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Viertes Kapitel 1

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Kraft hatte früher irgendwo eine Anstellung gehabt und war gleichzeitig dem verstorbenen Herrn Andronikow (gegen Gehalt) bei der Führung einiger Privatgeschäfte behilflich gewesen, womit dieser sich immer neben seiner Amtstätigkeit noch befaßt hatte. Wichtig für mich war besonders, daß Kraft, infolge seiner nahen Beziehungen zu Andronikow, vermutlich viel von den Dingen wissen mußte, die mich so interessierten. Und Maria Iwanowna, die Frau von Nikolaj Semionowitsch, bei dem ich so lange gelebt hatte, als ich noch aufs Gymnasium ging – und die leibliche Nichte, die Andronikows Pflegetochter und Liebling war –, diese Maria Iwanowna also hatte mir gesagt, Kraft hätte sogar »den Auftrag«, mir etwas zu übergeben.

Er lebte in einer kleinen Wohnung von zwei Zimmern, vollkommen für sich allein, und jetzt, wo er eben von der Reise zurückgekehrt war, sogar ohne jede Bedienung. Der Koffer war wohl ausgepackt aber nicht weggeräumt; die Sachen trieben sich auf den Stühlen, dem Tisch, vor dem Diwan herum; da lag ein Reisesack, ein Necessaire, ein Revolver und alles mögliche. Als wir eintraten, war Kraft tief in Gedanken versunken, als hätte er mich ganz vergessen; er hatte es vielleicht nicht einmal bemerkt, daß ich mit ihm unterwegs gar nicht gesprochen hatte. Er fing gleich nach irgend etwas zu suchen an, aber als er zufällig am Spiegel vorbeikam, blieb er davor stehen und betrachtete eine gute Minute lang aufmerksam sein Gesicht. Ich bemerkte diese Sonderbarkeit wohl (und später habe ich mich ihrer nur zu gut erinnert), aber ich war verstimmt und sehr verwirrt. Ich hatte nicht die Kraft, mich zu konzentrieren. Einen Augenblick lang hatte ich auf einmal Lust, kurz entschlossen fortzugehen und mich damit von dieser ganzen Geschichte ein für allemal los zu sagen. Ja, und was war diese ganze Geschichte im Grunde? War das nicht nur eine Sorge, die ich ganz überflüssigerweise auf mich genommen hatte? Und ich war verzweifelt, daß ich hier eine Menge Energie verschwendete und wofür? Vielleicht für Kleinigkeiten, die das nicht wert waren, aus lauter Sentimentalität, während ich doch eine eigene Aufgabe vor mir sah, die meine ganze Energie erforderte. Und zu alledem war mir meine Unfähigkeit zu einer ernsten Tat deutlich in die Augen gesprungen, durch das, was bei Dergatschow geschehen war.

»Sagen Sie mal, Kraft, werden Sie künftig noch zu diesen Leuten hingehen?« fragte ich ihn plötzlich. Er wendete sich langsam zu mir, als verstünde er mich nicht recht. Ich setzte mich auf einen Stuhl.

»Verzeihen Sie ihnen!« sagte Kraft auf einmal.

Ich hielt das natürlich für Spott; aber als ich ihn jetzt gründlich musterte, entdeckte ich in seinem Gesicht eine so seltsame und sogar erstaunliche Treuherzigkeit, daß ich selbst ganz erstaunt darüber war, wie er mich so ernsthaft hatte bitten können, ihnen zu »verzeihen«. Er schob einen Stuhl heran und setzte sich neben mich.

»Ich weiß selbst sehr gut, daß ich vielleicht nur ein Ragout aus allen Eitelkeiten bin und weiter nichts,« begann ich, »aber um Verzeihung bitte ich nicht.«

»Dazu liegt für Sie auch gar kein Grund vor«, sagte er leise und ernsthaft. Er sprach die ganze Zeit leise und sehr langsam.

»Und mag ich vor mir selber schuldig sein . . . Ich liebe es, vor mir selber schuldig zu sein . . . Verzeihen Sie, Kraft, daß ich bei Ihnen Redensarten mache. Sagen Sie, gehören Sie denn wirklich auch zu diesem Kreise? Das war es, was ich Sie fragen wollte.«

»Die sind nicht dümmer als andere und nicht klüger; sie sind geistesgestörte Menschen, wie alle.«

»Sind denn alle gestört?« wendete ich mich mit unwillkürlicher Neugier zu ihm.

»Die etwas höherstehenden Menschen heutzutage sind alle gestört. Lustig und stark lebt nur die Mittelmäßigkeit und die Unbegabtheit dahin . . . Übrigens, was verlohnt es, davon zu sprechen!«

Beim Reden schaute er so sonderbar in die leere Luft hinaus, er begann einzelne Sätze und brach wieder ab. Besonders überraschte mich die Mutlosigkeit in seiner Stimme.

»Rechnen Sie denn auch Wasin dazu? Wasin hat Geist, Wasin hat . . . eine moralische Idee!« rief ich.

»Moralische Ideen gibt es heutzutage überhaupt nicht; auf einmal zeigte es sich, das es keine mehr gab und, was die Hauptsache ist, es sieht so aus, als ob es niemals welche gegeben hätte.«

»Auch früher nicht?«

»Lassen wir das lieber«, sagte er, sichtlich ermüdet.

Mich ergriff sein bitterer Ernst. Ich schämte mich meines Egoismus, ich begann, auf seinen Ton einzugehen.

»Die Gegenwart,« fing er selbst wieder an, nachdem er zwei Minuten schweigsam auf einen Punkt in der Luft gestarrt hatte, »die Gegenwart ist die Zeit der goldenen Mittelmäßigkeit und der Ohnmacht, sie gefällt sich in Unbildung, Faulheit, Unfähigkeit zur wahren Tat, sie verlangt gleich alles fertig vor sich zu sehen. Kein Mensch mag gründlich nachdenken; wie selten findet man einen, der sich in ernstem Streben eine Idee aufgerichtet hat.«

Er brach wieder ab und schwieg eine kurze Weile; ich lauschte, was er weiter sagen würde.

»Heutzutage roden sie die Wälder in Rußland aus, erschöpfen den Boden, verwandeln das Land in eine Steppe und bereiten es für die Kalmücken vor. Und da soll einmal ein Mensch mit einer Hoffnung kommen und einen Baum pflanzen – dann lachen ihn alle aus: ›Glaubst du denn, du erlebst die Zeit, wenn er groß ist?‹ Und auf der anderen Seite reden die Leute, die Sehnsucht nach dem Guten haben, davon, was nach tausend Jahren sein wird. Eine mutige Idee gibt es überhaupt nicht mehr. Alle leben sie wie auf der Poststation und als müßten sie morgen hinaus aus Rußland, alle denken sie: wenn's nur noch für mich reicht . . .«

»Entschuldigen Sie, Kraft, Sie sagten doch: ›diese Leute machen sich Sorgen darüber, was in tausend Jahren sein wird‹. Schön, aber Ihre Verzweiflung . . . an Rußlands Schicksal . . . ist das – ist das nicht eine Sorge von ähnlicher Art?«

»Das . . . das ist die aktuellste Frage, die es überhaupt gibt!« stieß er gereizt hervor und sprang auf.

»Ach ja! Ich habe ja ganz vergessen!« sagte er plötzlich mit einer ganz anderen Stimme und sah mich zweifelnd an, »ich habe Sie ja wegen einer ganz besonderen Angelegenheit hergebeten, und derweil . . . entschuldigen Sie, bitte.«

Es war, als wäre er plötzlich aus einer Art von Traum erwacht, und er war ziemlich verwirrt; er holte einen Brief aus einer Mappe, die auf dem Tisch lag und gab ihn mir.

»Das sollte ich Ihnen übergeben. Es ist ein Dokument, das von einer gewissen Wichtigkeit ist«, begann er äußerst geschäftsmäßig und ganz bei der Sache. Noch lange nachher hat es mich in der Erinnerung in Erstaunen versetzt, was er für eine Fähigkeit besaß, sich (und in Stunden, die für ihn so schwer waren!) so voll teilnehmenden Eifers mit einer fremden Sache zu befassen, sie so ruhig und energisch auseinanderzusetzen.

»Es ist ein Brief von eben jenem Herrn Stolbejew, nach dessen Tode, infolge seines Testamentes, der Prozeß zwischen Wersilow und den Fürsten Sokolskij entstanden ist. Die Sache schwebt jetzt beim Gericht und wird wahrscheinlich zu Wersilows Gunsten entschieden werden; das Gesetz ist auf seiner Seite. In diesem Briefe, einem Privatbrief, der vor etwa zwei Jahren geschrieben ist, interpretiert der Erblasser aber seinen wirklichen Willen, oder richtiger gesagt, seinen Wunsch, und zwar eher zugunsten der Fürsten als im Sinne Wersilows. Wenigstens erfahren die Punkte, auf die die Fürsten Sokolskij sich bei der Anfechtung des Testamentes stützen, durch diesen Brief eine starke Bekräftigung. Wersilows Gegner würden viel darum geben, wenn sie dies Dokument hätten, das übrigens eine entscheidende juristische Bedeutung nicht besitzt. Alexej Nikanorowitsch (Andronikow), der sich mit Wersilows Angelegenheiten befaßte, hatte diesen Brief in Aufbewahrung und übergab ihn mir kurz vor seinem Tode; ich sollte ihn ›an mich nehmen‹, – vielleicht ahnte er seinen Tod voraus und fürchtete für seine Papiere. Ich möchte mir über Alexej Nikanorowitschs Absichten in bezug auf diese Angelegenheit kein Urteil erlauben, und ich muß gestehen, ich befand mich nach seinem Tode in einer gewissen drückenden Unentschlossenheit, was ich mit diesem Dokument anfangen sollte, besonders da die Entscheidung der betreffenden Sache vor Gericht so nahe bevorstand. Aber Maria Iwanowna, der Alexej Nikanorowitsch, glaube ich, bei seinen Lebzeiten sehr viel Vertrauen geschenkt hat, hat mich aus diesem schwierigen Dilemma befreit: sie hat mir vor drei Wochen geschrieben, ich sollte das Dokument eben Ihnen übergeben und das würde auch, wahrscheinlich (das ist ihr Ausdruck), Andronikows Absichten entsprechen. Und da haben Sie also das Dokument, und ich bin sehr froh, daß ich es Ihnen endlich übergeben kann.«

»Hören Sie mal,« sagte ich bestürzt durch diese unerwartete Neuigkeit, »was soll ich jetzt mit diesem Briefe machen? Wie soll ich handeln?«

»Das hängt doch ganz von Ihrem freien Willen ab.«

»Das ist nicht möglich, ich bin entsetzlich unfrei, das müssen Sie zugeben! Wersilow hat so auf diese Erbschaft gewartet . . . Sie wissen ja doch, er ist ohne diese Hilfe ruiniert, – und auf einmal existiert da so ein Dokument!«

»Es existiert doch nur hier, in diesem Zimmer.«

»Ist das wirklich so?« fragte ich und musterte ihn aufmerksam.

»Wenn Sie in diesem Falle nicht selbst finden, was Sie zu tun haben, wie sollte ich Ihnen denn raten können?«

»Aber dem Fürsten Sokolskij kann ich den Brief auch nicht übergeben: ich vernichte alle Hoffnungen Wersilows damit, und außerdem stehe ich ihm gegenüber als Verräter da. Auf der anderen Seite, wenn ich ihn Wersilow gebe, bringe ich unschuldige Menschen an den Bettelstab und Wersilow bringe ich trotz alledem in eine Lage, aus der es keinen Ausweg gibt: er muß auf die Erbschaft verzichten, oder er muß zum Dieb werden.«

»Sie übertreiben die Bedeutung der Sache ein wenig.«

»Sagen Sie mir nur eins: hat dieses Dokument einen entscheidenden, endgültigen Charakter?«

»Nein, den hat es nicht. Ich bin kein sehr großer Jurist. Der Anwalt der Gegenpartei würde selbstverständlich wissen, auf welche Weise er sich dieses Dokumentes zu bedienen hätte und würde alle Vorteile aus ihm ziehen, die möglich wären; aber Alexej Nikanorowitsch war offenbar der Ansicht, daß die Produzierung dieses Briefes keine große juristische Bedeutung haben würde, und daß Wersilow seinen Prozeß trotzdem würde gewinnen können. Eher stellt also dieses Dokument wohl, sozusagen, eine Gewissenssache dar . . .«

»Ja, und das ist eben das allerwichtigste daran,« fiel ich ihm ins Wort, »und gerade deshalb kommt Wersilow in eine Lage, aus der es keinen Ausweg gibt.«

»Aber er kann das Dokument ja vernichten und dann ist er doch, ganz im Gegenteil, vor jeder Gefahr gesichert.«

»Haben Sie besondere Gründe, das von ihm zu erwarten, Kraft? Das ist es eben, was ich wissen will: gerade deshalb bin ich ja hier bei Ihnen!«

»Ich glaube, an seiner Stelle würde jeder so handeln.«

»Und würden Sie selbst so handeln?«

»Ich habe keine Erbschaft zu erwarten und deshalb weiß ich nicht, was ich täte.«

»Also, gut«, sagte ich und steckte den Brief in die Tasche. »Für den Augenblick mag diese Sache erledigt sein. Und jetzt hören Sie noch eins, Kraft. Maria Iwanowna, die mir im übrigen vieles mitgeteilt hat, das können Sie mir glauben, hat mir gesagt, von Ihnen und nur von Ihnen, könnte ich die Wahrheit darüber erfahren, was damals, vor anderthalb Jahren, in Ems passiert ist, zwischen Wersilow und den Achmakows. Ich habe auf Sie gewartet, wie auf die Sonne, die mir alles erhellen würde. Sie kennen meine Lage nicht, Kraft. Ich beschwöre Sie, sagen Sie mir die ganze Wahrheit. Es handelt sich für mich darum, was er für ein Mensch ist, und jetzt – jetzt habe ich es nötiger, das zu wissen, als je!«

»Ich wundere mich, daß Maria Iwanowna es Ihnen nicht selbst erzählt hat; sie konnte doch alles von dem verstorbenen Andronikow erfahren, und hat es natürlich auch gehört und weiß vielleicht mehr als ich.«

»Andronikow hat sich selbst in dieser Sache nicht zurechtgefunden, das sagte mir eben Maria Iwanowna. Es ist, als ob kein Mensch diese Sache entwirren könnte. Da kann sich der Teufel die Zähne dran ausbeißen! Und ich weiß ja, daß Sie damals in Ems waren . . .«

»Ich bin nicht bei allem dabei gewesen, aber was ich weiß, will ich Ihnen meinetwegen gern erzählen; nur weiß ich nicht, ob Sie das zufriedenstellen wird.«

Ein Werdender

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