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Erste Etappe in mein neues Leben

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Am frühen Morgen des zweiten Januars 2014 erreichte ich gemeinsam mit meinem Cousin Äthiopien. Unser Weg führte uns durch die Berge nach Süden. Sowohl mein Heimatort Bihat als auch Senafe, die Stadt, in der ich meine Ausbildung zum Kameramann absolviert hatte, liegen nahe der Grenze – deshalb gelang es uns, die Berge, die Eritrea von Äthiopien trennen, in einer Nacht hinter uns zu lassen.

Von meinen Fluchtplänen hatte ich zu Hause kein Wort gesagt. Ich hatte behauptet, dass ich zur Schule gehen würde, um meine Mutter nicht zu verletzen. Mit 500 Nakfa in der Tasche, umgerechnet heute etwa 30 Euro, die mein Cousin vorsorglich organisiert hatte, damit wir uns unterwegs etwas zu essen kaufen konnten, war ich auf und davon.

Ich war glücklich, dass mir auf der Flucht durch das Gebirge nichts passiert war und ich es geschafft hatte, Eritrea hinter mir zu lassen. Wo wir uns genau befanden, wussten wir nicht. Das Einzige, was wir wussten, war, dass wir die Grenze überquert hatten. Wir hatten keine Ahnung, in welche Richtung wir nun weiterlaufen sollten.

Zu unserem großen Unglück entdeckten uns äthiopische Soldaten, die die Berge mit Ferngläsern kontrollierten. Sie nahmen uns fest, und wir mussten ihnen mit erhobenen Händen bergauf zu ihrem Stützpunkt folgen.

Dieser war gut getarnt, und man hatte einen guten Blick über die Berge. Wir bemerkten, dass es hier sehr viele Soldaten gab, deren Unterkünfte unter der Erde versteckt waren. Wir wurden komplett durchsucht. Anhand der Fotos, die ich als Erinnerung dabeihatte, erkannten die Soldaten bald, aus welcher Region in Eritrea ich stammte.

Als sie sich untereinander berieten und auf einer Karte auf unser Land zeigten, wurde mir mit einem Mal klar, dass ich wahrscheinlich nie wieder in meine Heimat zurückkehren würde. Mit einem Mal bekam ich großes Heimweh. Unser Geld wurde uns von den Soldaten erst einmal weggenommen. Dann gab es Frühstück für alle, doch wir bekamen nichts, obwohl wir großen Hunger hatten. Später brachen wir mit einer Gruppe Soldaten zu Fuß in die kleine Grenzstadt Zela Ambesa auf. Das war anstrengend für uns, und vor lauter Durst vergaßen wir bald unseren Hunger.

»Bitte, ich verbrenne, können wir irgendwo Wasser besorgen?«, bat ich die Soldaten.

Vergebens – wir mussten einfach weiterlaufen.

Sie nahmen uns Gürtel und Schuhe weg, sodass wir unsere Hosen festhalten mussten und nicht weglaufen konnten. Der Boden war sehr felsig, und unsere Füße taten bald fürchterlich weh. Die herumliegenden Nadeln der Bäume bohrten sich in unsere Füße, und sie begannen zu bluten. Niemand kümmerte sich um unser Leiden.

Nach vier Stunden Marsch erreichten wir Zela Ambesa. Dort brachte man uns zur Polizei, die uns in einen Raum sperrte, in dem schon viele andere Menschen ausharrten. Wir erfuhren, dass manche hier schon seit Wochen eingesperrt waren.

Es gab keine Toilette, sondern nur einen Eimer, und es stank furchtbar. Diese Zustände erschreckten mich sehr. Alles, was wir zu essen bekamen, waren eine trockene Semmel und etwas Tee. Weil wir Hunger hatten, fragten wir nach dem Geld, das uns die Polizisten weggenommen hatten. Zunächst wollten sie es uns nicht geben, aber nachdem wir darauf bestanden, willigten sie ein, es in äthiopische Währung umzutauschen. Die Polizisten betrogen uns allerdings, denn sie tauschten es zu einem sehr schlechten Kurs um.

Alle eritreischen Flüchtenden, die in dem Raum eingesperrt waren, waren sehr hungrig, daher bestachen wir die Wachen, damit sie uns Essen brachten. Auf diese Weise gaben wir unser ganzes Geld aus – wir hatten keine andere Wahl. Wir aßen gemeinsam aus einer Schüssel, obwohl sich niemand vorher die Hände gewaschen hatte. Letztendlich wurden alle satt. Von daheim waren wir es gewohnt, gemeinsam zu essen, und es war für uns völlig normal, sich auf der Flucht gegenseitig zu helfen– deswegen machten wir das gern. Niemand von uns hätte allein essen wollen, wenn gleichzeitig andere nur zuschauen durften und Hunger litten. Das wäre nicht richtig gewesen. Ohne wechselseitige Hilfe und Solidarität hätte außerdem niemand von uns die Flucht überstanden.

In dieser Nacht mussten wir wie Sardinen aneinandergedrängt schlafen. Der Raum war dermaßen überfüllt, dass die äthiopische Lagerleitung am darauffolgenden Tag beschloss, mich, meinen Cousin und einige andere Flüchtende an einen anderen Ort zu verlegen.

Mit einem Jeep brachte man uns zunächst in die etwa 35 Kilometer südlich liegende Stadt Adigrat, wo wir eine Nacht blieben. In der Polizeistation mussten wir ohne Decken nur auf ganz dünnen Matratzen auf dem Betonboden schlafen und froren dabei entsetzlich.

Am nächsten Morgen ging es um sechs Uhr weiter, und wir mussten wieder in einen Jeep steigen. Wir waren an die zwanzig Leute, und es war unglaublich eng. Wir saßen dicht an dicht gedrängt. Die Luft war sehr schlecht. Einer der Gefangenen ertrug das nicht und musste sich nach einer Stunde übergeben. Daraufhin wurde die Luft natürlich noch unerträglicher. Uns wurde allen schlecht. Einer nach dem anderen übergab sich. Ich selbst hielt lange durch und versuchte, durch meine Kleidung zu atmen. Irgendwann wurde auch mir speiübel. Ich hatte zwar nichts gegessen, musste aber ebenfalls würgen. Meine Nachbarin übergab sich auf meine Kleidung, sodass mir nichts anderes übrig blieb, als sie auszuziehen.

So fuhren wir den ganzen Tag lang, bis wir das Flüchtlingslager Endabaguna erreichten. Später erfuhr ich, dass dieser Ort weithin bekannt ist: Ein Erstaufnahmezentrum, von dem aus viele Flüchtende aus Eritrea auf andere Camps im Land verteilt werden. Man brachte uns zu einem umzäunten Platz, der teilweise überdacht war. Hier wurden schon sehr viele Eritreer festgehalten. Insgesamt waren wir wohl 4000, wenn nicht sogar 6000 Menschen.

Niemand durfte die große Halle verlassen, in die wir hineingetrieben worden waren. Bewaffnete Soldaten bewachten den Ort. Die Versorgung war sehr schlecht. Jeder musste warten, bis er aufgerufen und weggebracht wurde. Mit großem Schrecken stellte ich fest, dass es Flüchtende gab, die bereits seit über einem Jahr in diesem Lager festsaßen.

Es machte mir große Angst, wie die Menschen hier behandelt wurden. Aufgrund der Tatsache, dass so viele hier zusammen eingesperrt waren, kam es unter ihnen oft zu Gewalt und Verletzungen. Ich hätte gern meine Kleidung gewechselt, hatte aber nur das, was ich am Leib trug. Um die Kleider zu waschen, fehlte es an ausreichendem Wasser.

Für die Nacht brachte man uns in ein anderes Haus, das an das große Gebäude grenzte. Dort war es sehr eng, und wir waren dazu verdammt, buchstäblich übereinanderzuliegen. Es gab weder Matratzen noch Decken. Diejenigen, die keinen Platz zum Schlafen fanden, mussten sich an Türen und Wände lehnen.

Obwohl die Bedingungen in Endabaguna so hart und unmenschlich waren, trug mich in diesen ersten Wochen meiner Flucht die Hoffnung auf ein besseres Leben. Ich war mir sicher, dass ich die Torturen in diesem Lager bald überstanden hätte. Obwohl noch die Sahara und Libyen vor mir lagen, sah ich mich schon in Europa. Bald sollte ich jedoch erfahren, dass der Weg dorthin viel länger, entbehrungsreicher und qualvoller sein würde, als ich es hier in diesem äthiopischen Lager annahm.

In Endabaguna herrschte militärischer Drill: Jeden Morgen um sechs Uhr wurden wir nach draußen gebracht und mussten uns in Zweierreihen aufstellen, damit durchgezählt werden konnte. Viele Inhaftierte versuchten bei dieser Gelegenheit zu fliehen. Die bewaffneten Soldaten, die vor und hinter uns standen, hielten sie aber auf und schlugen sie mit Stöcken.

Tag für Tag führte man uns auf den großen Platz vor der Halle, wo es jeden Morgen dasselbe Frühstück gab: eine trockene Semmel und einen ungesüßten Tee, der nach nichts schmeckte. Nicht wenige Insassen wurden von diesem Essen krank. Die Sonne stach den ganzen Tag auf uns herab. Die Überdachung reichte nicht für uns alle, sodass viele Menschen in der heißen Sonne sitzen mussten.

Es gab zu wenig Wasser für alle – viele kollabierten deshalb. Auch ich hatte nicht genug Kraft, um mich durchzusetzen und mir einen Platz im Schatten zu erkämpfen. Meine Kleidung war mir schnell zu warm, deshalb behielt ich nur Unterhemd und kurze Hose an und »bastelte« mir aus den restlichen Kleidungsstücken einen Sonnenschutz, den ich auf dem Kopf trug.

Diejenigen, die den ganzen Tag über in der prallen Sonne verbringen mussten, waren völlig ausgetrocknet und stürzten sich auf jegliche Wasserreserven, die sie bekommen konnten. Da das Wasser aber meist sehr dreckig war und wir überhaupt nicht wussten, woher es kam, wurden viele davon krank.

Es war ein menschenunwürdiges Leben!

Während der Zeit im Camp betete ich häufig zu Gott, damit er mich von diesem schrecklichen Leben erlösen möge. Ich verstand nicht, warum er solche Qualen zuließ. Hier gab es für alle Menschen nur vier Toiletten, die immer dreckig und verstopft waren.

Nach Zahlen des UN-Flüchtlingswerks hielten sich im Juni 2013, also rund ein halbes Jahr vor meiner Ankunft, mehr als 70.000 Flüchtende aus Eritrea in Äthiopien auf. Die allermeisten, die aus Eritrea nach Äthiopien fliehen, kommen hier an und werden nach einer mehr oder weniger langen Wartezeit auf verschiedene andere Camps verteilt.

Und so erging es auch mir.

Am fünften Tag nach meiner Ankunft wurde ich aus dem Lager herausgeholt. Die Polizisten brachten mich in einen anderen Raum und stellten mir unzählige Fragen. Sie wollten genauestens wissen, warum ich hier war und wohin ich gehen wollte.

Nach dem Ende der Befragung hoben mich die Soldaten auf die Ladefläche eines Lkws, auf dem schon achtzig oder hundert andere Menschen warteten. Mit diesem völlig überladenen Lkw, der normalerweise zum Transport von Baumaterialien diente, fuhren wir los. Es war offensichtlich, dass die äthiopischen Soldaten nicht im Traum daran dachten, uns freizulassen. Ich musste mich also darauf einstellen, noch längere Zeit in Äthiopien festgehalten zu werden.

Mit der Zeit wurde die Landschaft um uns immer bergiger – doch wohin man uns eigentlich brachte, wusste niemand.

Weil die Ladefläche schrecklich überfüllt war, saßen die Menschen auch auf dem Dach der Fahrerkabine und auf den Seitenwänden. Mir war es in der Mitte viel zu eng, und die Leute um mich herum übergaben sich, weshalb ich versuchte, auf die hintere Ladeklappe zu klettern, um frische Luft zu bekommen. Dort stank es aber fürchterlich nach Abgasen, und ich saß in den Staubwolken, die die Reifen auf dem lehmigen Boden aufwirbelten.

Manchmal fuhren wir so schnell durch die Kurven, dass sich der Lkw auf bedrohliche Weise neigte und fast umkippte. Auf der einen Seite der unbefestigten Straße ging es sehr steil bergab, und wir befürchteten schon, von der Straße abzukommen, weil der Fahrer so schnell fuhr. Ich musste mich sehr gut festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und in die Tiefe zu stürzen. Wer hätte mich in diesem einsamen Gebirge gefunden und gerettet?

Nach etwa eineinhalb Stunden erreichten wir ein Camp mit vielen Zelten. Wir hatten die Fahrt lebend überstanden. Obwohl vollkommen unklar war, was nun auf uns zukam und wie lange man uns hier festhalten würde, war ich sehr froh, dass wir nicht mehr in Endabaguna ausharren mussten. Obwohl es schon dunkel war, mussten wir absteigen und uns selbst einen Platz zum Schlafen suchen. Alles, was wir bekamen, war eine Karte, mit der man sich etwas zu essen holen konnte.

Einige von uns wurden direkt am Lkw von ihren Bekannten abgeholt. Ich jedoch wusste nicht, wohin ich gehen sollte, und kannte hier auch niemanden. So lief ich zwischen den Zelten herum und suchte nach Menschen aus meiner Heimatregion. Doch leider fand ich niemanden, und so legte ich mich schließlich unter einen Baum und schlief ein.

Weil die Nacht sehr kalt war und ich entsetzlich fror, war ich am kommenden Morgen schon sehr früh wach, während alle anderen noch schliefen. Wie am vorhergehenden Tag lief ich weiter im Flüchtlingslager herum und versuchte, jemanden zu finden, den ich von zu Hause kennen könnte.

Gegen sieben Uhr morgens stieß ich dann auf eine orthodoxe Kirche und ging hinein, um zu beten. Mit der Zeit kamen immer mehr Menschen in die Kirche. Irgendwann sprachen mich ein Junge und ein Mädchen, die aus meiner Region stammten und die mich erkannten, an. Endlich vertraute Gesichter! Die beiden nahmen mich mit zu ihrem Zelt, und ich durfte bei ihnen schlafen. Wie erleichtert war ich, nicht mehr allein zu sein. Wir unterhielten uns lange. Als das Mädchen ihre Familienfotos hervorholte, erkannte ich auf einem der Bilder einen meiner Cousins.

Es stellte sich heraus, dass auch er in diesem Camp feststeckte. Am nächsten Morgen kam er vorbei, um mich zu sehen, und obwohl er mich nicht gleich erkannte, war die Wiedersehensfreude groß. Er begann sofort, ausführlich über das Camp und seine Erlebnisse hier zu erzählen. Er war etwas älter als ich und berichtete, dass er schon fast zwei Jahre hier sei. Die Entstehung dieses Camps habe er von Anfang an miterlebt. Zu Beginn, so berichtete er, sei auch er im Camp von Endabaguna untergebracht gewesen. Dort sei ihm dieselbe Behandlung wie mir widerfahren: Als das Camp aus allen Nähten geplatzt sei, habe man ihn zusammen mit vielen anderen Menschen an diesen Ort gebracht.

Damals, so erzählte er, lebte hier noch niemand. Es gab nur einen dürren Wald und ein ausgetrocknetes Flussbett. Die äthiopischen Soldaten gaben den eritreischen Flüchtenden einige wenige Baumaterialien, mit denen sie Hütten und Zelte errichten sollten, die am Ende nicht einmal für alle reichten. So schliefen in einem dieser Zelte manchmal mehr als zwanzig Menschen.

Die Flüchtenden lebten hier unter improvisierten Umständen – sich an diesem Ort eine Zukunft aufzubauen, war undenkbar. Viele waren obdachlos oder schliefen in Zelten oder Baracken, in denen sie ganz und gar nicht gegen die Witterung geschützt waren. An eine Arbeit, der die Menschen hätten nachgehen können, oder an eine Schule, die man hätte besuchen können, war nicht zu denken. So saßen die meisten den ganzen Tag lang nur herum, weil sie nichts zu tun hatten.

Das alles machte mir große Sorgen, und ich wusste, dass ich hier unter keinen Umständen bleiben konnte. Ich fragte mich, wo ich denn wohl hingehen müsse, um ein besseres Leben zu finden. Die Berichte meines Cousins machten mich so schwermütig und traurig, dass ich ihn nach einer Weile bat, mit dem Erzählen aufzuhören. Auch wenn all diese Informationen für uns sehr wichtig waren – ich konnte seinen Ausführungen nicht mehr länger zuhören. Wenn dieses Camp wirklich meine Zukunft bedeuten sollte, würde ich lieber sterben, als hier leben zu müssen.

Ich wollte doch nur frei sein! Mein Ziel war es, an einen sicheren Ort zu gelangen, an dem die Menschenrechte gewahrt wurden, an dem ich eine gute Ausbildung machen und glücklich sein konnte. Wie lange würde es dauern, so fragte ich mich, bis diese Wünsche, die wohl jeder Mensch teilte, in Erfüllung gingen?

Selbstverständlich entging es meinem Cousin nicht, dass ich mich schlecht fühlte, und er wollte mir helfen. Deshalb fragte er mich, ob er mir in der kleinen Steinhütte, die er sich gebaut hatte, Obdach geben sollte. Ich willigte ein. In der Hütte war es angenehmer, da sie sich untertags nicht so stark aufheizte wie die vielen Zelte. Ich war dankbar, bei ihm zu sein, und entschloss mich, erst einmal hierzubleiben.

Er teilte sein Essen mit mir, und nachts schliefen wir vor der Hütte, weil es drinnen zu heiß war. Morgens gingen wir gemeinsam zu einer Wasserstelle und holten Wasser. Neben dem Fluss war die Wasserstelle in den Boden gegraben worden, da niemand das Wasser direkt aus dem Fluss trinken wollte. Das durch den Boden gefilterte Wasser füllten wir mithilfe eines Bechers in einen Plastikkanister, den wir wiederum zu unserer Hütte schleppten, wo wir das Wasser an einer Feuerstelle kochten. Das dafür notwendige Feuerholz schlugen wir mit einer Axt aus dem nahe gelegenen Wald. Das fiel mir schwer, weil ich noch sehr geschwächt war. Da wir keine richtigen Schuhe hatten, bohrten sich die Nadeln der Bäume in unsere Sohlen. Dadurch entzündeten sich unsere Füße oft und begannen zu eitern, sodass wir nicht mehr laufen konnten.

Beim Fällen der Bäume kam es immer wieder zu Unfällen, aber die Verletzten konnten nicht medizinisch versorgt werden, weil man selbst in der Krankenstation keine Hilfe bekam. All das erinnerte an das berühmte Buch »Archipel Gulag« des russischen Schriftstellers Alexander Solschenizyn, in dem er das Leben in den Lagern Stalins beschreibt.

Doch nicht nur die Entbehrungen und die tödliche Langeweile, die im Camp vorherrschten, quälten uns – es kam auch immer wieder zu Vergewaltigungen von Mädchen und Jungen. Weil es so heiß war, schliefen die Mädchen wie alle anderen unter freiem Himmel und waren somit ein leichtes Ziel für die Soldaten.

Nach etwa zwei Wochen wachte ich eines Morgens auf und musste plötzlich feststellen, dass mein Cousin nicht mehr da war. Er war weggegangen, ohne mir etwas davon zu erzählen. Erst von anderen Leuten erfuhr ich, dass er versuchen wollte, den Sudan zu erreichen. Wahrscheinlich hatte er Angst, dass ich ihn begleitet hätte, hätte er mir davon erzählt. Und als kleiner Junge wäre ich ihm bei der gefährlichen Flucht wohl nur zur Last gefallen.

Da ich jedoch unter keinen Umständen in diesem Camp bleiben wollte und mich so wie alle hier nach einer besseren Zukunft sehnte, beschleunigte das plötzliche Verschwinden meines Cousins nur noch meinen Drang, von hier fortzukommen und Richtung Sudan aufzubrechen. Ich wusste bereits, dass es in unserem Camp Schlepper gab, die in der Lage waren, die Flucht zu organisieren. Mein Cousin hatte über Verbindungsleute der Schlepper für mich bezahlt, und so konnte ich sicher sein, dass sie mich aus dem Lager bringen und in den Sudan schleusen würden.

Ich möchte davon absehen, dieses System der Geldübermittlung genau zu erklären, da ich niemanden in Gefahr bringen will. Ich möchte nur so viel sagen: Um flüchten zu können, musste ich mich auf Schlepperbanden einlassen. Ich hatte keine andere Wahl. Daran hat sich nichts geändert: Noch heute müssen sich viele Tausende Flüchtende aus Eritrea an Schlepper wenden, um das Land verlassen zu können. Wir tragen keine Schuld an den misslichen und oft gewaltvollen Verhältnissen auf den Fluchtrouten. Wer mit Schleppern reist, zu denen kein familiärer oder freundschaftlicher Kontakt besteht, wird an vielen Stationen der Flucht dazu gezwungen, Verwandte anzurufen, sei es in der Heimat oder im Exil. Diesen Verwandten wird über Verbindungsleute Geld abgepresst.

Gäbe es sichere Wege, Eritrea oder andere Länder, in denen die Menschenrechte verletzt werden, zu verlassen, müsste kein einziger Mensch mehr in der Wüste oder im Mittelmeer sterben. Schleppern, die ihre Macht missbrauchen und Menschen quälen und ihre Familien ausbeuten, wäre sofort jegliche Geschäftsgrundlage entzogen.

Ich will doch nur frei sein

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