Читать книгу Ich will doch nur frei sein - Filimon Mebrhatom - Страница 7

Der Überfall durch die eritreische Armee im Sommer 2010

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An diesem Tag wachte ich wie jeden Morgen auf, doch als ich auf dem Weg zur Toilette war, spürte ich, dass etwas nicht in Ordnung war. Durch Spalte in unserer Haustür konnte ich das Licht von Taschenlampen in der Dämmerung erkennen.

Plötzlich klopfte jemand mit schweren Gegenständen heftig an unsere Haustür. Sofort schlugen die Hunde an. Ich wusste sogleich, dass es sich um Soldaten der eritreischen Armee handeln musste. Im Normalfall wären wir alle weggelaufen, aber dafür war es jetzt zu spät.

Ich hatte große Angst vor dem, was nun passieren würde, und wusste nicht, wo ich mich verstecken sollte. In Panik lief ich zurück zu meinem Bett und zog mir die Decke über den Kopf. Meine Mutter war zu diesem Zeitpunkt krank und konnte nicht aufstehen. Das Klopfen, das Bellen der Hunde und das Trampeln der Tiere hatten sie aber alarmiert, und sie rief mir zu, ich solle die Tür öffnen. Dazu hatte ich aber zu viel Angst. Obwohl meine Mutter in einem schlechten Zustand war, stand sie auf, stützte sich an der Wand ab und erreichte bald die Tür.

Kaum hatte sie diese ein kleines Stück weit geöffnet, wurde die Tür brutal aufgestoßen. Meine Mutter fiel zu Boden, und die Soldaten stürmten in unser Haus. Die Tiere – wir hatten zwei Ochsen, zwei Esel, ein Kalb und in etwa sechzig Schafe – gerieten in Panik und liefen über meine Mutter hinweg nach draußen. Mit ihren Waffen im Anschlag stürmten die Soldaten sämtliche Zimmer unseres Hauses.

Sie kamen auch in das Zimmer, in dem ich und meine Geschwister schliefen. Ich hörte meine kleine Schwester, sie war gerade sechs oder sieben Jahre alt, neben mir weinen. Meine Geschwister waren noch zu klein, als dass sich die Soldaten für sie interessiert hätten. Stattdessen kamen sie direkt zu meinem Bett und entrissen mir die Decke. Ich drückte mein Gesicht tief in die Matratze – unter allen Umständen wollte ich vermeiden, ihnen ins Gesicht sehen zu müssen. Ihre Waffen machten mir furchtbare Angst. Der Soldat, der als Erstes in unser Zimmer eingedrungen war, stieß mich mit dem Fuß an und forderte mich auf aufzustehen.

Zunächst konnte ich mich vor lauter Angst nicht bewegen. Erst als er mich mit einem Stock brutal auf den Rücken schlug, stand ich auf. Ich hatte nur eine Unterhose an. So, wie ich war, fesselten sie meine Hände auf dem Rücken. Barfuß musste ich mein Zimmer verlassen. Ich wurde an meiner Mutter vorbeigeführt, die immer noch am Boden lag. Gern hätte ich ihr geholfen und sie wieder ins Bett gebracht – doch daran war nicht zu denken. All das war grauenvoll für mich. Tränen rollten über meine Wangen. So brachten sie mich nach draußen. Ich war es nicht gewohnt, ohne Schuhe zu laufen, und die Nadeln der Bäume, die am Boden lagen, bohrten sich in meine Fußsohlen.

Ich war elf Jahre alt.

Und ich war bei Weitem nicht der Einzige, der diese Gewalt über sich ergehen lassen musste. Im Morgenlicht sah ich, wie die Soldaten, es waren etwa dreißig oder gar vierzig, viele andere Menschen aus ihren Häusern holten. Die Frauen schrien und weinten, weil sie verhindern wollten, dass ihre Kinder und Männer in den Krieg geholt wurden. Viele von denen, die man an diesem Morgen mitnahm, sind nie wieder zurückgekehrt.

Ich hätte gern selbst bestimmt, wie meine Zukunft aussah, durfte das aber nicht. Auch meine Familie wurde nicht gefragt. Die Soldaten entscheiden bei solchen Überfällen selbst, wen sie mitnehmen und wen sie unbehelligt lassen.

Ich war wütend und fassungslos: Der eritreische Staat hatte sich nie um mich gekümmert. Er machte keine Anstalten, den Kindern seines Landes kostenlose Schulen zur Verfügung zu stellen. Meine geliebte Mutter war es, die sich immer um mich gekümmert und die trotz der mageren Mittel, die sie besaß, alles dafür getan hatte, dass ich zur Schule gehen konnte. Und nun sollte ich einen Militärdienst von unabsehbarer Länge absolvieren, bei dem ich nicht wusste, ob ich dabei mein Leben lassen würde? Ich wollte mit der Armee nichts zu tun haben und sah nicht ein, warum ich gezwungen werden sollte, Menschen zu töten.

Die Gewalthandlungen nahmen ihren Lauf. Alle Menschen wurden gefesselt auf einem Feld in Bihat zusammengetrieben. Wir waren etwa fünfzig bis sechzig Leute. All das geschah ganz in der Nähe unserer Getreidefelder und unserer Scheune. Hier mussten wir erst einmal warten.

Inzwischen war die Sonne aufgegangen und brannte auf uns herunter. Ich war sehr durstig, durfte aber niemanden um Wasser bitten. Alles um uns herum war trocken, meine Haut brannte, meine Zunge klebte an meinem Gaumen. So lange gefesselt zu sein war schmerzhaft, und so bat ich einen Soldaten, meine Fesseln zu lockern. Doch er hörte mir nicht einmal zu. Sie bildeten mit ihren Waffen einen Kreis um uns, sodass niemand weglaufen konnte.

Dann kamen fünf von ihnen auf uns zu und fragten uns nach unseren Pässen. Letztlich war es ihnen aber egal, ob man einen Pass hatte oder nicht – der Befehl war reine Schikane. Ich selbst hatte noch nie einen Pass besessen. Die Soldaten hätten wissen müssen, dass ich als kleiner Junge von elf Jahren in Eritrea keinen Pass hatte. Um mich zu testen, holte einer der Soldaten mich dennoch aus der Menge und löste meine Fesseln. Er wollte, dass ich sein Gewehr hochhob, aber dafür war ich zu schwach.

In diesem Moment hasste ich mein Leben.

Als er merkte, dass ich das Gewehr nicht halten konnte, lachte er mich einfach aus. Daraufhin ließ er mich laufen.

Auch andere, die man für den Militärdienst als nicht geeignet ansah, wurden wieder weggeschickt. Die Soldaten schlugen viele der Ausgemusterten. Ihre Familien, die aus Sorge mit auf das Feld gekommen waren, mussten all das beobachten und konnten nichts dagegen tun.

Ich lief sofort zu meiner Mutter nach Hause und war in großer Sorge, dass sie sich durch den Überfall und den Sturz schwer verletzt haben könnte. Zum Glück war sie in der Zwischenzeit schon von anderen Dorfbewohnern entdeckt und zurück in ihr Bett gebracht worden.

Als ich zu ihr gelangte, musste ich mit Schrecken feststellen, dass ihre Hand gebrochen war. Sie hatte große Schmerzen. Ich wollte ihr helfen, wusste aber nicht, was ich tun sollte. Der nächste Arzt war weit entfernt, und es gab niemanden, der sie dorthin hätte bringen können.

Es gab im ganzen Dorf kein Auto. Ich hatte auch keine Möglichkeit, telefonisch Hilfe zu rufen, weil es im Dorf ja weder Telefonleitungen noch Internet gab. Auch so etwas wie einen Rettungsdienst gab es in meinem Dorf nicht. Ich fühlte mich schrecklich, weil ich meiner Mutter nicht helfen konnte, und machte mir große Sorgen, dass sie sterben könnte. Ein Leben ohne sie konnte ich mir nicht vorstellen.

Normalerweise brachte man Kranke aus unserem Dorf mit einer selbst gebauten Trage zum nächsten Arzt oder ins Krankenhaus. Das hätte ich gern gemacht. Doch Männer zu finden, die mir hätten tragen helfen können, war unmöglich: Alle Männer waren von den Soldaten zusammengetrieben und gefesselt worden.

Ich war verzweifelt.

Schließlich setzte ich mich einfach zu meiner Mutter ans Bett und litt mit ihr. All das war sehr schwer für mich. Ich wollte meine Mutter aber auf keinen Fall allein lassen. Mehr, als bei ihr zu sein, konnte ich nicht tun.

An diesem Tag musste ich von einem Moment auf den anderen schmerzlich feststellen, dass sich meine Mutter nicht mehr um mich kümmern konnte. Ich merkte, dass ich noch nicht gelernt hatte, die einfachsten Handgriffe selbstständig auszuführen. Ich wollte für meine Mutter Kaffee kochen, schaffte es aber nicht mal, ein Feuer anzuzünden. Strom gab es im ganzen Dorf nicht. Alles wurde mit Feuer gemacht. Als meine Augen vom vielen Qualm tränten, verstand ich, wie schwer und mühselig die Arbeit der eritreischen Frauen war. Bisher hatte ich mich nie darum gekümmert.

Schließlich fasste ich einen Entschluss: Mit meinem Fahrrad fuhr ich zu einer Freundin meiner Mutter und bat sie, mir zu helfen. Auch sie war verzweifelt und am Boden zerstört, da die Soldaten ihre Kinder in derselben Nacht mitgenommen hatten. Als ich ihr aber berichtete, dass meine Mutter beim Überfall der Soldaten verletzt worden war, entschloss sie sich kurzerhand mitzukommen.

Als wir daheim ankamen, ließ ich sie mit meiner Mutter allein und machte mich auf die Suche nach unseren Tieren, nach den Kühen, Schafen und Eseln. Diese Aufgabe kam mir entgegen, denn ich brauchte nach den schrecklichen Ereignissen der letzten Nacht Abstand, um einen klaren Kopf zu bekommen.

Die Tiere waren weit über das Dorf verstreut, und es dauerte lange, um sie alle zu finden. Das alles war sehr belastend für mich. Ich brauchte den ganzen Vormittag und den halben Nachmittag, um die Tiere wieder einzufangen.

Als ich sie endlich allesamt gefunden hatte, brachte ich sie zurück nach Hause. Mittlerweile ging es meiner Mutter zum Glück wieder etwas besser. Doch ihr Handgelenk war stark geschwollen und bereitete ihr bei jeder Bewegung Schmerzen. Nach ein paar Tagen war sie zwar wieder stark genug, um laufen zu können, aber auch jetzt konnten wir ihr Handgelenk nicht behandeln lassen. Alle Ärzte, die für uns erreichbar gewesen wären, hätten ihr nicht helfen können. Sie hätten uns mit Sicherheit an ein Krankenhaus in Asmara weiterverwiesen, um dort eine Operation vorzunehmen.

Aber das war nicht möglich – denn allein hätte sie den weiten Weg nicht geschafft, und ich durfte sie nicht begleiten, da man in Eritrea nicht frei reisen darf. Als Schüler ohne Pass hätte ich nicht nach Asmara fahren können. In Eritrea führt die Armee häufig Straßenkontrollen durch, die an beliebigen, oft wechselnden Streckenabschnitten stattfinden. In der nahe gelegenen Stadt Senafe gibt es hingegen fixe Kontrollen.

Selbst wenn man einen Reisepass hat, darf man nicht überall hin. So ist es auch nicht einfach, in die Stadt Teseney, die im Osten des Landes an der Grenze zum Sudan liegt, zu reisen. Viele Menschen versuchen, über Teseney das Land zu verlassen. Ob man frei reisen darf oder nicht, hängt vom Gutdünken des Militärs ab.

Kurzum: Es gab nichts, was wir tun konnten. Ich habe das Essen meiner Mutter immer sehr gemocht; nun, mit der verletzten Hand, konnte sie leider nicht mehr kochen.

Ihre Hand ist nie wieder richtig geheilt. Meine Mutter hat in ihrem Leben nie Geld verdient, sondern sich nur um die Familie gekümmert. Wir haben uns mit dem Ertrag unserer Felder und den Tieren selbst versorgt. Deswegen war auch kein Geld für eine Operation da.

Nach dem Überfall brach eine dunkle Zeit für mich an. Die viele Arbeit mit den Tieren war sehr schwer für mich. Obwohl ich meine Mutter nicht allein lassen wollte, musste ich nun täglich mit unseren Tieren zusammen mit einem Hirtenhund nach draußen.

Von unseren Nachbarn war keine Hilfe zu erwarten. Jeder versuchte zurechtzukommen und kümmerte sich um sich selbst. Die eritreische Diktatur hat das soziale Miteinander zerrüttet. Es kam immer wieder zu Denunziationen. Denn wenn jemand im Dorf oder in der Nachbarschaft davon erfuhr, dass jemand Fluchtpläne hegte, war es ein Leichtes, das Militär darüber in Kenntnis zu setzen.

Ich hatte noch nie als Schäfer gearbeitet, und ich wollte das eigentlich auch nicht. Ich tat es aus Verantwortungsbewusstsein meiner Familie gegenüber. Mein Traum war es eigentlich immer, Kameramann zu werden. Doch dazu später ...

Mehr und mehr hatte ich den Eindruck, dass sich die Lage in Eritrea zunehmend verschlechterte. Seit meiner Geburt hatten sich die Lebensbedingungen in dieser Diktatur verschärft. Gern hätte ich etwas in meinem Heimatland verändert, aber ich sah keine Möglichkeit, Entscheidungen über die Zukunft Eritreas oder auch nur über mein eigenes Leben treffen zu können.

Wenn ich ein besseres Leben haben will, so sagte ich mir, werde ich nicht umhinkommen, das Land zu verlassen. Bis ich mich tatsächlich zu diesem Schritt entschloss, sollte aber noch einige Zeit vergehen.

Ich will doch nur frei sein

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