Читать книгу Ich will doch nur frei sein - Filimon Mebrhatom - Страница 8

Meine Kindheit

Оглавление

Meine Kindheit verbrachte ich zum größten Teil zusammen mit meinen Eltern zu Hause. Wir hatten ein Haus in Bihat, einem Dorf, das in etwa 2000 Einwohner zählt und unweit der Grenze zwischen Eritrea und Äthiopien liegt. Da die beiden Länder bis vor Kurzem im Kriegszustand waren, kenne ich die Grenze nur geschlossen und unpassierbar.

Die Mehrheit der Einwohner von Bihat ist christlich, es gibt nur wenige Muslime. Verständigungsprobleme zwischen Christen und Muslimen gab es niemals. Rund um unser Dorf gibt es große Weiden und ausreichend Wasser, weswegen die meisten Familien von der Landwirtschaft und der Viehzucht leben. Mein Vater baute auf unseren Feldern Tomaten, Rote Bete, Salat, Kartoffeln und andere Gemüsesorten an. Außerdem hielten wir Kühe, Schafe und Esel.

Bihat besitzt keine Schule und keinen Arzt. Meine Kindheit hindurch machte ich die Erfahrung, dass sich die Menschen im Dorf selbst helfen mussten. Es gab auch keinen Kindergarten, und so war ich bis zum Alter von fünf Jahren meistens mit meiner geliebten Familie zu Hause, auf den Weiden oder auf dem Feld.

Meine Mutter kümmerte sich um mich und beschützte mich. Mit fünf Jahren begann ich schließlich, mit meinem Vater auf den Feldern zu arbeiten und ihm bei der Versorgung unserer Familie zu helfen. Es waren oft schwere Arbeiten, doch ich hatte keine andere Wahl, denn bei uns fand keinerlei Hilfe vonseiten der Regierung statt.

Weil wir in der Nähe der Grenze wohnten, gab es auf den Weiden und Feldern nicht selten umherliegende alte Bomben und Minen. Meine Mutter war deshalb immer in großer Sorge, wenn ich allein unterwegs war. Sie befürchtete, dass ich mit einer Waffe hätte spielen können, die auf den ersten Blick einem Kugelschreiber oder einer Dose glich.

Und tatsächlich: Eines Tages fanden ich und ein anderes Kind beim Spielen im Wald eine große Mine. Wir wussten nicht, was das war, und waren neugierig. Deshalb schlugen wir mit Stöcken auf die Mine, bis sie bedrohlich heiß wurde. Wir bekamen Angst und liefen mit klopfenden Herzen weg, so schnell wir konnten. Das war unser Glück, denn wir hätten die Mine leicht zur Explosion bringen können. Zwei Erwachsene, denen wir unser Erlebnis schilderten, machten die Mine unschädlich – nicht jedoch, ohne uns vorher eindringlich zu ermahnen, so etwas nie wieder zu tun. Meine Mutter, der ich von unserem Erlebnis erzählte, schwor mich ebenfalls darauf ein, solche Gegenstände unter keinen Umständen zu berühren oder gar aufzuheben.

Rasch verstand ich, dass Bomben gefährlich waren, und rannte, so schnell ich konnte, davon, wenn ich etwas entdeckte, was danach aussah. Ich instruierte sehr früh all meine Freunde und versuchte, auch ihnen einzubläuen, was mir meine Mutter gesagt hatte.

Mein Vater stieß beim Umpflügen mit dem Ochsen auch immer wieder auf Bombensplitter. Ich wollte ihm gern bei seiner Arbeit helfen, durfte aber nur dabeisitzen und zuschauen. Die Sorge meines Vaters war zu groß.

Tatsächlich geschah es, dass ein Junge aus einem Nachbardorf eine Bombe fand, die wie ein Stift aussah. Als er damit schreiben wollte, explodierte sie, und er kam ums Leben. Meine Angst wurde danach noch größer, und ich sah auch in harmlosen Dingen Waffen.

Der Krieg war aber nicht nur in Form der herumliegenden Waffen und Minen in unserem Leben präsent, auch Soldaten waren häufig zu sehen.

So kam einmal ein Soldat zu uns, als mein Vater und ich auf dem Feld arbeiteten. Er trieb seine Scherze mit mir und wollte, dass ich mit seinem Gewehr schießen solle. Ich war noch klein und begann zu weinen – doch er setzte sich in den Kopf, dass ich ein Tier aus unserer Herde, das bereits alt und schwach war, erschießen solle. Mein Vater begann, mit dem Soldaten zu streiten. Voller Zorn bespuckte mich der Mann mit Kath – also mit Blättern der Kathpflanze, die viele Menschen in Eritrea kauen, um sich zu berauschen – und verließ unser Feld.

Mein Vater ist Priester – vor ihm sollten alle Respekt haben, auch Soldaten. Die Militärs in Eritrea hingegen erhoben sich über alle Sitten und Gesetze. Ich war damals ungeheuer wütend und fühlte mich ohnmächtig.

Wäre ich groß gewesen, hätte ich dem Soldaten meine Meinung gesagt. Ich wollte für meinen Vater einstehen und das Prinzip der Freiheit verteidigen. Doch ich war klein und schwach.

Mein Vater hatte kein glückliches Leben. Auch ihn wollte der Chef unserer Stadt wie alle anderen zum Dienst an der Waffe zwingen. Aber aufgrund seines Status als Priester war es für die Militärs nicht so einfach wie sonst.

Ich erinnere mich, dass mein Vater in dieser Zeit viel betete. Er musste sich bei den Behörden zum Dienst melden. Aber ihre Rechnung sollte nicht aufgehen: Die Menschen in unserem Dorf protestierten gegen den Militärdienst. Und tatsächlich musste mein Vater nach nur einem Tag wieder freigelassen werden.

Mit seinem Alter von 49 Jahren wäre er für die Armee ohnehin zu alt gewesen, doch in Eritrea interessieren solche Dinge niemanden. In Bezug auf den Militärdienst herrscht mehr oder weniger Gesetzlosigkeit. Wenn er Soldat geworden wäre, hätten wir zu Hause keine Hilfe mehr gehabt. Meine Mutter war zu diesem Zeitpunkt bereits krank und konnte nicht nach draußen gehen. Sie machte sich sehr viele Sorgen um ihn und um uns, ihre Kinder.

Auch ich machte mir in dieser Zeit viele Gedanken und verstand nicht, warum die Armee solch eine große Macht in unserem Land hatte. Ich fragte mich immer wieder, ob mir wohl das Gleiche passieren würde, wenn ich groß war.

Als heranwachsender junger Mensch festigte sich immer mehr meine Überzeugung, wonach alle Menschen in Freiheit leben können sollten – niemand sollte jemals zu etwas gezwungen werden, was er oder sie nicht mochte. Zunehmend verstand ich auch, welche ökonomischen Probleme es in unserem Land gab. Ein großer Teil der Menschen in Eritrea arbeitet in der Landwirtschaft, wovon die meisten Selbstversorger sind oder ihre Produkte auf lokalen Märkten verkaufen.

Doch wenn sie alt werden, wird es häufig immer schwieriger für sie, für sich selbst zu sorgen. Vom Staat bekommen sie keine Unterstützung, deshalb sind alte Menschen auf die Hilfe ihrer Kinder angewiesen. Wer nun aber keine Kinder hat, um den kümmert sich im Alter auch niemand. Das ist der Grund, weswegen nicht wenige Menschen früh sterben – niemand bringt sie ins Krankenhaus oder zahlt für sie, wenn sie krank sind.

In Eritrea gibt es keine Altenheime, in denen alte Menschen betreut werden könnten. Der Staat zahlt auch keine Renten, also fehlt ihnen das Geld, wenn sie nicht mehr arbeiten können. Und selbst diejenigen, die ein halbwegs akzeptables Auskommen haben, finden keine Pfleger, da es diesen Beruf in Eritrea kaum gibt.

Auch behinderte Menschen, die blind sind oder nicht laufen können, können auf keinerlei staatliche Unterstützung zählen. Ein Rollstuhl bleibt für viele ein Wunschtraum. Kranke und Behinderte schlafen deshalb nicht selten irgendwo im Wald oder in Ruinen. Dort verschlimmert sich ihr Zustand – und sie sterben unbemerkt.

Wenn Menschen mit Krankheiten oder Behinderungen das Glück haben, in einer Familie zu leben, fehlt ihnen allerdings häufig die Möglichkeit, am öffentlichen Leben teilzunehmen – sie fristen ihr Dasein also einfach zu Hause.

Menschen mit Behinderung sehen so oftmals keinen Sonnenaufgang oder -untergang, und weil Fernsehen und Internet sehr wenig verbreitet sind, bekommen sie kaum Nachrichten und wissen nicht, was in der Welt vor sich geht.

Diese Mängel betreffen die Bevölkerung in ihrer Gesamtheit, denn die Regierung lässt oft den Strom abstellen. Für viele ist die Kommunikation über Distanzen dann nicht mehr möglich – die Akkus der Handys können schlicht nicht mehr aufgeladen werden. In meinem Heimatdorf Bihat gibt es tatsächlich keinerlei Stromquellen. Um Handys oder Akkus aufzuladen, mussten wir immer in das nahe gelegene Städtchen Senafe laufen.

Fernsehen und elektrisches Licht funktionieren auch nicht mehr, und die Menschen sind darauf angewiesen, sich mit Streichhölzern und Kerzen zu behelfen. Für Menschen, die in Städten leben, sind die geplanten oder pannenhaften Stromausfälle besonders schwierig zu meistern. Sie kochen auf elektrischen Kochplatten und besitzen keinen Holzofen. Kurzum: Es herrscht Mangel am Notwendigsten.

Es kann außerdem vorkommen, dass die Regierung das Leitungswasser sperrt. So geschieht es mitunter, dass in einer bestimmten Woche nur für drei Stunden Trinkwasser zur Verfügung steht. Auch hier ist die Stadtbevölkerung wieder besonders betroffen: Dort gibt es seltener Brunnen, aus denen man sich zusätzlich Wasser holen könnte.

Die Menschen sind dann dazu gezwungen, sich gemeinsam mit ihren Nachbarn für viel Geld Wasser aus einem Tankwagen zu kaufen. Der Mangel an fließendem Wasser in den Städten hat zur Folge, dass viel Wasser aus Plastikflaschen gekauft wird; diese werden anschließend einfach auf die Straße geworfen. Es entstehen große wilde Müllhalden – herumstreunende Hunde und andere Tiere fressen den Müll und verenden oft auf diesen Halden. Aufgrund der Armut wird das Fleisch dieser Tiere trotzdem gebraten und gegessen – ich war oft in Sorge, dass jemand in meinem Umfeld vom Verzehr des verdorbenen Fleisches krank werden könnte. Ich selbst aß kaum Fleisch. Obwohl wir zu Hause selbst Nutztiere hielten und sie schlachteten, verweigerte ich dies meistens. Mir taten die Tiere leid, und ich wollte nicht, dass man sie schlachtete. Weil mein Vater Priester war und es ihm die religiösen Gesetze untersagten zu schlachten, wollte er ursprünglich, dass ich dies tat. Doch ich weigerte mich. Schon als Kind war ich der Überzeugung, dass man Tiere nicht töten sollte.

Ich will doch nur frei sein

Подняться наверх