Читать книгу Erzählstrukturen im Neuen Testament - Florian Wilk - Страница 4

Оглавление

[Zum Inhalt]

|1|1. Einleitung

1.1 Die Aufgabe

Wer erzählt, bringt anderen Menschen gegenüber zur Sprache, dass und wie sich ein bestimmtes Geschehen vollzogen hat. Das Erzählen gehört insofern »zu den Basisformen sozialer Kommunikation«[1] – und somit auch zu den Redeweisen, die für die Weitergabe der Christusbotschaft von Anfang an grundlegende Bedeutung hatten.[2] Demgemäß hat es das Neue Testament maßgeblich geprägt: Die Evangelien und die Apostelgeschichte bilden insgesamt narrative Texte,[3] und die Briefe enthalten ihrerseits viele erzählende Passagen[4].

In neuerer Zeit sind daher mit Recht sprach- und literaturwissenschaftliche Verfahren auf die Erzählungen des Neuen Testaments angewendet worden, um diese in ihrer textuellen Eigenart zu erfassen.[5] Dabei wird auch und gerade nach der Struktur oder – mit anderen Worten – dem Aufbau neutestamentlicher Erzählungen gefragt. Die Bestandteile eines Textes sind ja

nicht nur ineinander gehängt wie die Glieder einer Kette, sondern bilden ein mehr oder weniger kompliziertes Gefüge mit Überordnung und Unterordnung, sind zu einem Netz … von Beziehungen untereinander verknüpft, d.h., sie bilden eine Struktur. Durch diese Struktur erst wird aus Wörtern und Sätzen ein einheitliches Ganzes mit einer Gesamtbedeutung.[6]

|2|Auf Erzählungen bezogen bedeutet das:

Ein narrativer Text … entsteht nicht schon dadurch, daß einzelne Episoden rein additiv hintereinander gereiht werden … Vielmehr müssen die im Nacheinander erzählten Ereignisse ›etwas miteinander zu tun haben‹, einen gemeinsamen roten Faden aufweisen, gewissermaßen in einer Syntax der Erzählung aufeinander bezogen, d.h. einander über- und untergeordnet sein, kurz: im Ganzen der Erzählung zu einer Struktur gefügt sein …[7]

Das wissenschaftliche Bemühen, die Strukturen neutestamentlicher Erzählungen zu ermitteln, ist deshalb sehr zu begrüßen. Das gilt umso mehr, als immer noch viele exegetische Untersuchungen zwei markante Lücken aufweisen. Die erste Lücke besteht darin, dass der Aufbau der jeweils behandelten Erzählung zwar beschrieben oder in einer Übersicht dargestellt, aber bei der Einzelinterpretation kaum berücksichtigt wird.[8] Wenn jedoch, wie festgestellt, die »Gesamtbedeutung« eines Textes auf seiner Struktur basiert, sollte diese im Zuge der Auslegung durchgehend Beachtung finden; und die genannte Übersicht müsste dann das Gesamtverständnis des betreffenden Textes widerspiegeln. Zweitens liegt eine Lücke dort vor, wo ein Aufbau skizziert wird, ohne dass man erfährt, aus welchen Beobachtungen und Urteilen die Skizze hervorgegangen ist.[9] Wenn aber die Beschreibung der Struktur eines Textes ein Spiegelbild der Auffassung seiner »Gesamtbedeutung« bildet, muss jene Beschreibung ebenso begründet werden wie die Auslegung selbst.

Die Pflicht, eine Übersicht zum Aufbau einer neutestamentlichen Erzählung zu legitimieren, erwächst im wissenschaftlichen Diskurs zudem bereits aus dem Sachverhalt, dass wohl für jeden derartigen Text verschiedene Strukturmodelle vorliegen, die teils erheblich voneinander abweichen und so in Konkurrenz zueinander stehen. Freilich lässt sich deren Vielfalt nicht einfach dadurch aufheben oder jedenfalls begrenzen, dass alle am Diskurs Beteiligten Rechenschaft ablegen, aus welchen Gründen sie jeweils eine bestimmte Ansicht zum Aufbau der betreffenden Erzählung vertreten. Die Forschungssituation ist gerade durch einen Dissens darüber geprägt, auf welche Weise sich die Ermittlung der Textstruktur zu vollziehen hat.

Uneinigkeit herrscht schon bei der grundlegenden Frage nach der Rangfolge von Synchronie und Diachronie. So legen etwa manche Kommentare zum Johannes-Evangelium nicht den textkritisch hergestellten, sondern einen literarkritisch bearbeiteten Wortlaut der Erzählung aus.[10] Doch selbst wenn man nicht |3|alle »Quellen- und Redaktionstheorien« schlicht für »unbegründbar[ ]« hält und das »im Kanon … überlieferte Werk« a priori »als einen kohärenten … Text interpretieren« will,[11] darf man doch wohl voraussetzen, »daß der letzte Redaktor das Werk als einheitlich … angesehen hat«[12]. Dann aber gilt es, allererst dieses Werk auf seinen Aufbau hin zu untersuchen.[13]

Strittig ist ferner, mit welcher Methodik solch eine Untersuchung durchgeführt werden soll. Einige betrachten die Struktur als »the architectural end-product« des Prozesses, in dem ein Erzähler oder eine Erzählerin einen »plot« geschaffen, also diverse Ereignisse »into a coherent narrative whole« arrangiert habe;[14] sie ermitteln die Struktur deshalb im Rahmen einer narrativen Analyse[15]. Anderen gilt die Struktur eines Textes ebenso als Aspekt seiner sprachlichen Form wie Wortwahl, Stil oder Syntax;[16] sie bedienen sich deshalb linguistischer Verfahren, zumal einer Kombination aus syntaktischer und semantischer Analyse, um seinen Aufbau zu beschreiben[17]. Dieser Disput ergibt sich nicht zuletzt aus dem Umstand, dass die Erzählungen des Neuen Testaments aufgrund ihres Alters und ihres stark divergierenden Umfangs nicht einfach den üblichen Gegenständen der Textlinguistik oder denen der Literaturwissenschaft zuzuordnen sind; er lässt sich daher auch nicht einfach so oder so entscheiden. Dann aber bleibt zu prüfen, inwieweit die Ergebnisse verschiedener Analyseverfahren miteinander kompatibel und in welcher Weise sie ggf. in eine Beschreibung des Textaufbaus zu integrieren sind.

|4|Im Übrigen herrscht oftmals Uneinigkeit, welchen (narrativen oder sprachlichen) Gesichtspunkten entscheidendes Gewicht bei der Strukturanalyse eines konkreten Textes zugemessen werden kann.[18]

Die Forschungslage zur Struktur neutestamentlicher Erzählungen ist also von disparaten methodischen Ansätzen und Verfahrensweisen geprägt. Es gilt deshalb zu klären, anhand welcher Kriterien über die Sachgemäßheit solcher Ansätze entschieden werden kann und welche analytischen Mittel dann zur Ermittlung des Aufbaus solch einer Erzählung eingesetzt werden sollen. Der Bearbeitung dieser Aufgabe ist das vorliegende Buch gewidmet.

Erzählstrukturen im Neuen Testament

Подняться наверх