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2.4.4 Auffällige syntaktische Phänomene

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Soll ein Text auf der syntaktischen Ebene Gliederungsmerkmale enthalten, so müssen diese aus der Gesamtgestaltung deutlich hervortreten. Dafür kommen einerseits besondere Konjunktionen und Partikeln, andererseits hervorstechende Satzformen und Satzkonstruktionen in Betracht. Um sie identifizieren zu können, bedarf es freilich vorab einer überblicksartigen Wahrnehmung der grundlegenden Prinzipien, nach denen der Text syntaktisch aufgebaut ist.

Lk 15,11b–32 besteht als Erzählung zum einen aus kurzen, meist vier bis zehn Wörter umfassenden Aussagesätzen, zum andern aus diversen, unterschiedlich langen Passagen direkter Rede[91]. Verknüpft werden die Sätze meist durch καί »und« sowie δέ »aber«. Finite Verbformen in den Aussagesätzen erscheinen fast immer in der 3. Person Singular sowie überwiegend im Aorist und verbinden sich öfters mit einem Infinitiv oder einem Partizip; in direkter Rede wechseln sich einerseits verschiedene Tempora, andererseits Indikativformen verschiedener grammatischer Personen, Infinitive und Imperative ab.

In diesem Rahmen fallen folgende Phänomene auf: a) Als Aussagesatz ist bereits der erste Teil von Lk 15,13 (bis einschließlich »in ein fernes Land«) mit 14 Wörtern ungewöhnlich lang. Umso mehr gilt dies für V. 20b, dessen Teilsätze über insgesamt 22 Wörter einen zusammenhängenden Handlungsablauf schildern. Beide Teilverse korrespondieren sachlich miteinander, insofern der erste den Fortgang, der zweite die Rückkehr des jüngeren Sohnes thematisiert (worauf auch das hier wie dort belegte Wort μακρά[ν] »fern« hindeutet)[92]. Außerordentlich kurz ist dagegen V. 24c, der nur drei Wörter umfasst.

b) Der letztgenannte Satz sticht auch dadurch hervor, dass ihn ausnahmsweise ein Verb der 3. Person Plural regiert.[93] Er greift damit den seinerseits singulären Adhortativ Plural in Lk 15,23c auf. Diese Abfolge von Imperativ und Indikativ wiederum findet ihre Entsprechung in V. 12c–d. An beiden Stellen notiert der Erzähler, dass eine Aufforderung umgehend umgesetzt wurde.

c) Hinsichtlich der Verwendung von Partizipien ziehen die genitivi absoluti in Lk 15,14init. und V. 20binit. besondere Aufmerksamkeit auf sich. In beiden Fällen führt die Konstruktion auf eine dramatische Entwicklung der Geschichte hin – |32|die im ersten Fall mit dem Ausbruch einer Hungersnot, im zweiten mit dem unerwarteten Entgegenkommen des Vaters anhebt.

d) Beim Tempusgebrauch in den narrativen Passagen ist zu beobachten, dass sich der geschilderte Geschehensablauf durch den Einsatz jeweils mehrerer Imperfektformen an zwei Stellen stark verzögert: In Lk 15,16[94] erreicht die in V. 14 einsetzende Schilderung des Elends, in das der jüngere Sohn stürzt, ihren Tiefpunkt;[95] in 15,26–28[96] wird das laufende Fest durch die Reaktion des (in V. 25a erstmals erwähnten) älteren Sohnes in Frage gestellt. Hier wie dort spitzt der Erzähler eine Problematik zu, um sie im Folgenden – durch das Selbstgespräch des jüngeren Sohnes in 15,17–19, durch den Disput[97] zwischen Vater und älterem Sohn in 15,28b–32 – einer Lösung zuzuführen.

e) Der Einsatz von Tempora und Modi in den Passagen direkter Rede spiegelt den Ablauf der erzählten Geschichte wider:

 Die Forderung an den Vater in Lk 15,12b–c (Imperativ) bereitet den Fortgang des jüngeren Sohnes vor, weist also in die Zukunft.

 Sein Selbstgespräch führt von der Lagebetrachtung (Präsens in Lk 15,17b–c) zu einem Entschluss (Futur in V. 18a), wobei die konzipierte Rede an den Vater (15,18b–19b) ihrerseits Rückblick, Kommentar zur Gegenwart und Bitte für die Zukunft – jeweils asyndetisch – miteinander verknüpft.

 Bei seiner Ankunft kann der Sohn sein Redekonzept nicht zu Ende führen (Lk 15,21) – an Stelle seiner Bitte erscheint der Auftrag des Vaters an die Diener (15,22f.) samt einer Begründung (V. 24a–b)[98], welche die Rückkehr des Sohnes als Übergang aus dem Zustand des Todes (Imperfekt) in ein neu beginnendes Leben (ingressiver Aorist) interpretiert.

 Der Wortwechsel in Lk 15,26f. erfährt eine eigene, zurückhaltende Gestaltung: Die Frage des älteren Sohnes wird nur indirekt wiedergegeben, und ein ὅτι recitativum führt die Antwort des zuvor herbeigerufenen Burschen ein. Letztere lenkt dabei den Blick der Leserschaft durch den Gebrauch der Perfektform ἥκει »er ist gekommen« und des präsentischen Partizips ὑγιαίνοντα »gesund« auf die erneute Präsenz des jüngeren Sohnes im Vaterhaus. Der Wortwechsel erscheint somit als eine Art Zwischenspiel, das den abschließenden Dialog zwischen älterem Sohn und Vater vorbereitet.

 Dieser Dialog (Lk 15,28b–32) umfasst ein – inhaltlich vom Erzähler nicht entfaltetes – »Zureden« des Vaters sowie zwei längere Voten, die jeweils einen Überblick über die Beziehungsgeschichte zwischen Vater und Sohn (Präsens samt Aorist in V. 29b–c, Präsens in V. 32b–d) mit einer Bewertung der Festeröffnung (Aorist in V. 30, Imperfekt in V. 32) verbinden.

|33|Demnach weisen alle Äußerungen der Handlungsträger in der einen oder anderen Weise auf die Notwendigkeit einer feierlichen Erneuerung der Gemeinschaft zwischen dem jüngeren Sohn und seinem Vater voraus oder zurück.

f) Besondere Akzente setzen die je nur einmal belegten Partikeln ἔτι »noch« (Lk 15,20b), ταχύ »schnell« (V. 22b), ὡς »als« (V. 25b), ἰδού »siehe« (V. 29b) und ὅτε »als« (V. 30a). Sie alle betonen am Beginn eines Satzes dessen ebenso unmittelbaren wie antithetischen Zusammenhang mit dem jeweils Vorhergehenden. Einzigartig ist zudem die Zitateinleitung mit ἔφη in V. 17a (statt wie sonst εἶπεν); sie hebt das Selbstgespräch 15,17b–19 hervor.

Anhand der notierten Beobachtungen kann man den Aufbau der Erzählung Lk 15,11b–32 exakt nachzeichnen. Daraus entsteht folgende Übersicht:

11b Vorbemerkung: ein Mensch hatte zwei Söhne
12 Bitte des jüngeren um Auszahlung des Erbes (Imp.) → Vollzug der Erbteilung (Ind.)
13init. der jüngere Sohn holte alles zusammen und zog in ein fernes Land (langer Satz)
13fin. er verprasste sein Gut
14–16 als er alles ausgegeben hatte (gen. abs.), versank er infolge einer Hungersnot nach und nach im Elend (alle Sätze mit καί verknüpft, am Ende Impf.)
17–19 Selbstgespräch (ἔφη): Bestandsaufnahme (Präs.) – Entschluss (Fut.) – Redekonzept (Rückblick, Kommentierung der Gegenwart, Bitte)
20a Aufbruch zum Vater
20b als er noch fern war (ἔτι, gen. abs.), eilte ihm der Vater zur Begrüßung entgegen (langer Satz)
21–24 der Sohn begann mit seiner geplanten Rede – an die Stelle seiner Bitte tritt aber
der Auftrag des Vaters an die Diener (ταχύ), den Sohn einzukleiden und anlässlich seiner Rückkehr aus dem Tod (Impf.) ins Leben ein Fest zu beginnen (Adhortativ Pl.) → Beginn des Festes (Ind. 3. Pl., kurzer Satz)
25a der ältere Sohn war derweil auf dem Feld (Impf.)
25b als (ὡς) er heimkam, hörte er den Festlärm
26–27 Vorgespräch (einleitend Impf., zurückhaltend gestaltet) mit dem Burschen (Blick auf die Präsenz des jüngeren Sohnes [Perf., präs. Partizip])
28a Weigerung hineinzugehen (Impf.)
28b (hier und im Folgenden durchweg δέ): der Vater redete ihm zu (Impf.)
29–32 auf die Klage des Sohnes über das Missverhältnis zwischen seiner Beziehung zum Vater (ἰδού, Präs.) und der Eröffnung des Festes für den anderen Sohn (ὅτε, Aor.) antwortete der Vater, indem er seine Gemeinschaft mit dem Älteren (Präs.) und die Notwendigkeit (Impf.) eines Freudenfestes anlässlich der Rückkehr des Jüngeren aus dem Tod (Impf.) ins Leben (modifizierte Wiederholung von V. 24a–b) bekräftigte

Die syntaktisch auffälligen Phänomene lassen, so zeigt sich, die Segmentierung des Textes erkennen und erlauben es in ihrer Summe zudem, das Zentrum der Erzählung zu bestimmen. Eine hierarchische Einordnung der Segmente ist aber allein aufgrund dieser Phänomene nicht möglich. Dies liegt vor allem daran, dass ein analoger Wortgebrauch oder Satzbau an verschiedenen Stellen je anderes |34|Gewicht haben kann.[99] Insofern stellen solche Phänomene zwar »Texttrenner«, nicht jedoch selbständige »Gliederungsmerkmale« dar.[100]

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