Читать книгу Wettstreit der purpurnen Raben - Florian Rattinger - Страница 11
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ОглавлениеClaudette begleitet ihr Frauchen auf ihrem Weg zurück zum Fais De Beaux Rêves. Schwarze Wolken hängen am Himmel. Gan beeilt sich. Sie will nicht nass werden. Außerdem kommt sie sich mit den Pickeln auf der Stirn und ihrer natürlichen Haarfarbe vor wie eine Jahrmarktsattraktion.
„Wieso will er mir jetzt mein Geschäft streitig machen?“, fragt sich Gan leise. „Wieso muss er jetzt nach zwei Jahren wieder auftauchen?“
Direkt nach dem Abbruch ihrer Ausbildung hat Gan sich mit ihrem Laden selbstständig gemacht. Das ist nun die besagten zwei Jahre her. Gan betreibt das Fais De Beaux Rêves in mehr als 150 Welten und stellt jedes ihrer Stücke in Handarbeit her. Ihre Kunden wissen das zu schätzen. Gan glaubt, dass ihre Kundschaft ihr trotz Derricks Konkurrenz überwiegend die Treue halten wird.
Andererseits kann Gan es nicht immer jedem Recht machen. Am Ende eines Tages sind die meisten ihrer Waren bereits vor Ladenschluss ausverkauft. Schon oft hat Gan Kunden um halb 12 ohne eines ihrer Gebäcke nach Hause schicken müssen.
Mit seinem „Super-Baker-9000“ kann Derrick im Sekundentakt produzieren, auch, wenn die Qualität unter aller Kanone ist. Gan ist lange genug im Geschäft, um zu wissen, dass es manchen Kunden einzig und allein auf den Preis ankommt. Und Derrick verkauft seine Produkte im Schnitt 40% billiger als sie.
Das ist nicht gut.
Der erste Tropfen fällt. Begleitet wird er von einem heftigen Paukenschlag aus dem Himmel. Gan nimmt die Beine in die Hand.
Sie hat drei Straßen vor sich. Claudette schlüpft durch ein Zaunloch und ist verschwunden. Gan ist in einem Tunnel. Sie sieht nur noch das Fais De Beaux Rêves vor sich.
Dann kommt Gan an einem Zeitungskasten vorbei.
Henna hatte ihr erzählt, dass über die Eröffnung von Derricks Laden berichtet worden war. Gan wirft drei Cuprum-Münzen in den Münzschlitz, entnimmt ein Exemplar, verstaut es unter ihrem Pullover und düst mit Vollgas zurück zu ihrem Laden.
Sie braucht eine Minute, bis sie wieder bei Atem ist. Claudette kommt wenig später durch die Katzenklappe herein. Sie hat es irgendwie geschafft, trocken zu bleiben. Sheriff begrüßt Gan mit einem lauten „WUFF, WUFF!“. Seine Nase leuchtet nur noch schwach.
„So ein Mist aber auch!“, sagt sie und legt die Zeitung auf ihren Tresen. Im Anschluss föhnt sich Gan erst einmal die Haare und zieht sich trockene Klamotten über. Drei Garnituren Ersatzkleidung hat Gan im Laden. Anschließend macht sie sich einen extra starken Espresso aus roten Cowboy-Kaffeebohnen und peppt ihn mit einer Schuss Tempig-Milch auf. Am Tisch in der Küche widmet sich Gan dem Artikel über ihren Widersacher. Sie muss nicht lange suchen. Das Foto von der Eröffnungszeremonie nimmt die halbe Seite ein.
Bürgermeister Felsbeißer hat es sich nicht nehmen lassen, das rote Band vor der Pforte des Dulce Sueños zu durchschneiden. Gan bildet es sich sicher ein, aber sie glaubt, auf dem Bild Aurum-Zeichen in Felsenbeißers Augen zu erkennen.
„Der würde seine eigene Mutter verkaufen, ohne auch nur einen Gewissensbiss zu haben. Hauptsache, der Preis stimmt“, zischt Gan. Letztes Jahr hatte Felsenbeißer ihr die Gewerbesteuer erhöht, mit der Begründung, dass das Fais De Beaux Rêves zu den fünf erfolgreichsten Läden in Eskala zählt. Wie viele „zusätzliche Steuereinnahmen“ Derrick Felsenbeißer wohl versprochen hat?
Mit jedem Satz, den Gan liest, werden die Falten auf ihrer Stirn tiefer. Nachdem sie den Bericht zu Ende gelesen hat, knallt sie die Zeitung auf den Tisch.
„Dieser Schuft!“, schimpft Gan. Ihr stehen Tränen in den Augen. Claudette hüpft Gan auf den Schoß. Gan krault ihr den Kopf. Das beruhigt sie zumindest ein wenig. Der Artikel handelt nicht nur von Derricks Laden.
Professorin Adelheid Grandeur-Finesse der Purpura Effodiant Corvi Akademie für Zauberkunst und Hexenhandwerk plant, nach Ablauf des aktuellen Semesters in den Ruhestand zu gehen. Damit verliert die PEC eine ihrer erfahrensten Professorinnen. 75 Jahre lang hatte Prof. Grandeur-Finesse gelehrt. Mit 99 Jahren geht sie nun in Pension. Im Laufe ihrer Karriere hatte sie den Lehrstuhl für angewandtes Hexenhandwerk zu einem der besten in allen 1344 Welten ausgebaut. Ihre Nachfolge soll – Dekan Sean Polidori zufolge – mithilfe eines Wettbewerbs bestimmt werden.
„Deswegen hat Derrick das Dulce Sueños eröffnet. Weil er sich damit im Auswahlverfahren um den Lehrstuhl bessere Chancen ausrechnet“, flüstert Gan.
Mit seinen 17 Jahren wäre Derrick Schuster damit der jüngste Professor, der jemals an der Purpura Effodiant Corvi Akademie für Zauberkunst und Hexenhandwerk unterrichtet hätte. Über ausreichend Talent und Fachwissen – und dessen ist sich Gan schmerzhaft bewusst – verfügt der Scharlatan unglücklicherweise. Tatsächlich gehört Derrick Schuster zu den besten Absolventen der Akademie.
„Das wäre eine Katastrophe!“, sagt Gan. „Er würde alles, wofür Prof. Grandeur-Finesse steht, durch den Dreck ziehen.“
Prof. Grandeur-Finesse hatte Gan stets als eine ihrer talentiertesten Schülerinnen bezeichnet. Der Tag ihrer Abschlussprüfung hätte eigentlich den Gipfel ihrer Ausbildung darstellen sollen. Gan hatte sich vorgenommen, ihr Können der gesamten Schule unter Beweis zu stellen. Als großen Streich hatte Gan ihre feinsten Waren für alle 2500 Schülerinnen und Schüler sowie das gesamte Personal der PEC gebacken. Die Zutaten hatte sie alle über einen transdimensionalen Versandhandel bestellt (daher die Idee mit ihrer Weltentür; um die Sache zu vereinfachen).
Doch der Tag, an dem Gan vor der vollversammelten Schulgemeinschaft brillieren sollte, endete im Desaster. 99% der Schülerinnen und Schüler, der Lehrerinnen und Lehrer, der Professorinnen und Professoren, die Gans Köstlichkeiten probierten, bekamen Durchfall und Brechreiz. Schon nach dem ersten Bissen verfärbten sich Gans Kunstwerke schwarz, wurden schmierig wie Öl und dadurch ungenießbar.
Da Dekan Polidori um jeden Preis negative Schlagzeilen verhindern wollte, wurde Gan vor die Wahl gestellt: Sie konnte die PEC freiwillig verlassen und so schlechter Presse entgehen oder sie müsste sich für die Konsequenzen ihrer vergeigten Abschlussprüfung verantworten und so ihre Karriere gegen die Wand fahren, noch bevor sie richtig begonnen hatte. Gan verließ die Schule ohne Abschluss und hat sich im Anschluss daran (mit ein bisschen Hilfe durch ihre Eltern) mit dem Fais De Beaux Rêves ein berufliches Standbein gesucht.
Durch Gans Entschluss kam es nie zu einer richtigen Untersuchung des Vorfalls. Erst ein halbes Jahr später hatte Gan herausgefunden, wer für die verdorbenen Waren verantwortlich gewesen ist. Kein geringerer als Derrick Schuster. Er hatte den Grundteig, den sie für all ihre Kreationen verwendet hatte, mit einem Tropfen Monster-Essenz versetzt. Einer von Professor Grandeur-Finesses wissenschaftlichen Mitarbeitern war ihm schließlich auf die Schliche gekommen. Prof. Grandeur-Finesse selbst hatte Dekan Polidori über diese Erkenntnis informiert (und Gan dazu einen ausführlichen Brief geschrieben). Da Gan die Schule aber längst verlassen hatte und Derrick Schuster mittlerweile als neuer Star am Hexer-Himmel gefeiert wurde, hatte Polidori die Sache auf sich beruhen lassen.
Und jetzt soll Derrick Schuster Professor Grandeur-Finesses Lehrstuhl übernehmen?
Dieser verflixte Betrüger.
Dieser Möchte-Gern-Hexer.
Gan wirft die Zeitung in die Luft. Mit ihrem letzten Fünkchen Magie setzt Gan sie mit einem Feuerwerkszauber in Brand. Bunte Asche regnet auf den Boden. Claudette stampft die letzten brennenden Reste mit ihren Pfoten aus. Gan achtet gar nicht darauf. Sie geht in den ersten Stock. Dort steht ihr Bett. Sie nutzt es eigentlich nur, wenn sie ein besonders aufwendiges Rezept backt und dazu eine Nachtschicht in ihrem Laden einlegen muss.
Doch jetzt braucht sie erst mal Schlaf.
Eine Stunde kann sie sich leisten, glaubt sie.