“ Es klang unfreundlicher, als geplant, doch mittlerweile fühlte Jamie sich immer unwohler, denn der Blick des Jungen bohrte sich förmlich in ihn. Erneut grinste Tyler, doch es wirkte blass und frei von Freude.

„Ich weiß, was sie wollen“, sagte er ruhig.

„Und was?“

„Dich!“ - Jamie lachte auf.

„Nichts für ungut, aber ich wurde grade wie ein Blöder durch die Stadt gejagt, da hab ich mir so was schon gedacht. Aber was wollen sie von mir?“ Er klang nun sehr eindringlich, doch der Junge legte nur den Kopf leicht schräg.

„Weil du anders bist.“

„Das weiß ich, aber inwiefern? Was ist los mit mir?“ Doch Tyler gab ihm keine Antwort, sondern schwieg und drehte sich dann ab. Jamie stand auf.

„Wo willst du hin?“, fragte Tyler teilnahmslos, und es jagte Jamie einen Schauer über den Rücken. Er wollte die Antworten mehr als alles andere, doch nicht um jeden Preis.

„Ich denke, es ist Zeit zu gehen“, sagte er.

„Bleib sitzen!“, sagte Tyler völlig stumpf. Nun klang er nicht mal mehr im Ansatz wie ein Junge, nein, nicht einmal wie ein Mensch. Da begriff Jamie, dass er sich mit diesem Besuch keinen Gefallen getan hatte. Vorsichtig schob er sich auf den Flur zu, doch Tyler fuhr so abrupt herum, dass es Jamie überraschte, und nun lagen seine Augäpfel schwarz vergraben unter immer wulstiger anschwellenden Wangenknochen. Eine Falle!

Tylers Körper begann sich zu dehnen, seine Haut begann sich zu verformen, als würden ihm zusätzliche Knochen wachsen, und seine Gesichtszüge entglitten ihm völlig, während seine Verwandlung fortschritt. Dort wo eben noch der kleine Junge gestanden hatte, stand nun eine Monsterfigur, überragte Jamie um zwei Köpfe und hatte auf einmal ein Schwert in der Hand. Jamie schrie auf. Nicht schon wieder.

Er fuhr herum und eilte auf die Tür zu, die wieder schwungvoll zufiel, aber dieses Mal schaffte er es gerade noch hindurch zu hechten, ehe sie sich ganz schloss! Er schlitterte die kleine Treppe vor der Tür hinunter und schlug sich das Knie auf. Die Tür flog aus der Angel und das Wesen hechtete hinter ihm her. Er wich einem Schwertstoß knapp aus, ehe er weiter hastete und sich über das Gartentor schwang. Er versuchte, seine Kraft zu wecken, doch es ging nicht. Es ging einfach nicht. Und wieder war kein Mensch auf der Straße.

Jamie hörte, wie das Gartentor gesprengt wurde, und das Monster hinter ihm auf die Straße trat. Er wusste, dass es aussichtslos war wegzurennen, schließlich war er sogar auf dem Rad beinahe zu langsam gewesen, und dennoch trugen ihn seine geschundenen Beine bis…ein Luftstoß ihn erfasste und hart auf den Pflasterstein zwang. Er war sehr benommen, doch er wollte lieber ohnmächtig sein.

Die Gestalt kam näher, und dann hörte er ein Zischen… Das Wesen kreischte auf, und ein Geräusch wie eine Mischung aus einem stotternden Motor und einem Fingernagel, der über eine Tafel gezogen wird, penetrierte sein Trommelfell. Ein Pfeil steckte in der Brust des Monsters, und schwarzes Blut lief an ihm hinab. Die Gestalt machte einen weiteren Schritt auf Jamie zu, aber nun sprang ein Mann hinter Jamie auf die Straße und stellte sich zwischen ihn und die Kreatur, die wütend fauchend auf ihn losging. Der Mann hob eine schwere Armbrust, und ehe die Kreatur sich auf ihn stürzen konnte, schoss er ihr einen weiteren Pfeil mitten in das von der Kapuze verhüllte Gesicht. Wie das andere Monster zuvor, begann auch dieses in sich zusammenzufallen wie bröckelnder Trockenlehm. Asche rieselte auf die Straße. Stille kehrte ein.

Jamie blickte den Mann an, der mit dem Rücken zu ihm stand. Er wirkte wie ein Koloss, beinahe so groß wie die Kreatur und ungefähr doppelt so breit wie ein normaler Mann. Nun drehte er den Kopf, und kniete sich neben Jamie, der vor Benebelung nur verschwommen ein rundes Gesicht über sich auf flimmern sah.

„Wer…wer sind Sie?“, fragte Jamie, doch der Mann winkte ab.

„Sprich jetzt nicht, Mringard“ (Auserwählter), sagte er mit warmer Stimme und hob die Hand. „Enneyei tair“ (Schlafe ein).

Jamie fielen die Augen zu.

Der Stern von Nirada - Band 1

Подняться наверх