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„WO BIN ICH?“

Gan schnappt nach Luft.

Claudette springt vom Tresen und peitscht ihrem Frauchen den Schwanz ins Gesicht.

„CLAUDETTE?“

Die Katze miaut.

„ICH BIN WIEDER ZUHAUSE? ABER WIE?“

Sheriff stupst eine knallpinke durchsichtige Kugel in Gans Richtung. Beim Rollen macht sie ein Geräusch wie Glas. Nun hat auch endlich Sheriffs Nase seine ursprüngliche Form und Farbe angenommen.

„Oh ja, ich erinnere mich. Ich bin im Raum zwischen den Welten gewesen. Ich habe diese Kugel mit einem Hokus Krösus zu mir gerufen!“

Gans Ladentür steht sperrangelweit offen. Sie führt hinaus nach Eskala. Der Dimensionshebel ist im Boden verschwunden. Gan läuft zur Tür und schmettert sie zu. Dann wirft sie einen Blick auf die Uhr. Es ist 12 Uhr nachts.

„Heiliger Strohsack, wie lange bin ich weggewesen?“

Als sie durch die Weltentür gegangen ist, ist es später Nachmittag gewesen.

Dass es jetzt tief in der Nacht ist, stellt Gan vor Probleme.

ARGH! Wenn ich diesen Derrick in die Finger kriege!“

Gans Haare stellen sich auf und verfärben sich pink. Ihre Magie hat sich regeneriert. Gan denkt an Derricks Visitenkarte. Leider hat Gan sie im Raum zwischen den Welten zurückgelassen. Damit fehlt ihr der Beweis, mit dem sie Derrick für ihren Schlamassel verantwortlich machen kann.

„Was sich nicht ändern lässt, lässt sich nicht ändern!“, zischt Gan. „Wegen der Karte gehe ich bestimmt nicht noch einmal zurück an diesen... Ort.“

Normalerweise beginnt Gan erst in drei Stunden mit der Arbeit, aber für gewöhnlich hat sie zu dieser Uhrzeit die Zutaten für ihre Waren schon vorbereitet - allem voran die Ingredienzien für ihr Spezialgebäck. Die fehlen Gan heute. Ihr reicht die Zeit nicht mehr für eine zweite Reise.

„Dann muss normales Gebäck eben reichen!“

Unter anderen Umständen würde Gan sich nicht so sehr unter Druck setzen, doch dieser Tag war bisher alles andere als herkömmlich. Wenn Gan nicht mitzieht, liefert sie Derrick die optimale Chance, dass sein Laden gut anläuft. Das ist wohl auch sein Plan gewesen: Gan in den Straßengraben zu manövrieren, um dann an ihr vorbeizuziehen. Diesen Erfolg kann sie Derrick nicht gönnen.

Dann ist da noch die Sache, dass Gans Erzrivale mit seinem Super-Baker 9000 in viel kürzerer Zeit deutlich mehr Waren produziert als Gan. Gan krempelt die Ärmel hoch.

„Auf geht’s!“, grunzt Gan.

Bevor Gan loslegt, widmet sich Gan noch einen Moment der Kugel, der sie ihre Rettung zu verdanken hat. Sie liegt auf den Boden. Gan hebt sie auf. Für ihre Größe ist sie nicht sonderlich schwer.

Die Kugel besteht aus einer harten milchig-durchsichtigen Schale, die sich angenehm anfühlt. Im Innern schläft eine kleine Kreatur, die einem zierlichen Vogel gleicht. Im Gegensatz zu den riesigen Augen, sind der Schnabel und die Flügelchen des Piepmatzes winzig.

„Das ist ein Ei“, stellt Gan fest. So eines ist ihr allerdings noch nicht untergekommen. „Was soll ich damit machen?“ Sie könnte es in den Raum zwischen den Welten zurückwerfen, dafür hat sie aber keine Zeit.

Gan eilt in ihre Küche. Sie holt einen Kupfertopf, in den das Ei genau hineinpasst. Den Topf mit dem Ei stellt Gan unter eine große Lampe. Mit einem „Lux Infrarubrum“-Zauber verschiebt Gan das Lichtspektrum, das die Glühbirne aussendet in den infraroten Bereich. So hält die Lampe das Ei schön warm. Zum Schluss wirft Gan einen neugierigen Blick durch die Schale.

„Danke, dass du mich nach Hause gebracht hast!“, sagt sie. „Morgen bringe ich dich auch zurück, versprochen. Aber jetzt muss ich mich erst um meine eigenen Angelegenheiten kümmern.“

Gan spuckt in die Hände. Anschließend setzt sie sich den weißen Hexenhut auf und holt aus den Schubladen zehn weitere verschiedengroße Töpfe. Zum Schluss schnappt sie sich ihren goldenen Kochlöffel. Er ist eine Sonderanfertigung, die Gan bei einem befreundeten Schreiner bestellt hat.

„So, also, was machen wir heute alles?“

Gan knallt ein großes Buch mit einem dicken Ledereinband auf den Tisch. Sie schlägt es in der Mitte auf. Ihr Zeigefinger tanzt auf der Seite.

„Als erstes mache ich einen Coucher de Soleil Orange, danach einen Montagne au Chocolat, ein paar rote Zuckerbrezeln, vier oder fünf Dutzend Caramel Crunch und zum Schluss ein paar Mariposa Azul.“

Gans Eifer vertreibt ein paar der schlechten Gefühle. Sie holt eine Zutat nach der anderen aus ihren Schubladen und stellt sie auf den Tisch: Mehl, Zucker, Milch von Kühen der 333. Welt, Gänse- und Wachteleier, Hefe aus dem Mittelalter der 2. Welt, und zum Schluss eine Sammlung natürlicher Aromen und Farbstoffe aus verschiedenen Welten: Pigmente, kleine essbare Kristalle, Insektenschalen, Blütenblätter, zerriebene und getrocknete Beeren, Kräuteressenzen.

Zum Schluss misst sie für jeden ihrer zehn Töpfe Mehl ab. Gan spricht einen Zauber, der die restlichen Zutaten in die Luft schweben lässt. Sie verteilen sich wie von selbst in die unterschiedlichen Töpfe. Im Anschluss rührt sie mit dem Kochlöffel einen nach dem anderen um. Gan steht der Schweiß auf der Stirn.

Die Töpfe, mit denen sie fertig ist, sausen wie von Zauberhand durch Gans Küche und füllen ihren Inhalt in vorbereitete Backformen. Die Formen fliegen zu guter Letzt in Gans extragroßen und dickgemauerten Holzkohleofen.

Während der Teig im Ofen backt, macht sich Gan an die verschiedenen Cremes und Güsse. Sie hext Sahne, Mascarpone und Agar-Agar herbei.

Gan geht dermaßen in ihrer Arbeit auf, dass sie nicht bemerkt, wie das Wesen im Ei die Augen öffnet. Es schaut sich um und lächelt verschmitzt. Der Vogel bläst Blasen in den Dotter, die zu glitzern beginnen und dann durch die Schale nach draußen wandern. Die Glitzerblasen fliegen schnurstracks auf Gans Ofen zu. Als sie platzen, bringen sie den Ofen zum Leuchten. Danach schließt der Vogel seine Augen wieder und genießt die Wärme von Gans Lampe.

Claudette, die das ganze Schauspiel vom Fensterbrett mitangesehen hat, rollt sich auf die Seite und schläft ein.

Wettstreit der purpurnen Raben

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