Читать книгу Der Stern von Nirada - Band 1 - Felix van Kann - Страница 16

Kapitel 6 - Steingräber

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„Jamie“

„Nur noch ein bisschen!“

„JAMIE!“

Jamie setzte sich ruckartig auf. „Was ist?“ Er wischte sich mit dem Handrücken den Schlaf aus den Augen und gähnte. Dann sah er Gwin, der über ihm kauerte und ihn durchdringend anschaute.

„Beobachtest du mich, wenn ich schlafe? Das ist etwas seltsam“, sagte Jamie gespielt angewidert. Gwin schnalzte mit der Zunge.

„Wir haben keine Zeit für Witze. Zieh dich an.“ Er erhob sich und knipste das Licht in der Hütte an, woraufhin Jamie aufstöhnte, und die Augen in den Händen vergrub. „Beeil dich!“

Wortlos zog Jamie sich an. Weil er sie so lange nicht hatte wechseln können, waren seine Klamotten mittlerweile so modrig, dass selbst er sich davor ekelte, und das, obwohl er diesbezüglich eine außergewöhnlich hohe Schmerzgrenze hatte.

Die letzten drei Wochen hatten sie selten mehr als vier Tage an ein und demselben Ort verbracht. Gwin meinte, es sei für ihre Sicherheit besser, wenn sie ständig in Bewegung blieben. Wenn Jamie ehrlich war, war ihm das sehr recht, denn abgesehen von diesen Wanderungen gab es für ihn nicht viel zu tun: Sobald sie in ein neues, verlassenes Bauernhaus oder eine abgelegene Waldhütte kamen, verschwand Gwin für eine halbe Ewigkeit und ließ den gelangweilten Jamie mit sich selbst alleine. Er hatte den Gedanken, für das Schicksal einer fremden Dimension verantwortlich zu sein, zwar akzeptiert, doch noch längst nicht ganz verdaut. Es frustrierte ihn, dass er immer noch nicht verstand, was das eigentlich bedeuten sollte. Wie sollte er etwas retten, das er noch nie mit eigenen Augen gesehen hatte? Manchmal überlegte er gar, was es für einen Unterschied machen würde, wenn es seine eigene Welt wäre, die betroffen war. Wäre das nicht leichter hinzunehmen? Doch dann schüttelte er, enttäuscht von sich selbst, den Kopf.

Gwin war in dieser Hinsicht alles andere als eine große Hilfe. Den Hagelsturm an Fragen, mit dem Jamie ihn täglich bombardierte, entschärfte er auf galante, aber unbefriedigende Art: Er schwieg meistens. Langsam begann sich Jamie zu fragen, ob er heimlich würfelte, welche Fragen er beantworten sollte und welche nicht. Sollte es so sein, so fiel die Entscheidung viel zu oft zu seinen Ungunsten aus.

„Es ist besser, nicht alles zu wissen“, hatte Gwin einmal gesagt, als Jamie ihm seinen Unmut vortrug, und dieser hatte es zwar nicht verstanden, es jedoch zähneknirschend hinnehmen müssen. Er hatte schnell gemerkt, dass, wenn Gwin etwas nicht sagen wollte, keine Macht der Welt es aus ihm herausbekommen konnte. Aber warum? Würde es ihm nicht helfen oder ihn gar stärken, besser Bescheid zu wissen? Doch Gwin schien dies anders zu sehen. Auch wenn die Sprache auf seine Person kam, wieso man ihn den `Verbannten´ nannte, oder von welchen Fehlern er gesprochen hatte, blockte der Hüne so brummig ab, als penetriere Jamie ihn mit einem Presslufthammer.

„Du wirst alles zur richtigen Zeit erfahren“, hatte Gwin gemeint, „hab Geduld.“ Doch wenn Jamie eines noch nie gehabt hatte, dann war es Geduld. Bevor die Drago-Soldaten in sein Leben getreten waren, hätte man die Geduld sogar als seinen größten Feind betrachten können.

Eine Frage hatte Jamie stellen müssen und von Gwin eine Antwort verlangt.

„Was meintest du, als du sagtest, meine Eltern könnten sich nicht an mich erinnern?“, fragte er an dem Abend, nachdem sie die erste Hütte verlassen hatte, und Gwin merkte wohl sofort, dass es in diesem Fall besser war, ihm die Wahrheit zu sagen.

„Ich habe sie mit einem Zauber belegt, der jegliche Erinnerung an dich gelöscht hat. Deswegen habe ich dich am ersten Tag auch solange warten lassen müssen. Ich musste sichergehen, dass sie nicht nach dir suchen. Es tut ihnen gut, nichts zu wissen.“

„Aber was genau soll das heißen?“

„Dass die Person Jamie Mayer in ihrer Welt nicht mehr existiert. Deine Eltern haben vergessen, dass es dich jemals gab. Ihre Freunde werden sie nie auf dich ansprechen. Ich habe sie in ein sicheres Haus gebracht. In ein sicheres, neues Leben. In dem du keinen Platz hast. Zumindest nicht jetzt.“

„Das hast du ja klasse gemacht“, rief Jamie ohne seinen Ärger zu verhehlen, und etliche Emotionen suchten ihn heim. „Was gibt dir das Recht dazu?“ Gwin schüttelte schwerfällig den Kopf.

„Glaub mir, Jamie, es hat mich einiges an Überwindung gekostet, ihnen ihren einzigen Sohn zu nehmen, aber wie hätte man es ihnen erklären sollen? Liebe lässt die Menschen dumme Dinge tun. Du solltest froh sein, dass sie nicht in Sorge leben müssen. Sie würden wahnsinnig werden - oder auf die Idee kommen, nach dir zu suchen. In unserer Welt hat niemand außer dir Platz.“

„Also muss ich mich jetzt bei dir bedanken, dass du meine Eltern verhext hast?“ Jamie wollte die Härte von Gwins Worten nicht hinnehmen, obwohl er sie irgendwie nachvollziehen konnte. „Aber sie werden sich doch an mich erinnern, oder? Irgendwann?“

„Das werden sie. Wenn sie dich wieder sehen.“ Das Wenn hatte dabei so fragwürdig geklungen, dass es Jamie Angst machte. Gwin sah ihn mitfühlend an. „Manchmal muss Vergangenes zu Vergangenem werden, damit wir die Zukunft neu erleben können.“ Der Hüne hatte kurz den Arm um Jamies Schultern gelegt, und obwohl es befremdlich war, tröstete es ihn doch ein wenig.

Seitdem hatte Jamie oft an seine Eltern denken müssen, doch er hatte sich immer besser an den Gedanken gewöhnt, dass Gwin sie durch sein Handeln vor Gefahr geschützt hatte. Schließlich wussten die Soldaten sogar, wo er wohnte, und hatten seine Haushälterin abgeschlachtet, nur weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Er war froh, dass sie in Sicherheit waren. Egal, was der Preis war. Aber ihm wurde klar, was das bedeutete: Es gab niemanden mehr, außer Gwin, der ihm zur Seite stand. Er würde ganz allein sein.

Gwin schwang sich nun einen Reisebeutel aus Leder um den Hals, der an seiner Hüfte baumelte und ihm das groteske Aussehen eines naturfreundlichen Rucksacktouristen verlieh. Jamie prustete los, doch verkniff es sich, als Gwin ihn fragend ansah.

„Lass uns gehen.“

Er öffnete die Tür und hatte für einen kurzen Moment das Gefühl, jemand habe die Sonne vom Himmel geklaut.

„Gwin, es ist dunkel.“

„Eine vortreffliche Feststellung. Eines Auserwählten würdig“, sagte Gwin trocken, „allerdings kaum verwunderlich, wenn man bedenkt, dass der Tag erst vier Stunden alt ist.“ Jamie sah Gwin an, als habe er gerade vorgeschlagen, Jamie Lockenwickler in die Haare zu drehen. Gwin zuckte entschuldigend. „Wir haben einen langen Weg vor uns.“ Mit diesen Worten stapfte er voraus. Jamie fröstelte leicht und seine Armhaare stellten sich auf.

Die Hütte lag zwischen einigen Bäumen auf einem kleinen Hügel, doch im Moment war es tatsächlich noch zu dunkel, um viel von der Umgebung erkennen zu können. Nachts musste es geregnet haben, denn das Gras war glitschig und durchnässte Jamies Schuhe. Der Geruch nach feuchter Erde und Morgentau drang in sein Nase.

„Wo gehen wir hin?“, rief er Gwin hinterher, der sich mühelos die Böschung hinunter arbeitete, während Jamie bei jedem Schritt darauf achten musste nicht auf dem matschigen Boden wegzurutschen.

„Das erkläre ich dir gleich“, rief Gwin von weiter unten. Jamie blickte hinauf zum Himmel, an dem ein glänzender Halbmond matt strahlte. Warum hatte Gwin es so eilig? Hatte man sie etwa entdeckt? Unwillkürlich sah er sich in den Weiten der Felder um, die von einem hübschen, milchigen Dunstschleier eingekleidet wurden, doch er konnte nichts erkennen, außer den dunklen Umrissen eines Fuchses, der auf seiner Jagd nach Kleingetier wie ein Schatten umher schlich.

Sie liefen ungefähr eine Stunde durch Wald und Feld, und der Himmel begann sich langsam rot zu verfärben. Jamie genoss den Anblick, wie die Sonne den Horizont erleuchtete, und vergaß dabei für einen Moment all die Sorgen, die auf ihm lasteten.

„Hörst du mir zu?“, fragte der Hüne heiter, und Jamie blickte ihn müde an.

„Was? Wo sind wir eigentlich?“, fragte er und wischte sich klebrig-kalten Schweiß von der Stirn.

„In der Nähe von Nottingham.“

„Wann sind wir denn soweit nördlich gewandert? Und was machen wir hier?“

„Nun“, sagte Gwin und stockte kurz, „du hast dich bestimmt gefragt, was ich in den letzten Wochen getan habe, als ich dich in den Hütten alleine gelassen habe. Ich habe nach etwas gesucht. Und hier bin ich fündig geworden.“

„Meinen Glückwunsch. Und was ist es?“

„Das Tor.“ Jamie hielt inne. Eine nervöse Unruhe setzte in ihm ein, wie wenn man nicht erwarten kann, dass das beginnt, wovor einem eigentlich graut, weil das Warten darauf einen noch mehr in den Wahnsinn treibt. Mit dieser Neuigkeit hatte er gar nicht gerechnet.

„Und wo ist es?“

„Es muss irgendwo in den Wäldern um Nottingham liegen, ein ganzes Stück weiter nördlich von hier. Das bedeutet, die Ankunft des Auserwählten steht kurz bevor. Die Suche wird jedoch nicht einfach, deswegen brauchen wir so lange wie möglich Tageslicht.“

„Na klasse, und wir sollen wir jetzt noch weiter nördlich kommen?“, fragte Jamie und bemerkte unglücklich seine pochenden Füße, die schon von dem vorigen Marsch ein wenig schmerzten.

„Mit magischer Hilfe wird es nicht gehen, denn wie du ja weißt, bemerken die Drago-Soldaten die Aura von solch kraftvollen Zaubern. Bis wir im Schutzbann sind“, er ließ offen, was er damit meinte, „müssen wir daher auf eure Mittel zurückgreifen.“ Jamie verstand nicht ganz.

„Das heißt…?“

„Das heißt, wir nehmen den Bus“, sagte Gwin. Jamie schaute amüsiert.

„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“

„Oh doch, und wie“, sagte Gwin wie selbstverständlich, und Jamie schnaubte. Bus fahren kam ihm bei allem, was er in den letzten Wochen erlebt hatte, so unnormal normal vor, dass er sich darüber freute. „Gleich hinter diesem Waldstück“, Gwin deutete auf die Bäume hinter sich, „liegt eine Straße. In etwa einer Viertelstunde“, sagte er mit Blick zur aufgehenden Sonne, als könne er auf ihrer gleißenden Oberfläche Zeiger erkennen, „kommt der erste Bus.“

Tatsächlich stolperten sie wenig später auf eine feuchte, zweispurige Straße, an deren Rand eine kleine, morsche Holzhaltestelle mit drei Sitzplätzen ins Nichts gepflanzt worden war. Das Schild, auf dem der Name der Station stand, war komplett verwittert und wurde von einigen heimischen Pilzen besiedelt- offenbar wurde die Haltestelle nicht allzu oft genutzt.

Wenige Minuten später kündigte stotterndes Motorengeräusch die Ankunft des Busses an. Gwin schien alles wirklich gut geplant zu haben. Der kauzige Busfahrer schien äußerst überrascht, dass jemand an dieser abgelegenen Station zusteigen wollte, als sei das noch nie vorgekommen, und als er Gwins massige Statur sah, war Jamie sich sicher, dass er einen Überfall fürchtete.

„Zweimal, bitte“, sagte Gwin freundlich. Der Busfahrer begann etwas vor sich hin zu murmeln, dann überreichte er ihnen die Fahrscheine, und Jamie und Gwin ließen sich auf einem Doppelsitz nieder. Außer ihnen saßen eine schlafende Frau und ein kahl geschorener Mann im Bus, dessen Augen so unnatürlich rot waren, dass er bei einem Stierkampf das Tier auch ohne Tuch reizen würde, und der unentwegt komische Geräusch machte, als wolle er eine Taube imitieren. Kopfschüttelnd wandte Jamie sich wieder Gwin zu, der den großen Reisesack auf seinem Schoß ablegte.

„Wie lange fahren wir?“, fragte Jamie, und Gwin räusperte sich.

„Nicht lange. Vielleicht zwanzig Minuten. Es fällt mir schwer, den Standpunkt des Tores genauer zu bestimmen, deswegen kann ich nicht genau sagen, wo es am besten wäre mit der Suche zu beginnen.“

„Was ist denn so schwer daran?“, fragte Jamie, und Gwin zog die Mundwinkel hoch.

„Dass die Tore nicht gefunden werden wollen. Um genauer zu sein, wollen sie nicht mal, dass irgendjemand von ihrer Existenz erfährt.“

„Hört sich so an, als seien diese Tore ein eingeschworener Verein von übervorsichtigen Türstehern…“, witzelte Jamie, doch Gwin sah ihn nur hohl an.

„Ziemlich komisch. Du scheinst nicht ganz zu verstehen, mit was für außergewöhnlich magischen Objekten du es zu tun hast. Sie ebnen einen Pfad, der auf keinen Fall missbraucht werden darf. Fremde haben in der jeweils anderen Dimension nichts verloren, sonst werden sie aus dem Gleichgewicht gebracht. Deshalb ist das Privileg, durch Tore zu gehen, auch nur den größten Magiern vorbehalten. Es wäre kaum auszudenken, was passieren würde, wenn die Dimensionen zu eng miteinander verbunden wären.“

„Was würde dann geschehen?“

„Ich weiß es nicht. Aber wie gesagt, Dimension bleibt Dimension. Ursprünglich dienen die Tore auch nur einem einzigen Ziel: Dem Schutz. Sobald eine Dimension in Gefahr ist, sollte es ihren Bewohnern möglich sein, die Unterstützung der anderen Dimension zu ersuchen.“

„Aber ist es nicht genau das, was wir tun?“, fragte Jamie mit rauchendem Kopf.

„Wir schon. Der Fürst aber nicht. Er unterwirft sein Tor mit schwarzer Magie. Ich will gar nicht wissen, was für Schäden er dadurch schon verursacht hat, gerade weil er auch noch die unerklärliche Macht hat, das Tor dauerhaft geöffnet zu halten, sodass seine Krieger zwischen den Dimensionen hin und her springen können wie auf einem Schachbrett.“

„Heißt das, wenn der andere Auserwählte hier sein wird…schließt sich das Tor? Können wir nicht direkt durch das Tor zurück?“ Gwin lachte und es klang ein wenig bitter.

„Nein. Das Tor wird sich in dem Moment schließen, in dem er die Dimension betritt. Von da an wird es unsere Aufgabe sein, eines der anderen Tore zu finden, die von hier nach Nirada führen.“

„Aber woran erkennt man so ein Tor?“

„Nun, darauf gibt es keine klare Antwort. Sobald ein Tor benutzt wurde, schließt es sich und taucht an einer ganz anderen Stelle wieder auf. Das kann auf dem Grund des Meeres oder dem höchsten Gipfel eines Berges sein.“

„Dann ist es ja beinahe unmöglich, eines auszumachen“, erschrak Jamie.

„Wie schön, dass du die Tragweite des Problems erkennst. Dennoch, es ist nicht so, dass die Tore nicht gekennzeichnet sind“, sagte Gwin beruhigend, „immer dort, wo sich ein Tor befindet, entsteht ein großes Steingrab, ein Hünengrab, um den Eingang zu verdecken. Wo immer dieses Grab entsteht, ist soeben ein Tor erschienen.“

Jamie lehnte sich zurück. Es war zwar schön und gut, dass ein solches Grab aus dem Boden spross, doch was nützte das, wenn es an einem Ort geschah, an dem kein Mensch es jemals sehen würde? Jamie wurde klar, was das eigentlich bedeutete. Bis vorhin hatte er gedacht, er würde einfach mit dem Auserwählten zurückgehen. Doch so einfach war das wohl nicht - sie würden die ganze Welt nach einem der Tore absuchen müssen! Ein Gefühl der Enttäuschung machte sich in ihm breit und ihm wurde bewusst, wie klein er eigentlich im Vergleich zu dieser Welt war. Er kratzte seine Wange und sah aus dem Fenster. Der Wald glitt an der Scheibe vorbei, gleichförmig und endlos weit. Überall dort, dachte Jamie, überall dort könnte ein Tor sein...

Der Bus kam quietschend zum Stehen.

„Wir müssen aussteigen“, entschied Gwin und erhob sich. Jamie lief ihm hinterher an dem seltsamen Taubenmann vorbei, der sie offenbar verängstigt angurrte, und sie verließen den Bus. Die Station sah fast genauso aus wie die, an der sie eingestiegen waren, nur dass die Schatten der Bäume etwas kürzer geworden waren und Vogelgesang aus den umliegenden Baumkronen zwitscherte.

Jamie beobachtete, wie Gwin sich umsah, als versuche er, sich zu orientieren. Dann zuckte der Hüne mit den Achseln. „Ich habe keine Ahnung.“

„Gut. Vielleicht wäre es nicht schlecht, wenn du mir erst mal sagst, wonach wir überhaupt Ausschau halten, oder ist der Ausgang des Tores auch mit so einem Steingrab gekennzeichnet?“

„Genauso ist es“, nickte Gwin, „Hier in der Nähe soll vor Kurzem ein neues Steingrab gefunden worden sein, es stand in einer Lokalzeitung.“ Sie schlugen sich durch den Wald, doch sie konnten weit und breit nichts von einem Steingrab erkennen. Jamie hechtete hinter Gwin her, der mit seinen langen Beinen mit einem Schritt so viel Raum gewann wie Jamie mit drei.

„Ich weiß nicht, ob es so viel bringt, hier planlos durch die Gegend zu laufen“, sagte Jamie schließlich erschöpft.

„Wir sind nicht planlos.“

„Aber du sagtest doch, du hättest keine Ahnung….“

„…Stimmt“, entgegnete Gwin geschäftig.

„Dann sag auch nicht, wir seien nicht planlos.“

Jamie fuchtelte aufgebracht mit den Armen. "Ich jedenfalls weiß mit Sicherheit nicht, wo es lang geht!"

Gwin blieb so abrupt stehen, dass Jamie gegen sein Rücken prallte und einige Meter zurücktaumelte.

„Da irrst du dich“, sagte der Riese und lief weiter. Jamie hob vor Verzweiflung die Hände, und murmelte unschöne Worte gen Himmel. Die Art und Weise, wie Gwin sich wieder geheimnisvoll ausdrückte, ließ ihn noch wahnsinnig werden.

„Wenn ich mich nicht täusche“, sagte Gwin, ohne zu bemerken, dass Jamie hinter ihm erzürnte Gesten in seine Richtung machte, „verspürst du etwas wie ein Ziehen in dir, richtig?“ Jamie stockte in seiner obszönen Geste. Gwin hatte Recht. Ein seltsames Gefühl zog seine Brust entzwei.

„Ich spüre, wo das Tor ist?“, fragte er ungläubig und tastete über seine Brust. „So wie ein menschliches GPS-System?“

„Entschuldigst du dich jetzt für das Theater, dass du hinter mir abgezogen hast. Ich bin nicht dumm, weißt du?“, fragte Gwin belustigt, und Jamie grinste beschämt.

„Ja, ja, sorry. Aber was ist das für ein Gefühl?“

„Es ist dein Herz. Es zeigt dir den Weg.“

„Das klingt wie aus einem schlechten Liebesfilm.“

„Also genau das Richtige für dich“, konterte Gwin trocken, „deine Verbundenheit mit dem anderen Auserwählten lässt dich spüren, wo er ist: Gleich hinter dem Tor. Also verrate mir, wo würdest du langgehen?“ Jamie versuchte, das Ziehen zu deuten, doch jetzt, wo er bewusst daran dachte, war es schwerer als angenommen.

„Da lang“, sagte er schließlich und deutete nach rechts. Gwin folgte seinem Finger, dann entschied er: „Also gut!“, und stapfte wieder los. „Du sagst Bescheid, wenn wir die Richtung ändern müssen.“

Jamie folgte Gwin durch den Wald. Der Regen, der das Land in den letzten Wochen heimgesucht hatte wie ein ungeliebter Verwandter, war einem strahlend blauen Himmel gewichen, der nur vereinzelt von kleinen Wolken betupft war.

Die Gegend sah fast identisch aus wie die, die sie am Morgen verlassen hatten, es war schwer, die Orientierung zu behalten, und doch wusste Jamie genau, wohin er gehen musste. Die Wanderung dauerte eine ganze Weile und die Gegend wurde immer zivilisationsferner. Urplötzlich blieb Gwin stehen.

„Ahja“, sagte er zufrieden und blickte umher, als sehe er etwas, das Jamie nicht sah, „es liegt Magie in der Luft. Es kann nicht mehr weit sein.“

„Magie?“, fragte Jamie alarmiert und dachte an die Drago-Soldaten.

„Ja, aber keine schwarze“, beruhigte ihn Gwin und fuhr mit der Hand durch die Luft, „absolut reine Magie. Es ist die Aura des Schutzbannes.“

„Bitte was?“, fragte Jamie verständnislos.

„Nun, auch das gehört zur besonderen Magie der Tore. Wer ein Tor ausfindig macht, markiert es mit seinem persönlichen Zauber. Dieser Zauber kreiert dann in der Zieldimension einen Schutzbann um das Steingrab. Dadurch ist es anderen unmöglich, in die Nähe des Tores zu kommen“, erklärte Gwin und tastete in der Luft umher, als greife er nach etwas Unsichtbarem. „Für uns gilt das aber nicht, weil du das Ziel des Auserwählten bist. Du und ich sind Teil seines Schutzes. Die Drago-Soldaten hingegen können diesen Schutzzauber nicht durchdringen.“

„Dann befinden wir uns jetzt in einem geschützten Bereich? Wie eine Sperrzone!“ folgerte Jamie.

"Und was noch viel besser ist“, ergänzte Gwin und hob die Hand, „hier drinnen können die Soldaten keine Magie orten.“ Ein Kleeblatt löste sich vom Boden und schwebte in Gwins Hand, der es umsichtig am Stiel drehte. „Vorzüglich!“ Jamie sah Gwin mürrisch an, denn er wollte nicht von Blumen reden.

„Wenn du diese Magie spüren kannst, die von dem Bann ausgeht“, fragte er argwöhnisch, „müssten die Soldaten das doch auch können, oder? Schließlich können sie Magie orten.“ Aber Gwin schüttelte den Kopf, ohne das Kleeblatt dabei aus den Augen zu lassen.

„Nein“, sagte er abwesend, „nicht diese Art von Magie, Jamie. Nur psychische - also Exercir - und physische Moverir-Magie kann von den Soldaten wahrgenommen werden. Ich erkläre dir das später genauer“, beschwichtige Gwin Jamies rätselnden Gesichtsausdruck, „die dritte Art sind die Defendir-Zauber, Verteidigungszauber, also die Zauber, die unserem Schutz dienen. Für sie sind die Soldaten blind, während magisch begabte Menschen sie wahrnehmen können, wenn sie es gelernt haben. Deswegen war es auch ungefährlich, die Bäume um die Hütte herum sprießen zu lassen. Sie dienten deinem Schutz und waren somit für die Soldaten nicht zu orten.“ Wieder kam sich Jamie ziemlich blöd vor. Es war eine Schande, dass er so wenig über solche Dinge wusste.

„Aber was war dann mit dem Feuer, das du am ersten Abend entzündet hast?“

„Oh, ein so schwacher Zauber kann nur in einem sehr kleinen Umkreis wahrgenommen werden. Und wir hatten alle Drago-Soldaten in der Umgebung bereits vorher...beseitigt. Keine Gefahr also.“ Der Hüne ließ die Blume ins Gras segeln und ging weiter. Jamie verzog missmutig das Gesicht. Die Erkenntnis seiner Unkenntnis bereitete ihm schlechte Laune.

Sie kamen in ein weiteres, kleines Waldstück. Bis hierhin hatte Jamie sich von dem Gefühl in seiner Brust problemlos leiten lassen, doch plötzlich war Schluss damit. Das Ziehen war verschwunden.

„Ich fühle nichts mehr“, verkündete er Gwin verständnislos, der die Brauen hochzog, „das Gefühl....es ist weg!“

Gwin sah sich um. Dann breitete sich auf seinem Gesicht ein Lächeln aus, das wie das eines Kindes aussah. „Du fühlst nur, bis du sehen kannst. Und jetzt“, er deutete hinter sich, „jetzt siehst du!“

Zwischen den Bäumen stand, hoheitlich und massiv, ein etwa vier Meter hohes weißes Steingrab. Zwei große Steinbrocken ragten gen Himmel, und quer darüber lag ein unnatürlich weißer Stein und glänzte in den Sonnenstrahlen, die durch die Baumkronen fielen. Sie hatten das Tor gefunden.

Der Stern von Nirada - Band 1

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