Читать книгу Ich will doch nur frei sein - Filimon Mebrhatom - Страница 12
Aufbruch Richtung Sudan
ОглавлениеBereits wenige Tage, nachdem mein Cousin aufgebrochen war, holten die Schlepper abends, als es dunkel wurde, alle Menschen, die weggehen wollten, heimlich aus dem Camp und sammelten sie zunächst in einem tiefen trockenen Flussbett, das man durch die vielen darin wachsenden Sträucher nicht einsehen konnte. Wir waren insgesamt an die 200 Menschen.
Als alle da waren und es völlig dunkel war, gingen wir los. Wir liefen in zwei Reihen durch den dichten Wald, um nicht gesehen zu werden. Alle wurden angewiesen, absolut leise zu sein. Ohne zu zögern, schlugen die Schlepper alle, die aus der Reihe traten oder miteinander sprachen. Das Unterholz war sehr dicht, sodass wir immer wieder Äste ins Gesicht bekamen oder in Dornenbüschen hängen blieben, bis wir völlig zerkratzt waren. Die Nadeln der Bäume bohrten sich in unsere Füße.
Nach ungefähr einer Stunde erreichten wir einen Lkw, der auf der gegenüberliegenden Seite eines Flusses versteckt war. Um ihn zu erreichen, mussten wir zuerst den Fluss durchqueren. Obwohl uns die Schlepper gesagt hatten, dass dieser nicht tief sei, fürchteten sich viele von uns vor dem schnell fließenden Wasser.
Ich konnte ja nicht schwimmen, und allein das Geräusch des Wassers machte mir Angst. Weil ich mich zunächst weigerte, in den Fluss zu gehen, packte mich einer der Schlepper einfach an der Hand und zog mich hinein.
Das Wasser reichte mir bis zum Oberschenkel, und ich schaffte es, das andere Ufer sicher zu erreichen. Dort mussten wir alle auf den Lkw klettern. Der obere Teil der Ladefläche war mit Baumstämmen beladen, unter denen nur ein kleiner Raum von ungefähr eineinhalb Metern Höhe blieb. In diesen mussten wir uns dicht aneinandergedrängt setzen. Als alle eingestiegen waren, wurde die Lücke mit weiteren Baumstämmen verschlossen. Planen und Spanngurte hielten die Baumstämme an ihrem Platz.
Wir saßen in Reihen Rücken an Rücken mit dem Vordermann und hielten uns, so gut es ging, fest. Dennoch stießen sich viele den Kopf an und trugen Beulen davon. Wir konnten kaum atmen und versuchten, uns Luft zuzufächeln. Immer wieder wurden Menschen während der Fahrt ohnmächtig.
Wir konnten natürlich nicht sehen, wohin wir fuhren, wussten nicht einmal die Himmelsrichtung. Alle hatten große Angst, nach Eritrea zurückgebracht zu werden. Unser Ziel war jedoch der Sudan. Wir waren dazu verdammt, den Schleppern zu vertrauen.
Wir fuhren die ganze Nacht hindurch. Um vier Uhr morgens, als es noch dunkel war, hielten wir an. Man gab uns die Anweisung, schnell und möglichst unauffällig in einen Bus umzusteigen. Für einen kurzen Moment konnten wir durchatmen und spürten wieder Leben in uns. Die Schlepper befahlen uns, uns zu beeilen – niemand durfte uns beobachten.
Auch in diesem Bus war es sehr eng und warm. Die Vorhänge waren zugezogen, und wir durften die Fenster nicht öffnen, damit uns niemand sehen konnte. Wer es trotzdem tat, wurde von den Schleppern umgehend mit einem Stock geschlagen.
So fuhren wir bis zum Nachmittag, bis wir schließlich auf eine Straßenkontrolle stießen. Die Straße war mit einer Schranke versperrt. An der Seite der Straße, im Schatten, saßen Wachposten mit Gewehren.
Wir bekamen die Anweisung, unsere Köpfe geduckt zu halten und still zu sein, sonst, so sagten die Schlepper, würden wir alle sterben.
Dann plötzlich geschah das Unfassbare: Der Fahrer stieg unvermittelt und ohne dass wir auch nur im Geringsten damit gerechnet hatten, mit voller Kraft auf das Gaspedal und durchbrach so die Schranke. Die Grenzwachen begannen, sofort zu schießen. Unzählige Kugeln durchschlugen den Bus – der Lärm war ohrenbetäubend. Wir gerieten in Panik. Neben mir wurden Menschen von den Kugeln zum Teil schwer verletzt. Nichtsdestotrotz raste der Busfahrer in etwa eine Stunde lang weiter und achtete nicht auf die Schmerzensschreie der Verletzten.
Es war eine wirklich apokalyptische Fahrt.
Schließlich hielten wir an einem Waldstück, wo schon zwei Männer auf uns warteten. Wir mussten wiederum schnell aussteigen und den Männern in den Wald folgen. Der Bus fuhr weiter, die Verletzten hingegen wurden einfach an der Straße zurückgelassen. Man überließ sie schlichtweg ihrem Schicksal. Auch im Wald drängten uns die Schlepper zur Eile. Wir waren verängstigt und panisch – viele stolperten über Wurzeln oder Äste.
Nach einer Viertelstunde erreichten wir ein Versteck in einer Senke. Wir hatten auf dem ganzen bisherigen Weg weder gegessen noch getrunken und waren sehr durstig, doch es gab hier kein Wasser. Die Schlepper sagten uns, dass wir hier warten sollten, und ließen uns allein. Sobald sie weg waren, machten wir uns auf die Suche nach Wasser, aber wir fanden nur eine alte Viehtränke mit verschmutztem Wasser.
Uns blieb nichts anderes übrig, als uns damit zufriedenzugeben. Als es dunkel wurde, kamen die Schlepper zu unserer Überraschung mit drei Traktoren und Anhängern zurück. Damit fuhren wir auf steilen und holprigen Waldwegen weiter. Wir wurden von den Ästen der Bäume geschlagen, und immer wieder fielen Menschen hinunter. Dann wurde angehalten, bis alle wieder aufgestiegen waren. So fuhren wir bis drei Uhr morgens. Schließlich mussten wir wieder absteigen und zu Fuß weiterlaufen. Wir waren alle durstig und müde, durften aber keine Pause machen. Vor lauter Hunger begannen wir, Früchte von den Bäumen zu pflücken, die wir nicht kannten. Die Früchte waren trocken und verschlimmerten unseren Durst nur noch mehr.
Ich hatte meine Schuhe auf dem Weg verloren und lief nur mit meinen Socken. Die Steine und der Boden waren sehr heiß, und meine Füße taten weh. Streckenweise konnte ich nur noch auf einem Bein hüpfen. Gegen zehn Uhr morgens erreichten wir eine Ruine, in der wir uns den ganzen Tag über verstecken mussten.
Als die Schlepper gegangen waren, machten wir uns wieder sofort auf die Suche nach Wasser. Manche Menschen wurden vor Durst ohnmächtig. Meine Lippen waren aufgesprungen. Die Zunge klebte an meinen Gaumen. Nach zwanzig Minuten Suche fanden einige von uns eine Wasserstelle. Dort war ein Hirte, der ihnen einen Kanister lieh. Damit gelang es ihnen, das Wasser zur Ruine zu transportieren. Den Menschen, die ohnmächtig geworden waren, goss man etwas Wasser aufs Gesicht. Ihre Körper waren schon furchtbar heiß. Das Wasser half ihnen, wieder zu Kräften zu kommen.
Doch die Verschnaufpause nahm ein jähes Ende: Der Hirte, der uns zuvor noch geholfen hatte, hatte die Armee verständigt – und so sahen wir uns plötzlich einer Gruppe von äthiopischen Soldaten gegenüber, die uns sofort festnahmen. Wir versuchten zu fliehen – alle liefen in unterschiedliche Richtungen davon.
Die Soldaten eröffneten daraufhin das Feuer und verletzten viele von uns. Andere, die sich wegen der Schüsse auf den Boden geworfen hatten, wurden sofort festgenommen. Insgesamt schnappten die Soldaten neunundzwanzig von uns. Auch ich wollte weglaufen, wusste aber nicht, wohin. Außerdem hatte ich nicht genug Kraft und wurde ebenfalls festgenommen.
Die Soldaten banden uns die Hände hinter dem Rücken fest und nahmen uns Gürtel und Schuhe weg. So war jeder weitere Fluchtversuch unmöglich. In diesem Zustand mussten wir zu einem verlassenen Dorf laufen. Der Boden war sehr heiß und verbrannte meine bloßen Füße. Ich hatte mich an Steinen und Dornen verletzt, sodass meine Füße nun auch bluteten.
Ohne Gürtel rutschte meine Hose ständig nach unten. Mit nach hinten gefesselten Händen war es unmöglich, sie festzuhalten. Aus diesem Grund musste ich die ganze Zeit gebeugt laufen, um zu verhindern, dass sie ganz nach unten rutschte. Obwohl ich meine Hände kaum bewegen konnte, versuchte ich, in die Gesäßtaschen zu greifen und die Hose festzuhalten.
Der Weg war sehr beschwerlich, und mein Durst verschlimmerte sich immer weiter. Nach etwa einer Stunde erreichten wir ein Dorf mit einfachen Lehmhütten. Dort gab es einige Fässer mit altem Wasser, das die Hirten zurückgelassen hatten. Es war dreckig, doch wir hatten keine andere Wahl, als aus diesen Fässern zu trinken.
Weil mir die Hände noch immer auf den Rücken gefesselt waren, versuchte ich, die oberste Schicht Dreck zur Seite zu blasen und direkt aus dem Fass zu trinken. Die Mädchen aus unserer Gruppe, deren Hände nicht gefesselt worden waren, halfen uns, indem sie mir und den anderen Wasser ins Gesicht und über die Kleidung spritzten. Das kühle Wasser linderte unsere Schmerzen ein wenig. Als alle getrunken hatten, liefen wir noch einige Minuten weiter, bis wir eine Straße erreichten. Dort wartete bereits die Polizei mit einem Kleinbus auf uns.
Einem Mann aus unserer Gruppe gelang es, sich während des Einsteigens an die Seite zu drängen und wegzulaufen. Obwohl die Soldaten sofort auf ihn schossen, schafften sie es nicht, ihn zu treffen – er lief zickzack und warf sich immer wieder auf den Boden. Außerdem war es bereits etwas dämmrig. Wir taten unser Möglichstes, um die Soldaten vom Schießen abzuhalten, doch sie hörten nicht auf uns. Nach einer Weile erreichte der Flüchtende eine Senke und konnte dadurch entkommen.
Wir waren erschüttert und standen wie gelähmt da. Es blieb uns nicht anderes übrig, als den Befehlen der Soldaten Folge zu leisten und wieder in den Bus zu steigen. Es sprach sich herum, dass wir nun in ein Gefängnis in Gondar, der zweitgrößten Stadt Äthiopiens, gebracht werden sollten. Somit war mein erster Versuch, den Sudan zu erreichen, gescheitert.
Um sieben Uhr abends erreichten wir schließlich Gondar. Dort erwartete uns bereits die nächste böse Überraschung: Denn anstatt uns ins Gefängnis zu werfen, versuchten die Polizisten unverhohlen, uns an andere Schlepper zu verkaufen. Aber sie sollten sich damit verkalkulieren. Es stellte sich heraus, dass sie einen zu hohen Preis veranschlagten – der Schlepper, mit dem die Polizisten verhandelten, weigerte sich, die geforderte Summe zu zahlen.
Stattdessen riet er uns, in einem unbemerkten Moment wegzulaufen, damit sie uns später in der Stadt finden konnten. Da aber überall Polizisten mit Waffen standen, konnte zunächst niemand fliehen. Wenn nur jemand einen Schritt zur Seite machte, wurden sofort die Waffen entsichert. Jeder, der versucht hätte wegzulaufen, wäre sofort erschossen worden.
In der Zwischenzeit war der Schlepper in einen erbitterten Streit mit dem Polizisten geraten. Nach langem Hin und Her brachte man uns letztendlich doch ins Gefängnis. Die Polizisten waren wütend, weil sie nichts verdient hatten, und ließen ihre Wut an uns aus. Viele von uns wurden geschlagen. Die drei Mädchen, die bei uns waren, wurden von uns getrennt, während man die Männer und Jungen ins Gefängnis brachte.
Dort saßen wir nun unter verurteilten Verbrechern und Mördern. Das Gefängnis war überfüllt, und wir mussten über viele Menschen, die auf dem Boden saßen, steigen. Es stank ganz fürchterlich und statt Toiletten gab es nur Plastikkanister, die vor Urin und Fäkalien überquollen.
An diesem Abend bekamen wir nichts zu essen. Die einheimischen Gefangenen bekamen ihr Essen von ihren Familien, aber diese teilten nicht mit uns. Allein der Geruch des Essens verschlimmerte unseren Hunger noch weiter. Wir erkundigten uns, ob man irgendwo etwas zu essen organisieren könne, mussten aber hören, dass man nichts bekam, wenn man keine Familie hatte, die einen unterstützte. Aus Verzweiflung kauften wir den anderen Gefangenen mit dem Geld, das wir noch übrig hatten, eine Schüssel mit Essen ab. Dieses Essen bestand aus Resten, die vom Boden aufgesammelt worden waren. Es war verdreckt und sicher nicht gesund, doch wir aßen es trotzdem.
In dem Raum, in dem wir gefangen gehalten wurden, gab es kein Licht, weswegen einige Männer Kerzen angezündet hatten. Das machte die ohnehin stickige Luft in dem Raum noch unerträglicher.
Mir war enorm heiß – all diese Dinge wurden mir viel zu viel.
Irgendwann konnte ich kaum noch atmen. Die anderen machten sich deswegen große Sorgen um mich und fächelten mir Luft zu. Als es mir immer schlechter ging, trommelten sie gegen die Tür und versuchten, die Wärter um Hilfe zu bitten. Die Wärter kamen zwar – doch statt mir zu helfen, entsicherten sie nur ihre Waffen und bedrohten uns.
Wir hätten ihnen viel Geld zahlen müssen, das wir nicht hatten, damit sie geholfen hätten. Gegen Mitternacht ging es mir wieder etwas besser, und wir lehnten uns zum Schlafen gemeinsam an die Wand – denn am Boden fanden wir keinen Platz mehr.
Mitten in der Nacht schreckte ich mit einem Mal hoch – mit Entsetzen stellten wir fest, dass jemand die Kleider eines Flüchtenden, der mit uns hier angekommen war, durchsuchte. Sofort war uns klar, dass es andere Gefangene waren, die uns bestehlen wollten.
Wir hatten unser Geld vorsorglich in einem sicheren Versteck in unseren Unterhosen vernäht. Der Mann, der angegriffen wurde, stieß die Diebe fort – dadurch kam es im Handumdrehen zu einem brutalen Streit.
Wir waren hoffnungslos in der Unterzahl und wurden von den anderen überwältigt. Viele von uns wurden geschlagen. Ein Junge wurde sogar mit einem Messer schwer verletzt. Durch unsere Schreie und den Tumult wurden die Wärter aufmerksam und öffneten die Türen. Ohne lange zu fackeln, schossen sie mit ihren Gewehren in die Decke.
Sofort war es still. Natürlich hatten sie keinerlei Interesse daran, zu erfahren, was eigentlich passiert war. Die restliche Nacht standen wir alle mit dem Rücken zur Wand, um sofort zu sehen, ob ein weiterer Angriff drohte. Den Jungen, der mit dem Messer verletzt worden war und der stark blutete, versuchten wir mit zerrissenen Kleidungsstücken zu verarzten.
Statt meine Flucht fortsetzen zu können, um endlich frei zu sein, saß ich nun also in einem äthiopischen Gefängnis, zusammengepfercht mit gewöhnlichen Dieben und Verbrechern, vor deren Gewaltbereitschaft wir nicht sicher waren. Hätte ich damals geahnt, dass das erst der Anfang meiner Odyssee sein sollte, hätte ich vielleicht davor zurückgeschreckt, Eritrea zu verlassen. Aber welche Wahl hatte ich denn? Sollte ich mein ganzes Leben in der eritreischen Diktatur fristen? Die Qualen der Flucht waren schlimm, doch beim eritreischen Militärdienst traumatisiert zu werden oder gar zu sterben, war keine lockendere Vorstellung.
Am Morgen um sechs Uhr brachte man uns dann nach draußen. Die Gefangenen stellten sich in einer Reihe an, um Frühstück zu bekommen. Wir aber wussten nicht, wo genau wir uns anstellen sollten, und standen nur vor der Tür, weshalb uns bereits die nächsten Schläge von den Wärtern drohten.
Der verletzte Junge lag noch immer im Inneren des Gefängnisses. Es ging ihm sehr schlecht. Er hatte große Schmerzen, und er konnte nicht laufen. Zwei von uns mussten ihn nach draußen tragen.
Die anderen Gefangenen, die um uns herumstanden, lachten uns nur aus und spuckten auf unser Essen. Das trockene Brot und der Tee, den wir bekamen, waren so geschmacklos, dass wir es kaum herunterbrachten.
Nach dem Essen mussten die anderen Gefangenen wieder nach drinnen gehen, nur wir sollten draußen bleiben. Denn die Wärter hatten plötzlich im Sinn, uns in einen anderen Raum zu sperren. Dieser Raum war sehr klein und eng, und wir konnten darin nur dicht gedrängt sitzen. Nach und nach bekamen wir großen Durst und Hunger – aber den ganzen Tag über kümmerte sich niemand um uns.
Als die Ersten von uns ohnmächtig wurden, versuchten wir aufs Neue, die Wärter zu alarmieren. Doch niemand reagierte auf unser Schreien und Klopfen mit Händen und Füßen. Erst als uns Hände und Füße schmerzten, hörten wir auf damit. Am Ende saß jeder in einer Ecke. Viele weinten.
War das der Preis dafür, frei sein zu dürfen? Diese Frage sollte ich mir in den kommenden Monaten immer wieder stellen.
Die Tränen vertrockneten im Nu auf unseren Gesichtern. Wir hatten nur drei Flaschen, in die wir pinkeln konnten, und als diese voll waren, versuchten wir mit großer Mühe und unter Schmerzen, unseren Urin zu unterdrücken.
Doch nicht alle konnten sich zurückhalten, und so war bald der ganze Boden nass. Manche von uns versuchten gar, ihren eigenen Urin zu trinken. Auch mein Durst war so quälend, dass ich es versuchte – aber ich musste würgen und ließ sofort davon ab.
Erst am Nachmittag brachte man uns in Dreiergruppen zur Toilette. Dort hatte man aber nur vier Minuten Zeit, während die äthiopischen Wärter bewaffnet danebenstanden und zur Eile drängten. War man nicht schnell genug, wurde man getreten. Die Toilette war völlig überfüllt, und es stank fürchterlich. Trotz des Ekels, den wir empfanden, beeilten wir uns und hielten uns mit einer Hand die Nase zu.
Auf dem Rückweg zu unserem Raum durfte man sich noch ein Stück Brot und einen Becher Tee mitnehmen, dann wurden wir wieder eingesperrt. Das Brot schmeckte widerlich. Ich konnte es kaum runterwürgen und musste mich meist wieder übergeben, nachdem ich es gegessen hatte. Wie oft dachte ich in diesem Gefängnis an das Brot und an die Mahlzeiten, die mir meine Mutter zubereitet hatte. Mir ging es sehr schlecht, doch niemand meiner Begleiter konnte mir helfen, denn wir alle waren geschwächt.
Manche waren so schwach, dass sie nicht einmal mehr richtig aufstehen konnten. Sie torkelten ein kleines Stück weit und fielen dann sofort wieder hin. Meine Augen waren trocken. Irgendwann konnte ich die Welt um mich herum nur noch wie durch einen Schleier wahrnehmen. Wir waren ganz verzweifelt und baten die Polizisten, uns freizulassen. Wir hatten schließlich nichts verbrochen, unser einziges Verbrechen war, in Freiheit und Sicherheit leben zu wollen.
Es dauerte ganze zwei Wochen, bis wir schließlich freikamen. Um unsere Freilassung zu erreichen, legten wir unser ganzes Geld zusammen. Wir bekamen 2000 äthiopische Birr zusammen, was rund 55 Euro entspricht – das war den Wärtern aber nicht genug, sie verlangten 3000 Birr. Doch wo hätten wir das restliche Geld auftreiben sollen?
Die Polizisten waren von vorn bis hinten korrupt und interessierten sich überhaupt nicht für uns, sondern nur für unser Geld. Zum Glück fanden wir nach einer gewissen Zeit in diesem Gefängnis aber andere Gefangene mit gutem Willen und Hilfsbereitschaft, die die fehlenden Birr für uns bezahlten.
So kam es, dass wir auf der offenen Ladefläche eines Lkws wieder zurück zu dem ersten Camp in Endabaguna gebracht wurden. Wir setzten also unsere absurde und qualvolle Odyssee in die Richtung fort, aus der wir gekommen waren. Das alles kam mir vor wie ein Albtraum.
Abermals mussten wir die gefährliche Strecke durch die Berge zurücklegen, die wir schon einmal gefahren waren. Die Straße durch die Berge war nicht geteert, sehr schmal, und links von uns ging es steil nach unten. Manchmal neigte sich der Lkw in den Kurven zur Seite, und die Räder des Wagens hingen bedrohlich in der Luft. Zudem brannte den ganzen Tag die Sonne auf uns herunter. Wir hatten großen Durst, sodass uns die Zunge am Gaumen klebte. Das Metall des Lkws war so heiß, dass man sich verbrannte, wenn man durch die abrupten Schwankungen dagegenfiel. Wir atmeten die ganze Zeit über den Staub der Straße ein.
Nach fünf Stunden hielten wir neben einem Fluss, und wir durften unter Bewachung der Soldaten ins Wasser, um uns zumindest ein bisschen abzukühlen. Der Fluss war jedoch sehr verschmutzt – in ihm trieben große Mengen an Müll, und das Wasser schäumte. Trotzdem tranken wir von dem Wasser.
Danach fuhren wir weiter und erreichten nach einem Tag Endabaguna. Noch vor dem Camp mussten wir alle absteigen und den Rest des Weges zu Fuß gehen. Wir fanden uns in einer Gruppe von sieben Jungen zusammen, manche gleich alt wie ich, manche älter. Wir mussten ohne jedes Licht unseren Weg durch den Wald finden. Weil wir Angst hatten, liefen wir, obwohl wir alle müde und hungrig waren und unsere Füße immer schwerer wurden. Wir versanken im Sand, sodass wir oft stolperten. Als wir nach einer Weile eine Straße erreichten, versuchten wir, vorbeifahrende Autos zu stoppen. Schließlich hielt ein Lieferwagen an. Doch er nahm nur einen Jungen mit, der sich am Fuß verletzt hatte und kaum noch laufen konnte.
Um etwa zehn Uhr morgens erreichten wir endlich das Camp. Wir waren die ganze Nacht hindurch gelaufen. Ich musste mit Ernüchterung feststellen, dass in der Zwischenzeit alle Sachen, die ich in der Hütte zurückgelassen hatte, in der mein Cousin und ich gelebt hatten, gestohlen worden waren.
Mittlerweile waren zwei Mädchen in die Hütte eingezogen, die neu in das Camp gekommen waren und nicht gewusst hatten, wohin. Sie boten mir zwar an, zu dritt in der Hütte zu wohnen, weil ich aber die Mädchen überhaupt nicht kannte, lehnte ich ab. Da ich sie aber auch nicht aus der Hütte verjagen wollte, ließ ich sie dort allein und ging stattdessen zu einer eritreischen Frau, die mit ihren Kindern im Camp lebte und die ich bei meinem Aufenthalt zuvor kennengelernt hatte. Sie nahm mich mit offenen Armen auf und bot mir sogleich einen Schlafplatz an.
Mir ging es in dieser Zeit nicht gut. Die Erlebnisse der letzten Wochen hatten mir sehr zugesetzt. Langsam realisierte ich, dass mir noch viele Prüfungen bevorstanden, bis ich in Frieden und Sicherheit würde leben können. Doch zurückzukehren nach Eritrea war ausgeschlossen. Mein Drang nach Freiheit war größer als die Angst vor den möglicherweise noch bevorstehenden Qualen.
Ich konnte in diesen Tagen nichts essen, nur ein bisschen trinken. Eine Woche lang blieb ich nur in der Hütte. Weil ich so schwach war, konnte ich mir nicht einmal meine Essensration abholen. Meine Bekannte versuchte, sie mir mitzubringen, aber die Wärter lehnten ab. Ich war auf ihre bedingungslose Hilfe angewiesen. Selbst zum Pinkeln brauchte ich jemanden, der mir nach draußen half.
All das war mir sehr unangenehm. Nach einiger Zeit war mein Zustand so schlecht, dass ich zur Krankenstation des Lagers gebracht wurde. Doch dort bekam ich keine Untersuchung – stattdessen wollte mir das Lagerpersonal einfach Tabletten geben, deren Einnahme ich schlicht verweigerte.
Zum Glück verbesserte sich mein gesundheitlicher Zustand nach einigen Tagen wieder, und ich konnte draußen ein bisschen spazieren gehen. Meine Bekannte und andere Häftlinge zwangen mich sanft dazu, wieder zu essen.
Ich war ja erst vierzehn Jahre alt und auf die Hilfe von Erwachsenen angewiesen. Am nächsten Tag war ich wieder in der Lage, mir mein Essen selbst zu besorgen, obwohl man sich dafür ab dem frühen Morgen stundenlang in der prallen Sonne anstellen musste.
Die Lagerleitung sah vor, dass sich acht Leute bei der Essensausgabe jeweils einen Sack Mehl und einen Kanister Öl teilen mussten. Außerdem gab es noch eine kleine Schüssel Zucker für jeden. Diese Lebensmittel hätten für einen Monat reichen sollen. Dafür war es aber viel zu wenig, und bei der Verteilung gab es immer Streit. Viele Leute versuchten durch Tricks oder pure Gewalt mehr zu bekommen, als ihnen zustand.
So wollte ich auf Dauer nicht dahinvegetieren.
Ich wusste ja schon seit Langem, dass es in diesem Lager keinerlei Perspektive auf ein besseres Leben gab – für niemanden. Deshalb beschloss ich, so bald wie möglich von hier fortzukommen. Da es beim ersten Versuch nicht geklappt hatte, nahm ich mir vor, es diesmal mit anderen Schleppern zu versuchen. Das notwendige Geld organisierten wir abermals über eritreische Verwandte, die entweder zu Hause oder im Exil lebten.