Читать книгу Ein Werdender - Fjodor M. Dostojewski - Страница 24

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So, das war also der Mensch, um den so viele Jahre mein Herz geklopft hatte! Und was hatte ich denn eigentlich von Kraft erwartet, welche neuen Aufklärungen?

Als ich von Kraft kam, verspürte ich ein starkes Hungergefühl; es wurde schon Abend und ich hatte noch nicht zu Mittag gegessen. Ich ging, gleich dort auf der Petersburger Seite, auf dem großen Prospekt, in ein kleines Wirtshaus, mit der Absicht, zwanzig oder höchstens fünfundzwanzig Kopeken auszugeben – mehr hätte ich mir damals um keinen Preis erlaubt. Ich bestellte mir eine Suppe, und dann, weiß ich noch, als ich sie gegessen hatte, setzte ich mich ans Fenster und sah hinaus; in der Stube waren viel Leute, es roch nach verbranntem Fett, Wirtshausservietten und Tabakrauch. Es war eklig. Zu meinen Häupten klopfte eine stimmlose Nachtigall mit dem Schnabel auf den Boden ihres Käfigs, verdrossen und traurig. Im benachbarten Billardzimmer wurde gelärmt, aber ich saß und dachte tief nach. Die Stunde des Sonnenunterganges (weshalb hatte Kraft sich nur gewundert, daß ich diese Tageszeit nicht liebe?) rief in mir gewisse neue und unerwartete Empfindungen hervor, die durchaus nicht hergehörten. Vor mir schimmerte die ganze Zeit der stille Blick meiner Mutter, ihre lieben Augen, die mich jetzt schon einen ganzen Monat so schüchtern ansahen. In der letzten Zeit war ich zu Hause sehr grob und unliebenswürdig gewesen, besonders gegen sie; ich wollte eigentlich gegen Wersilow grob sein, traute mich aber nach meiner elenden Manier nicht, und so quälte ich denn sie. Ich hatte sie sogar ganz verängstigt; sie sah mich oft mit einem so furchtsam flehenden Blick an, wenn Wersilow ins Zimmer trat, weil sie irgendeinen Ausbruch von mir befürchtete . . . Sehr wunderlich war es, daß es mir hier, im Wirtshaus, zum erstenmal zum Bewußtsein kam, daß Wersilow »du« zu mir sagte, während sie mich »Sie« nannte. Gewundert hatte ich mich schon früher darüber und nicht in einer Art, die für sie schmeichelhaft gewesen wäre, aber jetzt kam es mir so ganz besonders zu Bewußtsein – und allerhand seltsame Gedanken flossen, einer nach dem andern, durch meinen Kopf. Ich blieb lange auf dem Platze sitzen, bis die Dämmerung tief hereingebrochen war. Auch an meine Schwester dachte ich . . .

Eine schicksalschwangere Minute für mich. Mochte kommen, was da wollte, ich mußte einen Entschluß fassen! Ich war doch nicht unfähig, einen Entschluß zu fassen? Was war denn so Schweres daran, mit allem zu brechen, wenn man hier noch dazu selber nichts von mir wissen wollte? Meine Mutter und meine Schwester? Aber sie wollte ich ja doch auf keinen Fall verlassen, – wie sich die Sache auch wenden mochte.

Die Wahrheit ist: das Auftreten dieses Menschen in meinem Leben, das heißt, sein damaliges Auftreten für einen Augenblick nur, in meiner ersten Kindheit, war der fatale Punkt, an dem mein Bewußtsein anfing. Wäre er mir damals nicht in den Weg getreten, – mein Verstand, mein Gedankenvorrat, mein Schicksal wären heute anders, abgesehen nur von meinem mir vom Geschick vorausbestimmten Charakter, dem ich wohl auch dann nicht entronnen wäre.

Und nun zeigte es sich, daß dieser Mensch nur ein Traum von mir war, ein Traum aus meinen Kinderjahren. Also ich hatte ihn mir nur so ausgedacht, in Wirklichkeit aber fand ich einen ganz anderen Menschen, der von der Höhe meines Phantasiebildes so tief hinabgestürzt war. Einen reinen Menschen hatte ich gesucht, nicht diesen Menschen. Und weshalb hatte ich mich so in ihn verliebt, einmal für ewig, in jener kurzen Minute, als ich ihn damals sah, da ich noch ein kleines Kind war? Dies »für ewig« mußte weggewischt werden, Ich werde vielleicht einmal, wenn ich Platz dafür finde, jene erste Begegnung mit ihm erzählen: es ist nichts als eine alberne kleine Anekdote, die nicht das geringste beweist. Aber ich baute eine ganze Pyramide darauf auf. Ich begann an dieser Pyramide schon unter der kleinen Decke meines Kinderbettchens zu bauen, wenn ich vor dem Einschlafen dalag und weinen konnte und träumen – wovon? – ich weiß es selbst nicht. Davon, daß ich verlassen war? Davon, daß ich gequält wurde? Aber gequält worden bin ich nur wenig, im ganzen nur zwei Jahre lang, in der Pension Touchard, in die er mich damals brachte, um dann für immer abzureisen. Späterhin hat mich niemand mehr gequält; im Gegenteil, ich selber sah stolz auf meine Mitschüler hinunter. Und ich kann solche sich selbst bejammernden Waisenkinder nicht ausstehen! Ich weiß mir kein ekelhafteres Schauspiel, als wenn solche Waisen, solche unehelichen Kinder, alle diese Verstoßenen und überhaupt dieser ganze Dreck, mit dem ich auch nicht das geringste Mitgefühl habe – wenn die auf einmal feierlich vor dem Publikum aufmarschieren und kläglich, aber erbaulich losheulen: »Seht her, wie man an uns gehandelt hat!« Prügeln könnte ich diese Waisen! Und keiner von diesem trüben Gesindel begreift, daß es zehnmal anständiger ist, zu schweigen, nicht zu heulen und die Sache einer Klage überhaupt nicht für wert zu halten. Das sind meine Gedanken hierüber!

Aber nicht das war das Lächerliche, daß ich früher »unter der Bettdecke« so von ihm geträumt hatte, sondern meine Reise hierher um seinetwillen, wieder um dieses erdachten Menschen willen; und über dieser Reise hatte ich beinahe mein Hauptziel vergessen. Ich war hergekommen, um ihm zu helfen die Verleumdung zu vernichten, seine Feinde zu zerschmettern. Jenes Dokument, von dem Kraft gesprochen hatte, der Brief dieser Frau an Andronikow, vor dem sie solche Angst hatte, der ihr Glück zerstören und sie an den Bettelstab bringen konnte und den sie in Wersilows Händen vermutete, – dieser Brief war nicht in Wersilows Händen, sondern steckte eingenäht in meiner Brusttasche. Ich hatte ihn selbst eingenäht, und bis jetzt wußte noch kein Mensch auf der Welt davon. Daß die romanhaft veranlagte Maria Iwanowna, die das Dokument »in Aufbewahrung« hatte, es für nötig gehalten hatte, den Brief gerade mir, und keinem andern, zu übergeben, das ist Sache ihrer Ansicht und ihres freien Willens, und ich bin nicht verpflichtet, es zu erklären; vielleicht erzähle ich es übrigens noch einmal, wenn sich gerade eine Gelegenheit bietet. Aber wie ich nun auf einmal diese ganz unerwartete Waffe in der Hand hielt, wie hätte mich der Wunsch nicht verlocken sollen, so in Petersburg aufzutreten? Natürlich hatte ich beschlossen, diesem Menschen nicht anders zu helfen, als ganz im geheimen, ohne hervorzutreten oder mich zu ereifern, ohne von ihm Lobsprüche oder Umarmungen zu erwarten. Und niemals, niemals würde ich es mit meiner Würde für vereinbar halten, ihm irgendeinen Vorwurf zu machen! War er denn auch nur im geringsten schuld daran, daß ich mich in ihn verliebt und mir aus ihm ein phantastisches Idealbild geschaffen hatte? Und vielleicht liebte ich ihn überhaupt gar nicht einmal! Sein origineller Verstand, sein interessanter Charakter, alle seine Intrigen und Abenteuer und der Umstand, daß meine Mutter bei ihm wohnte – das alles, schien mir, hätte mich jetzt nicht mehr aufhalten können; es war auch damit schön genug, daß meine phantastische Puppe zerbrochen war und ich ihn vielleicht nicht mehr würde lieben können. Also, was hielt mich denn auf, woran hing ich fest? Das war die Frage. Und als Endergebnis kam heraus, daß nur ich hier der Dumme war und niemand anders.

Aber wie ich von den anderen Ehrlichkeit verlange, will ich selbst auch ehrlich sein: ich muß bekennen, daß das Dokument, das ich in der Tasche eingenäht trug, in mir nicht nur den brennenden Wunsch erregt hatte, Wersilow zu Hilfe zu eilen. Heute ist mir das nur zu klar, und auch damals errötete ich vor dem Gedanken. Ich sah eine Frau vor Augen, ein stolzes Geschöpf aus der höchsten Gesellschaft, dem ich Aug' in Auge gegenübertreten würde; sie würde mich verachten, mich verlachen wie eine kleine Maus, ohne den Schimmer eines Verdachtes zu haben, ich könnte der Herr über ihr Schicksal sein. Dieser Gedanke hatte mich schon in Moskau trunken gemacht, besonders aber im Eisenbahnwagen, als ich nach Petersburg fuhr; ich habe das schon weiter oben gestanden. Ja, ich haßte diese Frau, aber ich liebte sie auch schon als mein Opfer, und dies war die reine Wahrheit, dies alles war wirklich. Aber war dies denn nicht schon so kindisch, wie ich es selbst von einem Menschen wie ich bin nicht hätte erwarten sollen? Ich beschreibe meine damaligen Gefühle, das heißt, was mir damals durch den Kopf ging, als ich in jenem Wirtshaus unter der Nachtigall saß, und als ich den Entschluß faßte, noch am gleichen Abend für immer mit ihnen zu brechen. Der Gedanke an meine heutige Begegnung mit dieser Frau übergoß auf einmal mein Gesicht mit der Farbe der Scham. Eine schmähliche Begegnung! Ein schmählicher und dummer Eindruck, und – was die Hauptsache war – er bewies mir stärker als sonst etwas meine Unfähigkeit zu einer ernsten Aufgabe! Es bewies nur das eine – so dachte ich damals – daß ich nicht die Kraft hätte, den dümmsten Verlockungen zu widerstehen, während ich doch eben erst selber zu Kraft gesagt hatte, ich kenne »meine Stelle« im Leben, ich hätte meine Aufgabe und würde, wenn man mir drei Menschenleben gäbe, auch daran noch nicht genug haben. Voll Stolz hatte ich das gesagt. Daß ich meine Idee hatte fahren und mich in Wersilows Angelegenheiten hineinziehen lassen, dafür konnte man schließlich vielleicht noch eine Entschuldigung finden; aber daß ich wie ein erstaunter Hase im Zickzack hin und her sprang und mich in jeden Schund hineinziehen ließ, daran war natürlich nichts schuld als meine Dummheit. Welcher Satan hatte mich geritten, zu Dergatschow zu gehen und dort mit meinen Dummheiten herauszuplatzen, während ich doch bei mir längst wußte, daß ich nichts Kluges und Vernünftiges zutage bringen würde und daß es das vorteilhafteste für mich wäre, zu schweigen? Und irgend so ein Wasin redet mir zur Vernunft und sagt mir, »ich hätte noch fünfzig Jahre vor mir, es läge durchaus kein Grund vor, mir graue Haare darüber wachsen zu lassen.« Gewiß ist diese Antwort vorzüglich, das gebe ich zu, und sie macht seiner unbestreitbaren Klugheit Ehre; sie ist schon deshalb vorzüglich, weil sie höchst einfach ist und das Einfachste begreift man immer erst zuletzt, wenn man schon alles durchprobiert hat, was komplizierter oder dümmer ist; aber ich wußte diese Antwort schon selber, bevor Wasin sie mir gesagt hatte; ich hatte diesen Gedanken seit reichlich drei Jahren vorausgefühlt; ganz abgesehen davon, daß in ihm teilweise »meine Idee« begründet ist. – Das waren so meine Gedanken damals im Wirtshaus.

Ich fühlte mich angeekelt, als ich, müde vom Gehen und von meinen Gedanken, so gegen acht Uhr abends nach Hause aufbrach. Es war schon ganz dunkel, und das Wetter war umgeschlagen; es war trocken, aber ein unangenehmer Petersburger Wind hatte sich erhoben, blies mir schneidend und scharf in den Rücken und wirbelte ringsum Staub und Sand auf. Wie viele verdrossene Gesichter unter den geringen Leuten, die von der Arbeit und den Geschäften in ihre Winkel heimeilten! Jeder trug seine eigene verdrossene Sorge im Gesicht, und es war vielleicht nicht ein einziger allgemeiner, alleinender Gedanke in dieser Menge. Kraft hatte recht: jeder war und dachte nur für sich. Ein kleiner Knabe begegnete mir, so klein, daß es sonderbar anmutete, ihn um diese Stunde allein auf der Straße zu sehen; er hatte sich wahrscheinlich verlaufen; eine Frau blieb eine Minute lang stehen und hörte zu, was er sagte, aber sie verstand nichts, zuckte die Achseln und ließ ihn allein in der Dunkelheit stehen. Ich wollte zu ihm treten, aber ich weiß nicht warum, er bekam auf einmal Angst vor mir und lief weiter. Als ich vor unserem Hause stand, war ich entschlossen, Wasin niemals zu besuchen. Als ich die Treppe hinaufstieg, fühlte ich den brennenden Wunsch, die Meinen allein zu Hause zu treffen, ohne Wersilow, damit ich, bevor er käme, Zeit fände, meiner Mutter ein gutes Wort zu sagen, oder auch meiner Schwester, der ich den ganzen Monat lang kaum ein einziges besonderes Wort gesagt hatte. Und so traf es sich auch, er war nicht zu Hause . . .

Ein Werdender

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