Читать книгу Wettstreit der purpurnen Raben - Florian Rattinger - Страница 16
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Оглавление„Du bist das gewesen, oder?“
Gans Kopf schwebt über dem Ei im Kupfertopf. Sie schüttelt sich. Immer noch zergeht ihr der Geschmack des Karamell-Krümels auf der Zunge.
Das kleine Wesen schnarcht. Im Ei steigen winzige Blasen auf, die hoch zur Schale schweben und sie beim Platzen zum Vibrieren bringen.
„Aber wie sollst du das angestellt haben?“, fragt sich Gan. Sie bewegt sich ein paar Zentimeter nach rechts und ändert ihren Blickwinkel: „Bist du wirklich so müde oder tust du nur so?“ Der Vogel ratzt weiter ungestört vor sich hin. „Gut, also wenn du dich so wohl bei mir fühlst, hast du doch nichts dagegen, wenn ich dich erst später zurück nach Hause bringe, oder?“
Keine Antwort.
Gan rauft sich die Haare.
„Wie du willst! Dann mach ich jetzt ein Nickerchen!“
Auf dem Weg zu ihrem Bett streift sie ihre Kleider ab. Auf ihrer Kommode liegt der Schlafanzug mit dem Blümchen-Muster, den Gan zur Ladeneröffnung von ihrer Mutter geschenkt bekommen hat. Beim Umziehen bekommt Gan nicht mit, wie der Vogel seine Augen öffnet und ihr die Zungenspitze zeigt.
„Wohin könnte ich heute Nachmittag reisen?“, fragt sich Gan, als sie sich ihre Decke bis zum Kinn hochzieht. Nach einem sonnigen Morgen hat es in der Hafenstadt Eskala angefangen, zu regnen. Auf die kleinen bärtigen Männchen und ihre leuchtenden Morcheln hat sie nach der Erfahrung gestern keine Lust mehr.
„Ich such’s mir aus, nachdem ich mich hingelegt habe.“
Claudette kuschelt sich an Gans Beine, Sheriff versucht ebenfalls, zu schlafen. Mit einem guten Gefühl (das auch etwas mit ihrer vollen Kasse zu tun hat) döst Gan weg.
„DIE 758. WELT!“
Gan setzt sich mit einem Ruck auf. Sie hatte einen angenehmen Traum vom Strand: Weißer Sand und blaues Meer, dazu die warme Sonne und das sanfte Branden von Wellen.
Claudette schreckt auf. Dieses Mal weiß sie es aber besser und eilt auf den Boden, statt in die Luft zu springen. Sie ist nicht begeistert von der Idee, noch einmal von Gans Kissen getroffen zu werden.
Statt mit Kissen um sich zu werfen, patscht sich Gan das Gesicht. Sie ist erholt. Kleine Schläfchen wirken da Wunder. Zumindest ist das bei Gan so.
Es ist 15 Uhr. Eine gute Zeit, um ihr nachmittägliches Vorhaben zu starten.
Gan wirft sich ihre Klamotten über, dann eilt sie in die Küche und betrachtet als erstes das seltsame Ei. Sie legt ihre Hände auf die durchsichtige Schale. Es vibriert noch immer. Der Vogel schläft.
„Weißt du, ich habe keine Ahnung, wie genau ich dich zurückbringen soll.“
Gan holt ihre Dimensionsweiche aus dem Boden. Gestern hatte sie keine Zeit mehr gehabt, um sie zu inspizieren. Nun bewahrheitet sich ihre Befürchtung. Der Hebel steht statt auf links auf ganz rechts. Als Gan versucht, ihn zurückzuschieben, stellt sie fest, dass ihr der Hebel keinerlei Widerstand leistet.
„Es ist die Feder...“
Gan holt sich eine Taschenfeuerlampe und leuchtet in die komplexe Maschinerie ihrer Weiche. Mit Pinzettenfingern holt sie ein verbogenes Stück Metall aus einem kleinen Zwischenraum.
„Gebrochen...!“, sagt sich Gan und lässt die kaputte Feder einfach auf den Boden fallen. „Glücklicherweise lässt sich das leicht reparieren.“
Aus einer Schublade holt Gan eine Spule dicken silberglänzenden Titan-Drahtes. Sie schneidet ein Stück davon mit einer diamantverstärkten Schere ab, dann richtet sie ihren Zauberstab auf das Metall und sagt: „Flecte Filum!“ Der goldene Draht dreht sich wie von Zauberhand zu einer Spirale ein. Ein paar Handgriffe später und die neue Feder ist in die Weiche eingesetzt. Gan muss jetzt wieder Kraft aufwenden, um den Hebel zu verstellen.
„So, bei dem ganzen Chaos gestern war das nun ein Kinderspiel!“, grunzt sie und stemmt die Arme in die Hüften.
Sie hat einen Fleck Öl im Gesicht, doch weder Claudette noch Sheriff teilen ihr das mit.
Gans Blick fällt erneut auf das Ei im Topf.
„So, aber was machen wir jetzt mit dir?“ Gan ist ehrlich besorgt. „In der Bibliothek der PEC gibt es Bücher, in denen ich zu deiner Heimat nachforschen könnte. Mit einem kleinen Verkleidungszauber dürfte ich da gar nicht auffallen. Zumindest solange nicht Professorin Ludowig Aufsicht hält.“ Sie streicht über die porige Schale des Eis. „Aber das schaffe ich heute nicht mehr. Bist du mir denn böse, wenn du noch eine kleine Weile bei mir bleibst? Ich weiß, das ist gemein, schließlich wäre ich ohne dich noch immer in einer vollkommen verdrehten Welt gefangen.“ Beim Gedanken an dem Raum zwischen den Welten bekommt Gan Bauchweh. „Wenn ich zurückkomme, wirst du das Erste sein, worum ich mich kümmere! Versprochen!“
Da der Vogel keinen Einspruch erhebt, wendet sich Gan erneut ihrer Dimensionsweiche zu. Sie stellt sie auf genau 203,03 Grad ein.
„Will jemand mitkommen?“, fragt Gan Claudette und Sheriff. Statt zu antworten, verschwindet Claudette durch die Katzenklappe. Sheriff besitzt wenigstens den Anstand und bellt.
„Dann passt mir gut auf den Laden auf. Ich möchte nicht, dass Derrick mir noch einmal so einen Streich wie gestern spielt!“ Gan kratzt sich am Kinn. Sie schnappt sich ihren Zauberstab und hext mit „Pingunt in Ollam“ einen Eimer Farbe über ihre Ladentür. „Sicher ist sicher“, sagt sie.
Gan setzt ihren Hexenhut auf (den schwarzen, nicht den weißen), schultert sich ihren Abenteuerrucksack um, nimmt ihren Sammelkorb und wirft einen letzten Blick auf ihren Laden, den Eimer Farbe und das Ei im Topf. Dann öffnet sie ihre Weltentür und tritt hinein in die Finsternis, die sie von einem neuen Abenteuer trennt.