Читать книгу Wettstreit der purpurnen Raben - Florian Rattinger - Страница 15

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Gan hat die ganze Nacht durchgebacken. Um nicht einzuschlafen, hat sie sich um halb 2 Uhr nachts eine extra große Kanne Espresso gehext und sie in einem Zug ausgetrunken.

Ihr Herz hat galoppiert wie eine Armada Schlachtrösser. Die Stunden sind dahingeschmolzen. Um fünf vor 7 sind Gans Vitrinen komplett ausgefüllt. Diese Menge hat sie seit ihrer Abschlussprüfung nicht mehr gebacken. Im ganzen Laden riecht man karamellisierten Zucker.

Wie jeden Morgen beschreibt Gan nun noch das Schild, das sie vor ihren Laden stellt. Normalerweise kündigt sie auf dem Schild ihre Spezialität des Tages an, da sie heute aber mit keiner aufwarten kann, schreibt sie schlicht: „Kunden-Treue-Bonus: 5% Rabatt auf alle Waren.“

Gan schmerzt es, ihre Waren unter Wert zu verkaufen, aber irgendwie muss sie Derrick ja den Zulauf verwehren.

Der erste Kunde lässt nicht lange auf sich warten. Es ist Sir Uther, ein zweihundertjähriger Alchemist, der trotz seines Alters jeden Morgen Sport treibt. Heute ist er mit Greifenflügeln unterwegs. Sie sind das Einstiegsmodell in der Welt des Flugsports – ähnlich wie Schwimmflügel beim Schwimmen. Vor einem halben Jahr hat Sir Uther mit dieser Trendsportart angefangen. Der dürre Körper des Alchemisten ist verschwitzt. Als er lächelt, zeigt er Zähne aus allen möglichen bunten Metallen.

„Guten Morgen, Fräulein Priori!“, begrüßt Uther Gan.

„Guten Morgen, Sir Uther“, grüßt Gan zurück. „Was kann ich für Sie tun?“

Sir Uther braucht einen Moment, um sich an Gans Sortiment sattzusehen. Beim Sprechen schmatzt er.

„Heute sind Sie ja ganz schön fleißig gewesen.“

„Für meine Kunden gebe ich alles“, sagt Gan im Versuch zu imponieren.

„Das, meine Liebe, habe ich nie in Frage gestellt!“, antwortet Uther. „Grundgütige, ich weiß ja gar nicht, was ich heute nehmen soll!“

„Ich kann die Zuckerbrezeln, die Minz-Macarons oder die Montagenes au Chocolat empfehlen!“

„Dann nehme ich doch von allen Dreien jeweils zwei Stück!“, sagt Uther. „Eines für mich und eines für meine Frau.“

„Gerne!“, sagt Gan und packt daraufhin ihre Waren in aufwendig gestaltete Pappschachteln. „Geht das so oder benötigen Sie eine Tüte?“

„Geben Sie mir das bitte so! Ich glaube, ich spaziere nach Hause. Heute habe ich mich beim Fliegen etwas verausgabt.“

Gan überreicht ihre Waren und bringt ihren Kunden anschließend persönlich an die Tür.

„Übrigens Frau Priori, Ihre Haare gefallen mir heute besonders!“

„Vielen Dank!“, antwortet Gan geschmeichelt. Sie hat sich ihre Haare länger gehext, um die Zuckerkorn-Pickel zu verdecken – außerdem ist die Farbe heute ein paar Stufen dunkler. „Richten Sie Ihrer Frau bitte einen lieben Gruß aus!“

„Das mache ich!“

Zum Abschied krault Sir Uther Sheriff die Ohren. Dann joggt der in die Jahre gekommene Alchemist los. Die Greifenflügel auf seinem Rücken flattern im Wind.

Im Lauf der ersten halben Stunde hat Gan dreißig Kunden. Das ist um die Hälfte mehr als sonst. Der Beweis, dass ihre Rabatt-Aktion funktioniert. Außerdem nimmt sie Derrick damit Kunden weg - das ist das Beste daran.

Um kurz nach 9 Uhr kehrt Sir Uther zurück.

„Hallo, Fräulein Priori!“, begrüßt er Gan. Er ist ganz rot im Gesicht. Vor Gans Laden steht ein Tretrad. An den Reifen sind Gewichte befestigt, damit sie sich schwerer treten lassen. „Ich komme nicht umhin, ihren Laden heute ein zweites Mal aufzusuchen!“

„Das freut mich“, sagt Gan verdutzt. Zugegeben, die meisten ihrer Kunden sind Stammkunden. Dennoch ist es bisher noch nicht vorgekommen, dass einer ihrer Kunden mehrmals an einem Tag bei ihr eingekauft. „Wie kann ich Ihnen dieses Mal behilflich sein?“

„Ich möchte noch einmal jeweils fünf Stück der Zuckerbrezen, der grünen Macarons und des Schokoladen-Cupcakes.“ Uther saugt zwischen den Worten immer wieder Luft an.

Gan hebt eine Augenbraue. Sie sagt: „Sind sie da sicher? Das ist ziemlich viel.“

„Ich bitte darum!“, sagt Sir Urther.

Als sie sich daran macht, die Pappschachteln zu bestücken, ergänzt Uther:

„Außerdem hätte ich gerne fünf Exemplare der Coucher de Soleil Orange, zehn Caramel Crunch und ein Dutzend Mariposa Azuls.“

Gan schürzt die Lippen.

„Wollen Sie mir den ganzen Laden leerkaufen?“

Sir Uther schenkt Gan ein bezauberndes Lächeln.

„Meine Frau und ich sind beim Verspeisen ihrer Stücke in Ekstase verfallen. Heute besuchen mich meine Ururenkel – denen will ich Ihre Köstlichkeiten nicht vorenthalten, Fräulein Priori!“

„Das freut mich zu hören!“, antwortet Gan. Das meint sie ernst. Ein so überschwängliches Lob hat sie noch nie bekommen. Mit Schmetterlingen im Bauch packt Gan Sir Uthers Bestellung zu Ende. Der Berg an Schachteln ist am Schluss größer als der Alchemist.

„Das macht mit dem Rabatt 75 Aurum. Geht es so oder soll ich Ihnen die Sachen nach Hause liefern lassen?“, fragt Gan. Der Sportenthusiast legt Gan einen Palladium-Schein auf den Münzteller und sagt: „Das stimmt so. Und das geht schon. Trotzdem danke für das Angebot!“

Sir Uthers Augen glitzern beim Hinausgehen. Gan begleitet ihn zur Tür. Sir Uther stapelt die Schachteln mit Gans Leckereien auf dem Gepäckträger seines Rades und fährt dann im Eiltempo davon. Gan sieht ihm ungläubig nach.

„Das war seltsam“, sagt sie leise.

Und seltsam wäre es geblieben, wäre es der einzige Vorfall dieser Art gewesen.

Im Laufe der nächsten Stunde besuchen die meisten von Gans Kunden sie ein zweites Mal. Ihre letzte Kundin ist Henna. Das Mädchen kommt fünf Minuten vor Ladenschluss. Sie hat eine Plastiktüte des Dulce Sueños in der Hand.

„Hey, Gan!“

„Hey, Henna!“

„Hast du noch was übrig?“

„Drei Caramel Crunch.“

Den Rest ihrer Waren hat Gan vor fünfzehn Minuten verkauft. Ihr Geschäft ist mit Ausnahme der ersten Woche ihrer Eröffnung noch nie so gut gelaufen wie heute. Das muss an ihrer Rabattaktion liegen, meint Gan.

„Kannst du mir die bitte einpacken?“

Während Gan die drei Cupcakes in eine Schachtel packt, streichelt Henna Sheriff den Kopf. Seine Nase ist vom Giftgas der Zuckerkorntrompete noch ein bisschen empfindlich. Er niest Henna in die Hand. Angeekelt wischt sie sich die Hand an ihrem Kleid ab. Dazu stellt sie Derricks Tüte auf Gans Tresen.

„Schon probiert?“, fragt Gan und bemüht sich dabei, nicht neugierig zu klingen.

„Sind nicht so gut wie deine Sachen“, antwortet Henna. „Die Zuckerbrezen schmecken irgendwie... nach Motoröl. Mama und Papa wollten wissen, was dieser Derrick zu bieten hat. Bist du mir böse deswegen?“

„Ach wo!“, antwortet Gan. Sie kann es sich nicht leisten, ihre Kunden durch ihre Animositäten zu vergraulen.

„Heute schwärmt das ganze Dorf von deinen Waren“, sagt Henna, als sie die drei Caramel Crunch in Empfang nimmt.

„Ach echt?“, fragt Gan nach.

„Sir Uther joggt mit einem Taucheranzug durch die Straßen. Dabei gibt er eine Lobeshymne nach der anderen auf das Fais De Beaux Rêves zum besten.“

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„Ja, er ist ja schon ein komischer Kauz, aber das schießt den Vogel ab.“

Gan begleitet Henna zur Tür. Sheriff macht sie ihr auf. Er beißt dabei auf ein Tau, das Gan extra deswegen angebracht hat.

„Ich komm dann morgen wieder vorbei“, sagt Henna.

„Ich bin für dich da!“, erwidert Gan mit einem freundlichen Lächeln.

Nachdem Henna gegangen ist, verschließt Gan ihre Ladentür und dreht das Schild im Schaufenster auf „GESCHLOSSEN.“

Anschließend lässt sie sich auf den Stuhl bei ihrer Kasse fallen. Sie atmet tief aus. Nach ihrer Nacht war es für Gan ein aufregender und anstrengender Vormittag. Die Wirkung der Kanne Espresso ist verflogen. Gan ist fix und alle.

„Jetzt gönn ich mir erst einmal eine ordentliche Mütze Schlaf!“, verkündet sie dem leeren Raum. Gan muss ihre Mutter bitten, ihre Blumen zu gießen, sollte sie noch länger in ihrem Laden nächtigen. Sheriff hat sich bereits in seinen Korb im hinteren Teil des Ladens zurückgezogen und Claudette wartet auf Gans Bett auf sie. Gan wirft einen Blick in den Topf mit dem Ei und sagt: „Tut mir leid, du musst noch eine Weile warten. Aber dir scheint es ja bei mir auch nicht schlecht zu gehen.“ Das seltsame vogelartige Wesen schläft. Es wiegt sanft hin und her und genießt die Wärme von Gans Lampe.

„Komisch, dass sich alle so um meine Waren gerissen haben.“

Normalerweise probiert Gan ihre Waren nicht mehr. Jedes Stück, von dem sie isst, schmälert ihren Profit. Außerdem hat sie genügend Vertrauen in ihre Fähigkeiten, um nicht unbedingt alles, was sie herstellt, abschmecken zu müssen.

Ein Krümel von Hennas Caramel Crunches liegt auf dem Tresen. Gan drückt ihn mit dem Zeigefinger an und steckt ihn sich dann in den Mund. Sie ist schon dabei, sich ihren Pullover über den Kopf zu ziehen, als sie vom Donner gerührt stehen bleibt.

Ihre Haare stellen sich auf, als hätte sie in eine Steckdose gefasst.

„MANNOMANNOMANN, SCHMECKT DAS GUT!“

Wettstreit der purpurnen Raben

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