Читать книгу Ich will doch nur frei sein - Filimon Mebrhatom - Страница 9
Meine Schulzeit
ОглавлениеMeine Eltern konnten mich und meine Geschwister nicht zur Schule schicken, weil die Schule sehr weit weg von unserem Haus war und sie uns nicht bringen konnten. Deshalb hatte ich erst mit acht Jahren die Gelegenheit, zur Schule gehen. Es war die Arbeit mit meinem Vater auf dem Feld, die es mir ermöglichte, etwas Taschengeld für die Schule zu verdienen. Aufgrund der fehlenden Unterstützung durch den Staat ist es in Eritrea bei Weitem nicht für alle Kinder möglich, die Schule zu besuchen. Unsere Regierung lässt die Menschen unseres Landes und speziell die Kinder einfach im Stich.
Ich entschloss mich also, die Arbeit auf dem Feld hinter mir zu lassen und die Schule zu besuchen. Mir wurde bewusst, dass es mir nur auf diese Weise gelingen konnte, eine bessere Zukunft für mich und meine Familie aufzubauen.
Die Schule lag nicht in unserem Dorf, und ich musste jeden Tag weite Strecken zu Fuß zurücklegen, weil ich kein eigenes Fahrrad besaß. Auch gab es bei uns weder einen Schulbus noch Autos, die mich zur Schule gefahren hätten.
Meine Mutter war in meiner Kindheit immer für mich da. Sie war immer nett und liebevoll zu mir. Sie weckte mich jeden Morgen und ermahnte mich, mein Gesicht zu waschen. Da ich meine Mutter respektierte, tat ich das auch. Danach machte sie mir Frühstück, meistens Honigbrote. Dann packte ich meinen Rucksack und trat den Weg zur Schule an.
Auf dem Schulweg sah ich tagaus, tagein, wie die Bauern und Bäuerinnen mit ihren Kindern auf den Feldern schwer arbeiteten. Das beschäftigte mich sehr und machte mich betroffen: Warum, so fragte ich mich, können die Eltern ihren Kindern keinen Schulbesuch ermöglichen? Die Antwort war einfach: Den Familien fehlte das Geld.
Ein Leben lang auf den Feldern zu arbeiten ist sehr hart, und man altert schnell. Viele erkranken früh – doch fehlen Ärzte, die sie versorgen können. Als Kind führte ich viele Gespräche mit Bäuerinnen und Bauern. Sie alle klagten, dass sie von der Regierung keinerlei Unterstützung bekommen würden. So hatten sie keine andere Wahl, als sich auf den Feldern abzurackern. »Wenn wir das nicht tun«, so ihre bittere Erkenntnis, »werden wir einfach verhungern. Denn aus der Stadt können wir nichts erwarten, gar nichts.«
All das machte mich sehr wütend: Wann wird das Leiden der Menschen in Eritrea endlich vorbei sein, fragte ich mich viele Male. Warum gibt es für die armen Bauern keine Hilfe? Ach, so dachte ich oft, wie grausam ist doch das Leben in unserem Land.
Wie wohltuend war es da, die Schule besuchen zu können! Nun konnte ich endlich lernen und musste nicht mehr auf den Feldern arbeiten. Ich war glücklich – und auch meine Mutter spürte, dass ich endlich meinen Interessen folgen konnte. Sie freute sich für mich. Ich gab diese Freude an meine Mutter zurück. »Endlich«, so sagte ich ihr, »kann ich mir eine Zukunft aufbauen, damit ich euch später unterstützen kann.«
Die Lernbedingungen in der Schule waren allerdings alles andere als einfach: Wir waren fünfundsiebzig Kinder in einer Klasse, aus vielen verschiedenen Dörfern der Umgebung. Unterrichtet wurden wir von vier verschiedenen Lehrern. Wir lernten Mathe, Geschichte, Englisch und meine Muttersprache Tigrinya – kein leichtes Unterfangen bei so vielen Kindern.
Obwohl ich die Zeit in der Schule sehr genoss, machte ich auch schmerzhafte Erfahrungen: Da ich von Beginn an sehr gut in der Schule war und alle Aufgaben problemlos meisterte, begannen einige der anderen Schüler, mich zu hänseln. Sie wollten mich ausnutzen und drängten mich, sie bei mir abschreiben zu lassen, was die Lehrer immer verhindern wollten.
Außerdem ernannten sie mich gegen meinen Willen zum Klassensprecher. Ich widersetzte mich, doch meine Lehrer zwangen mich in diese Position. Sie waren richtiggehend gewalttätig, schlugen mich mit einem Stock auf meine Hände und zogen mich an den Ohren.
Meine Aufgabe bestand darin, Namenslisten anzulegen und Anwesenheitskontrollen durchzuführen. Ich sollte melden, falls jemand den Unterricht schwänzte. Ich hatte Angst vor den größeren Kindern und ließ sie immer wieder gehen, ohne die Eintragungen zu machen, die mir aufgetragen worden waren. Oft meldete ich alle Schüler als »anwesend«, um sie vor den Lehrern zu schützen.
Eines Tages passierte es, dass der Direktor die Anwesenheitsliste persönlich kontrollierte. Meine Schummelei flog auf, und man drohte mir Schläge an. Ich lief weinend nach Hause zu meiner Mutter.
Nach diesem Vorfall flehte ich meine Mutter an, mich in eine andere Schule zu schicken; doch in Eritrea kann man nicht einfach so die Schule zu wechseln. Ich lernte damals, dass man kämpfen musste, wenn man etwas im Leben erreichen wollte.
Ein weiteres Problem war, dass die Lehrerinnen und Lehrer unserer Schule ihren Job oft nach kurzer Zeit aufgaben. Der Grund war, dass ihre Bezahlung miserabel war. Sie bekamen monatlich nur 400 Nakfa bezahlt, was heute rund 24 Euro entspricht. Mit diesem mageren Gehalt konnten sie sich nicht mal ihr Essen leisten oder die Fahrtkosten zur Schule bezahlen.
Einige Lehrer kamen aus anderen Städten, zum Beispiel aus der Hauptstadt Asmara. Sie hatten es sich nicht ausgesucht, in unserer Kleinstadt zu unterrichten; vielmehr waren sie von der Regierung hierher zugeteilt worden. Wenn einer unserer Lehrer nicht kam, sperrte man uns nicht selten einfach in unserem Klassenraum ein, bis endlich ein anderer Lehrer auftauchte und uns Unterricht gab. Die Lehrer waren nicht nur mit ihrem Gehalt unzufrieden, sondern auch mit der eritreischen Regierung im Allgemeinen.
Eines Tages, es war im Jahr 2013, waren die Konsequenzen aus dieser misslichen Lage besonders dramatisch: Ich erschien wie immer um acht Uhr morgens in der Schule. Doch diesmal kam kein Lehrer zu uns – man sperrte uns einfach bis zur Mittagszeit im Klassenzimmer ein. Danach erfuhren wir, dass acht Lehrerinnen und Lehrer unserer Schule einfach ohne Vorankündigung weggegangen und nach Äthiopien geflüchtet waren.
Dieses Ereignis löste bei mir gemischte Gefühle aus: Einerseits war ich sehr traurig, dass diese Lehrer nicht mehr bei uns waren. Andererseits freute ich mich für sie, denn es war ihnen geglückt, aus Eritrea zu fliehen.
Der plötzliche Aderlass an Lehrern hatte zur Folge, dass der Schulbetrieb nicht mehr ordentlich funktionierte. Für westliche Verhältnisse ist dies schwer vorstellbar – doch ich blieb danach einfach ein halbes Jahr zu Hause und ging nicht zur Schule. Dadurch litten natürlich meine Lernfortschritte enorm.
Warum, so fragte ich mich viele Male, war das Leben der Menschen in Eritrea so schlecht? Was war die Ursache für das Unglück und den Schmerz, den ich so oft in ihren Gesichtern gesehen hatte? In dieser Zeit wurde mir immer klarer, dass auch ich innerlich verkümmern würde, wenn ich mein Leben lang in Eritrea blieb.
Nach dem Schulunterricht ging ich immer sofort nach Hause, denn es war meine Aufgabe, den restlichen Tag über die Tiere unseres Bauernhofes zu hüten. Meistens musste ich mit ihnen in den Wald gehen. Das war keine leichte Aufgabe, denn als Kind hatte ich Angst vor wilden Tieren. Diese Angst war nicht unbegründet – bei uns gibt es äußerst gefährliche Giftschlangen. Da uns im Dorf Medikamente fehlten, konnte ein Biss tödlich sein.
Je mehr Zeit verging, desto hoffnungsloser und trauriger wurde ich. Ich fragte mich, wie mein Leben wohl weiterverlaufen würde. Es war mir inzwischen klar, dass es in meinem Dorf keine Hoffnung und keine Perspektive für mich gab.