Читать книгу Wettstreit der purpurnen Raben - Florian Rattinger - Страница 8
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ОглавлениеDer heiße Backofen bringt die Luft zum Flimmern. Der süße Duft von Orangencreme und Karamell verteilt sich in alle Räume. Das gefällt auch Katze Claudette. Sie hat es sich auf dem Fensterbrett gemütlich gemacht und lässt sich die Morgensonne auf den Rücken scheinen. Es ist kurz vor halb 8.
Claudettes Besitzerin Gan sitzt auf einem Hocker in ihrer Küche. Sie ist in den letzten Zügen für die Vorbereitungen des heutigen Tages. Gan trägt ein ledernes Visier mit dicken roten Gläsern, das ihre pinken Haare in alle Richtungen abstehen lässt.
„Gaaaaanz vorsichtig!“, sagt sie zu sich selbst. Ihre Zungenspitze ragt aus dem Mund hervor. Gans Hände zittern. Sie ist dabei, die Blüten einer Zuckerkorntrompete mit der Pinzette zu öffnen. Erst vor einem Monat hatte sie den Fehler gemacht und einen der Kelche zu hastig geöffnet. Das giftige Gas, das die Pflanze daraufhin versprüht hat, hat Gan im ganzen Gesicht tiefrote juckende Pickel beschert. Nach einer Woche und einer Reihe schlafloser Nächte waren sie endlich abgeheilt.
Für Gan war es allerdings viel schlimmer, jedem ihrer Kunden das schlechte Hautbild erklären zu müssen.
„Oooookay!“
Während ihrer Ausbildung hat sie gelernt, in welcher Reihenfolge die Kelchblätter geöffnet werden müssen. Oben-rechts, unten-links, oben-links, unten-rechts. Das Problem ist, dass dafür jede Blüte exakt nach Norden ausgerichtet werden muss. Gan wirft einen Blick auf den Kompass neben sich und schält dann ein weißes Blütenblatt nach dem anderen zurück.
Zum Vorschein kommt ein kleiner goldener würfelförmiger Kristall – das namensgebende Zuckerkorn. Gan pickt den Kristall vorsichtig mit der Pinzette auf und setzt ihn auf die Mascarpone-Haube eines Orangen-Cupcakes.
„Soooo, das war der letzte!“
Dieser besonderen Kreation hat Gan den Namen „Lava Blast“ gegeben. Der Cupcake ist im Innern mit Orangenelixier gefüllt, das die Zähne beim Hineinbeißen warm werden lässt, während das Zuckerkorn die Geschmacksknospen auf der Zunge zum Explodieren bringt.
Das war der zehnte Cupcake – genug für heute. Zum Schluss garniert Gan die essbaren Vulkane noch mit Geröll aus Karamell-Krokant und feinen Strömen Vanillesoße.
„Die Leutchen werden sich darum reißen!“, meint Gan zu ihrer Katze.
Gan legt das Visier ab und trägt das Blech mit den Cupcakes singend in den Verkaufsraum.
Just in diesem Moment wird die Ladentüre aufgestoßen. Die Glocke über dem Eingang bimmelt.
„Huh?“, schrickt Gan hoch. Etwas fliegt in ihren Laden. Es ist ein kleines Tier, etwa faustgroß mit großen Ohren, einem pinken Schwanz und Taubenflügeln. „EINE FLEDERMAUS?“
Es ist keine Fledermaus im herkömmlichen Sinne, sondern eine echte Maus (das Nagetier) mit Flügeln. Gejagt wird sie von Gans goldenem Rüden Sheriff. Die Fledermaus macht wilde Pirouetten und stößt dabei eine Reihe Gefäße mit Mehl, Zucker und verschiedenen Körnern um.
„Mist, ich hab‘ die Tür nicht richtig zugemacht!“, zischt Gan, stellt das Blech ab und schnappt sich schnellstmöglich den Besen, der in der Ecke steht.
Währenddessen hüpft Sheriff auf die Theke und verfehlt nur um Haaresbreite Gans Blech mit den fertigen Cupcakes.
„MENSCH, SHERIFF, PASS DOCH AUF!“, kreischt Gan.
Sie versucht, die Fledermaus mit dem Besen durch die offene Tür zu scheuchen. Zurück in die Tundra, in der Gan die Zuckerkorntrompeten gepflückt hat. Fledermäuse versammeln sich in der Nähe von Zuckerkorntrompetenfeldern, weil die magischen Blumen nachts Lichts spenden. Die Fledermaus weicht Gans Besenhieben mühelos aus. Mit einem ihrer Mäusefinger zieht sie sich das ein Augenlid nach unten und zeigt Gan die schwarze Zunge.
„DUUUU!“, knurrt Gan. Eine Ader tritt auf ihrer Stirn hervor. Da zieht selbst Sheriff den Schwanz ein.
Plötzlich ändert die Fledermaus ihren Kurs. Sie schießt direkt auf Gans Cupcakes zu, oder genauer gesagt: auf die Zuckerkörner, die ihre Hauben schmücken. Gan verhindert mit einem Besenhieb, dass sich die Fledermaus ein Zuckerkorn stibitzt.
„HAU AB! WEISST DU EIGENTLICH WIE VIEL MÜHE ES GEMACHT HAT, SO VIELE ZUCKERKORNTROMPETEN ZU ÖFFNEN? SUCH DIR SELBST WELCHE!“, brüllt Gan. Sheriff unterstützt sein Frauchen und schlägt mit den Pfoten nach dem Eindringling.
Die Fledermaus keckert.
Auf einem Stuhl neben der Ladentüre steht ein Korb, in dem sich weitere Zuckerkorntrompeten befinden. Gan wollte sie einfrieren, um sie später für eine ihrer Kreationen nutzen zu können.
Die Fledermaus fliegt einen Looping und schnappt sich eine der Blumen. Mit der Zuckerkorntrompete in den Händen zieht sie an der Decke Kreise.
Sheriff versucht, bellend zu ihr hochzuspringen. Der Krach im Verkaufsraum ruft nun auch Claudette auf den Plan. Sie springt anmutig auf den Tresen und schaut Gan und Sheriff gespannt dabei zu, wie sie beide immer mehr aus ihrer Haut fahren.
Die Fledermaus schießt in einer Spirale nach unten und landet mittig auf dem Blech mit Gans Cupcakes.
Gan sieht dunkelrot. Sie schlägt mit dem Besen auf das Blech. Im gleichen Moment beißt Sheriff nach der Fledermaus. Gans Besen verfehlt Sheriffs Schnauze um Haaresbreite. Die Fledermaus flattert einmal mit den Flügeln und lässt die Zuckerkorntrompete geschickt in Sheriffs Maul fallen. Der Hund schnappt zu. Rotes glitzerndes Giftgas verteilt sich in Gans Laden. Die Fledermaus hält sich die Nase zu und ergattert einen der goldenen Zuckerkorn-Kristalle von den zu Matsch zerschlagenen Cupcakes. Sie schleudert den Cupcake in die Luft und verschlingt ihn mit einem Happs. Die Fledermaus dreht eine Siegerrunde durch Gans Laden und entkommt dann durch die offene Tür zurück in ihre Welt.
Gan hält sich den Ärmel vor das Gesicht und schlägt die Ladentür zu. In Windeseile öffnet sie alle Fenster. Schon jetzt spürt sie, wie sich die ersten Pickel wie Maulwurfshügel aus ihrer Stirn drücken. Sheriff hat es noch schlimmer erwischt. Seine Nase ist dick angeschwollen und leuchtet wie das Hinterteil eines Glühwürmchens in einem stechenden Rot-Ton.
„So ein Mist aber auch!“, schnaubt Gan, während sie sich um die Nase ihres Hundes kümmert. Claudette zieht sich in die Küche zurück und macht es sich wieder auf der Fensterbank gemütlich.
„Da hilft nur noch warmer Cleomagna-Auszug! Der macht es zwar auch nicht wieder gut, aber zumindest dürfte die Schwellung etwas zurückgehen.“
Sheriff wimmert.
„Es tut mir leid!“, sagt Gan. „Ich hätte nicht vergessen dürfen, die Tür richtig zuzumachen.“
Gan eilt in ihre Küche und setzt Wasser auf. Getrockneten Cleomagna-Klee hat sie im Vorratsraum. Auf den Weg in ihr Lager vermeidet sie tunlichst, einen Blick auf das Blech auf ihrem Tresen zu werfen.
Von den zehn Cupcakes hat Gan neun zu Brei geschlagen. Und auf dem Letzten fehlt das Zuckerkorn.