Читать книгу Wettstreit der purpurnen Raben - Florian Rattinger - Страница 10
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ОглавлениеMit den Einnahmen des Vormittags ist Gan zufrieden. Sie hat ein Dutzend Schokoladen, gut fünfzig Stück Zucker- und Gummi-Gebäck und eine Orangencreme-Torte verkauft, die sie mit den zerbröselten Überresten der kaputtgeschlagenen Zuckerkörner garniert hat.
Gan dreht das Schild in ihrem Schaufenster von „GEÖFFNET“ auf „GESCHLOSSEN“. Es ist 10 vor 12. Zehn Minuten vor Ladenschluss. Gan wirft einen letzten Blick auf die Straße, um sich zu versichern, dass kein Kunde mehr herangeeilt kommt. Da sie niemanden sieht, schließt Gan die Türe ab.
Schwer atmend wirft sich Gan ihren Mantel über und sagt zu ihren Haustieren: „Ich bin nur kurz weg, versprochen! Stellt mir in der Zwischenzeit bloß nichts an, okay?“, Sheriff wälzt sich in seinem Hundekorb und Claudette putzt ihr Fell. Gan geht durch die Hintertür.
„Die Bolthold-Gasse, also.“
Gan steckt die Hände in ihre Manteltaschen und marschiert los. Benannt wurde die Bolthold-Gasse nach dem Gründer der Purpura Effodiant Corvi Akademie für Zauberkunst und Hexenhandwerk. Gan meidet es nach Möglichkeit, durch diese Gasse zu schlendern.
Nachdem sie die zweite Straße überquert hat, merkt Gan, dass Claudette ihr folgt. Claudette sitzt auf einer Mülltonne und sieht ihr Frauchen mit eisblauen Augen an.
„Kein Grund zur Sorge“, sagt Gan. „Ich bringe mich schon nicht in Schwierigkeiten!“
Gans getigerte Katze springt von der blechernen Tonne und verschwindet hinter einem Stapel Kisten.
Als Gan zum Schild der Bolthold-Gasse kommt, zieht sich ihr Magen zu einem winzigen Klumpen zusammen. Sie geht die gesamte Straße ab, nach Derricks Laden sucht Gan jedoch vergebens. Am Ende der Straße entdeckt Gan eine freistehende rote Tür, die die Hälfte des Gehwegs blockiert. An der Tür ist ein Schild mit der Gravur „Dulce Sueños“ angebracht. Obwohl Gan die Sprachen der verschiedenen Welten nur im Nebenfach studiert hat, gelingt Gan die Übersetzung. Die Gravur bedeutet „süße Träume“.
„HAT ER MIR SOGAR DEN NAMEN MEINES LADENS GESTOHLEN?!“
„Fais De Beaux Rêves“ – so der Name von Gans Geschäft – steht für „Träum schön“.
Gan klopft an die Tür. Genauer gesagt: Sie hämmert.
Die Tür öffnet sich wie von Zauberhand. Gan blickt in einen kreisrunden Raum mit mehreren Glasvitrinen voller süßer Backwaren. Der Durchgang ist magisch, keine Frage. Das Werk eines gelernten Hexentechnikers. Aber schon auf dem ersten Blick fallen Gan Fehler in der Konstruktion auf. Auch der Geruch, der ihr in die Nase strömt, verrät ihr Einiges.
„Derrick?“, ruft sie in den Laden, der sich in definitiv in einer anderen Welt befindet. Niemand antwortet.
„Da kann ja das Geschäft gar nicht gut laufen“, denkt Gan und reibt sich die Hände.
Sie schreitet durch die rote Tür.
Just in diesem Moment knarzt das Holz und der Türrahmen zieht sich zusammen. Gan wird wie ein feuchter Lappen ausgequetscht.
„HEY, WAS ZUM KUCKUCK?!“, brüllt sie, während sie mit voller Gewalt gegen die Tür ankämpft.
Plötzlich dröhnt ihr schallendes Gelächter in den Ohren.
„Gan Priori!“, tönt eine hohe Männerstimme. Sie gehört zu einem Spargeltarzan mit wildem blonden Haar und orangen funkelnden Augen. Das Grinsen des Kerls ist schief, aber schön anzusehen. Stimme und Erscheinung des Mannes sind für Menschen, die ihn zum ersten Mal sehen, schwer in Einklang zu bringen. Derrick Schuster macht einen charismatischen Eindruck. Von der wahren Natur seines Charakters könnte das nicht weiter entfernt sein.
„Schön, dich zu sehen!“
„Derrick Schuster!“, knurrt Gan. „Lass diesen Mist!“
Statt etwas zu unternehmen, ergötzt sich Derrick am Anblick seiner ehemaligen Kommilitonin.
Gan reicht es. Sie verstärkt ihre Muskeln mit Magie und bricht das obere Teil des Türrahmens einfach weg. Das Brett wirft sie vor Derricks Füße. Es raucht.
Da macht selbst Derrick Schuster Augen. Gan lacht beinahe laut los.
„Weißt du eigentlich, wie viel es kostet, das reparieren zu lassen?“, faucht Derrick.
„Hallo, du wolltest mich mit der Tür zerquetschen!“, brüllt Gan zurück.
„Das war doch nur ein Spaß!“
„Ist es auch Spaß, wenn ich dir als Nächstes dieses dumme Brett über die Rübe ziehe?“, brüllt Gan.
Derrick gibt sich entrüstet. Dann legt er im Kopf einen Schalter um und Derrick schenkt Gan ein geschäftsmäßiges Lächeln.
„Willkommen im Dulce Sueños!“, sagt Derrick mir zuckersüßer Stimme.
„Spar dir dein Geschleime! Ich bin nur hier, um zu sehen, was du jetzt schon wieder ausheckst.“
„Woher dieses Misstrauen?“, beginnt Derrick, aber da interessiert sich Gan schon nicht mehr für ihn. Sie begutachtet das Interieur. Die Wände sind in dreifarbigen Streifen gestrichen: rostbraun, minzgrün und arktisblau. Auf Gan wirkt diese Farbkombination altbacken. Wieder ein Beweis mehr dafür, dass ihr ehemaliger Studiengenosse über keinerlei Geschmack verfügt.
Dann sind da die Süßigkeiten in den Vitrinen. Derrick fährt mit beeindruckenden Mengen auf. Zuckerbrezen sind gut 200 vorhanden, dazu 100 Karamell-Cupcakes und gut zwei Dutzend Kuchen. Würde Gan dieselbe Menge backen, würde sie drei Tage brauchen. Gan bietet dafür täglich um die 25 unterschiedlichen Produkte an, Derrick kommt auf knapp zehn.
Allen seinen Waren hängt jedoch ein seltsam metallischer Geruch an.
„Das sind Industrieprodukte“, schlussfolgert Gan. „Du stellst kein einziges deiner Produkte selbst her.“
Derrick zieht die Augenbrauen zusammen. „Mitnichten, Gan Priori!“, gibt er zurück. „Mein gesamtes Sortiment stammt aus eigener Produktion. Soll ich es dir zeigen?“
„Du bist und bleibst ein Scharlatan“, antwortet Gan. Die Gelegenheit, einen Blick in die Backstube eines Kontrahenten zu werfen, will sich Gan allerdings nicht entgehen lassen.
Die Hand, die Derrick ihr beim Näherkommen entgegenstreckt, schlägt Gan beiseite. Stattdessen gibt sie ihm den Ellbogen in die Rippen.
„AU!“, schreit Derrick auf und hält sich die Seite. Als Gan sich ein schelmisches Grinsen nicht verkneifen kann, sagt er: „Das habe ich wahrscheinlich verdient.“
„Darf ich?“, fragt Gan und deutet auf eine Vitrine voller Zuckerbrezen.
„Nur zu!“, antwortet Derrick.
Gan nimmt sich ein Stück, hält es sich vor die Nase, schnuppert daran und beißt schließlich hinein.
Gan stellen sich vor künstlicher Süße die Nackenhaare auf.
„Wie viel Gramm Zucker enthält dieses... Ding?“, fragt Gan.
„Einhundertfünfundzwanzig.“
„Bei einem Gewicht von was? 250 Gramm?“
„Das ist korrekt.“
„Das sind 50% Zucker!“
„Zucker fördert die Kaufkraft!“, sagt Derrick.
„Pft!“, macht Gan. „Das ist einfach nur ungesund!“
Sie sieht sich Derricks Waren genauer an. In jeder vermutetet sie eine ebenso große Menge Zucker wie in der Zuckerbreze.
„Hast du für deinen Laden diesen Schmalspur-Raum-Zeit-Zauber gewählt, um Miete zu sparen?“ Gan spielt darauf an, dass Derricks Ladentür ganz ohne Fassade oder Haus auskommt, in die sie verankert ist.
„Gut erkannt!“, antwortet Derrick. „Ich versuche, meine Ausgaben gering zu halten, um meine Einnahme zu maximieren.“
„Klar, verkaufst du deswegen auch billigen Industriemüll?“
Für Gan stellt sich die Frage, wieso überhaupt über die Eröffnung des Dulce Sueños berichtet worden war. Sie ist sich sicher: Derrick muss jemandem beim Großstädter Murmler bestochen haben.
„Ich stelle alle meine Waren selbst her. Folge mir bitte.“
Derrick spaziert in den hinteren Teil seines Ladens. Gan folgt ihm zögerlich durch die in rostbraun lackierte doppelseitige Flügeltür.
Während Derricks Verkaufsraum staubig und veraltet wirkt, könnte seine Küche nicht moderner sein. Die Wände sind aus glänzendem Chrom. Das Herzstück des Raumes bildet eine Maschine, die die gesamte hintere Wand einnimmt. Sie verfügt über einen großen Trichter, hunderte blinkender Lichter und ein Förderband, das im stetigen Tempo süßes Gebäck ausspuckt.
Die Maschine spuckt purpurne Funken.
„Meine Erfindung!“, sagt Derrick stolz. „Der Super-Baker-9000!“ Er tänzelt vor den großen Trichter der Maschine. Am Boden steht ein Sack Mehl und eine Kiste Zucker. Beides schüttet Derrick in die extrabreite Öffnung. Die Maschine spuckt daraufhin noch mehr Funken. Das Förderband läuft schneller. „Damit kann ich bis zu 2500 Zuckerbrezen am Tag produzieren!“
„Daher also der seltsame Geruch...“, denkt Gan. Sie sagt: „Deinen Waren fehlt die Seele. Und nicht nur denen.“ Gan geht nicht davon aus, dass Derrick ihr ernsthafte Konkurrenz machen wird. Ihren Kunden kann Gan ja erzählen, was sie in Derricks Laden gesehen hat.
Derrick dreht eine Pirouette, schnappt sich einen Karamell-Cupcake vom Förderband und drückt ihn Gan in die Hand.
„Überzeug dich selbst. Die Qualität ist 1a!“
Von der Zuckerbreze ist Gan noch immer übel. Dennoch nimmt sie einen Bissen von dem hellbraunen Cupcake. Und beißt sich beinahe ein Stück Zahn aus.
„Au!“, schreit Gan auf und spuckt eine Mutter aus.
Derrick macht große Augen.
„Wie ist denn die da rein gekommen?“, sagt er und schnappt das Metallteil schnell von Gans Handfläche.
Den Cupcake schmeißt Gan postwendend in den Müll. Das künstliche Aroma des Cupcakes zieht sich wie eine Beschichtung über Gans Geschmacksknospen.
„Der ist einfach nur scheußlich!“, lautet Gans Urteil.
Dann passiert etwas Seltsames.
Aus Gans Magen steigt ein elektrisches Kribbeln auf. Ihre Haare ziehen sich in ihre Kopfhaut zurück und bringen ihre rot leuchtenden Pickel zum Vorschein. Die Farbe ihrer Haare verändert sich von einem knalligen Pink zu einem dunklen Braun.
„WAS HAST DU MIT MIR ANGESTELLT?“
Derrick lacht.
„Das war ein besonderer Muffin, den ich extra für dich gemacht habe. Die Rezeptur annulliert magische Kräfte“, versucht Derrick durch bellendes Lachen hindurch zu sagen. „Hast du zu viel Schokolade gegessen oder wieso ist deine Stirn voller Pickel?“
„DAS WAR EIN CUPCAKE, KEIN MUFFIN, DU IDIOT!“, bellt Gan und holt zu einem Schlag aus. Derrick fängt Gans Fäuste, bevor sie ihn treffen. „LERN DEN UNTERSCHIED!“, setzt sie nach.
„HA HA, DEINE STIRN LEUCHTET WIE EINE NEONREKLAME!“
Gan reißt sich los und stürmt zurück in den Verkaufsraum. Derrick eilt ihr hinterher. Die kaputte Tür steht weit offen.
„DEIN LADEN WIRD EIN FLOPP! DAS KANN ICH GARANTIEREN!“, brüllt Gan. Derrick kullert sich vor Lachen.
Plötzlich schmiegt sich Claudette an Gans Knöchel. Sie trägt eine verschlossene Zuckerkorntrompete im Maul. Bevor sich Gan versieht, hat sich Claudette durch Derricks Beine geschlichen und ihm die Zuckerkorntrompete auf den Stuhl gelegt. Auf leisen Pfoten schleicht Gans Katze zurück zu ihrem Frauchen.
„TSCHÜSS, DU IDIOT!“, schreit Gan Derrick an, macht dann auf den Hacken kehrt und stürmt durch die kaputte Tür zu. Auf der Schwelle hält sie ein.
„Tschüss, Priori!“, sagt Derrick. „Auf ein gutes Miteinander!“ Derrick breitet die Arme aus und lässt sich dann selbstgefällig auf seinen Stuhl fallen. Sein Hintern zerreibt die Zuckerkorntrompete und setzt so ihr giftiges rotes Gas frei. Bevor Gan das Gas erreicht, schlägt sie die demolierte Tür des Dulce Sueños zu.
Gan krault Claudette die Ohren.
Dieser Tag ist doch nicht nur für die Katz.