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KAPITEL 5

Der Tod liegt vor mir wie vor einem Mann,

der sich nach langer Knechtschaft zurück nach Hause sehnt.

(Altägyptischer Papyrus)

Der Regen hielt mehrere Tage an. Er wusch das Fenster mit seinen Tränen, spülte den Dreck weg, malte weichgezeichnete Aquarelle von der Welt draußen. Angel arbeitete und schlief und schaute auf die Baracken und triefenden Zelte hinaus, die bis zur Morgendämmerung von tausend Laternen erhellt wurden. Kein bisschen Grün war zu sehen, nur Grau und Braun.

Unten gab es jetzt Frühstück, aber sie hatte keinen Appetit und keine Lust, mit den anderen zusammenzusitzen und sich ihr Gejammer und Gezänk anzuhören.

Der Regen wurde heftiger, und mit ihm kamen die Erinnerungen. An Regennachmittagen hatte sie immer mit ihrer Mutter gespielt. Wenn es regnete, wurde es kalt in dem Schuppen. Die Männer saßen dann in den Kneipen, um sich zu wärmen, auch Rab. Dann nahm Mama Sarah immer auf ihren Schoß und wickelte die große Decke um sie beide. Sarah mochte es, wenn es regnete, weil sie Mama dann ganz für sich allein hatte. Sie schauten den Tropfen auf der Fensterscheibe zu, wie sie größer wurden, miteinander verschmolzen und schließlich als kleiner Fluss hinunterglitten, und Mama erzählte Geschichten aus ihrer Kindheit. Nur die schönen, glücklichen Geschichten. Nicht die, wie ihr Vater sie abgewiesen hatte; keine Silbe über Alex Stafford. Aber wenn sie still wurde, wusste Sarah, dass Mama wieder an ihn dachte und dass es ihr wehtat. Und dann drückte Mama sie ganz fest und wiegte sie hin und her und summte ein Lied. „Alles wird gut, Spatz“, sagte sie und küsste sie. „Dein Leben wird noch schön, du wirst schon sehen.“

Und Angel hatte es gesehen.

Sie drückte die Erinnerungen weg, ließ die Gardine zurückfallen und setzte sich an den kleinen Tisch mit der Spitzendecke. Besser das leere Nichts als dieser Schmerz.

Michael Hosea würde nicht wiederkommen. Jetzt nicht mehr. Sie presste ihre geballten Fäuste auf ihre Augen. Warum dachte sie überhaupt an ihn? „Komm mit mir und werde meine Frau.“ Ja, bis er ihrer müde wurde und sie jemand anderem gab. Wie Duke. Wie Johnny. Das Leben änderte sich nie.

Sie legte sich auf das Bett und zog sich die Satindecke über das Gesicht. Sie sah sie wieder vor sich, die Männer, die den Leichnam ihrer Mutter in das Tuch eingenäht hatten, zuletzt das starr lächelnde Gesicht. All ihre Hoffnung war zerflossen, aufgebraucht, weg. Sie hatte keinen Boden mehr unter den Füßen.

„Ich schaffe das. Allein“, sagte sie laut in die Stille hinein. Fast hörte sie Dukes diabolisches Lachen: „Klar schaffst du das, Angel. Genau wie letztes Mal.“

Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken. „Kann ich mal reinkommen, Angel?“

Es war Lucky. Die liebe Lucky. Sie erinnerte Angel an Mama, nur dass Mama getrunken hatte, um zu vergessen, und Lucky trank, um fröhlich zu sein. Jetzt gerade war sie nicht betrunken, aber in der Hand hatte sie eine Flasche und zwei Gläser.

Lucky setzte sich neben sie auf das Bett. „Du bist in letzter Zeit so komisch, Angel. Ist irgendwas? Du bist doch nicht krank, oder?“

„Mir geht’s gut“, sagte Angel.

„Heute hast du nicht mit uns gefrühstückt.“ Lucky stellte die Flasche und die Gläser auf den kleinen Tisch.

„Ich hatte keinen Appetit.“

„Und gut schlafen tust du auch nicht. Hast richtige Ringe unter den Augen. Bist du traurig?“ Lucky strich Angels Haar sachte zurück. „Ja, das kommt manchmal so über einen, selbst über eine alte Hure wie mich.“

Sie mochte Angel und machte sich Sorgen um sie. Angel war so jung – und so hart. Lucky musste ihr beibringen, auch mal über die Karten zu lachen, die ihr das Schicksal zugespielt hatte. Sie war wunderschön – ein großer Vorteil in diesem Beruf. Eine seltene Blume in diesem Unkrautgarten, etwas Besonderes. Die anderen konnten sie nicht leiden. Wegen ihres Aussehens und weil Angel immer für sich blieb.

Lucky war die Einzige, die Angel an sich heranließ, und auch das nur mit Einschränkungen. Sie durfte über alles reden, außer über Männer und über Gott. Lucky fragte nicht groß, warum; sie war dankbar, dass Angel ihr erlaubte, so etwas wie eine Freundin zu sein.

Heute war Angel ganz besonders still, ihr schönes Gesicht bleich und schmal.

„Ich hab’ uns eine Flasche mitgebracht. Willst du es wieder versuchen mit dem Trinken? Vielleicht geht es diesmal besser, wir machen langsamer.“

„Nein.“ Angel schüttelte sich.

„Du bist wirklich nicht krank?“

„Na ja … Ich hab’ an meine Mutter gedacht.“

Es war das erste Mal, dass sie überhaupt etwas aus ihrer Vergangenheit erwähnte, und Lucky fühlte sich geehrt. Die Mädchen rätselten schon lange darüber, wo Angel hergekommen war. „Ich wusste gar nicht, dass du eine Mutter hattest.“

Angel lächelte zynisch. „Vielleicht hab’ ich auch gar keine gehabt, vielleicht bilde ich mir das nur ein.“

„Du weißt, dass ich das nicht so gemeint hab’.“

„Ist schon gut.“ Angel sah zur Decke hoch. „Manchmal frage ich mich das wirklich.“ Hatte es tatsächlich einmal ein Häuschen mit einem Blumengarten gegeben, wo der Duft der Rosen durch das offene Fenster gekommen war? War ihre Mutter wirklich einmal lachend und singend mit ihr über die Wiesen getanzt?

Lucky berührte ihre Stirn. „Du hast Fieber.“

„Ich habe Kopfweh, das geht wieder weg.“

„Wie lange hast du das schon?“

„Seit dieser Typ angefangen hat, mich zu nerven.“

„Ist er wiedergekommen?“

„Nein.“

„Ich glaube, er war wirklich in dich verliebt. Tut es dir nicht leid, dass du nicht mit ihm gegangen bist?“

Angel spannte sich innerlich an. „Nein. Der war auch so wie alle anderen.“

„Soll ich lieber wieder gehen?“

Angel nahm Luckys Hand und hielt sie fest. „Nein.“ Sie wollte nicht allein sein. Nicht jetzt, wo sie dauernd an ihre Vergangenheit denken musste. Nicht jetzt, wo der Tod ihr durch den Kopf geisterte. Es war der Regen, dieser elende, trommelnde Regen. Er würde sie noch verrückt machen.

Sie saßen lange schweigend da. Lucky goss sich ein Glas ein. Angel musste an Mama denken, wie sie getrunken hatte, um zu vergessen – ihr Elend, ihre Schuld. Stundenlang hatte sie geweint. Sie erinnerte sich auch an Cleo, wie sie betrunken ihre Bitterkeit hinausgelassen und ihr die „heilige Wahrheit“ über die Männer erzählt hatte.

Lucky war nicht wie Mama oder Cleo. Sie war fröhlich und unkompliziert und redete gern. Ihre Worte waren wie ein Balsam. Wenn Angel sich Luckys Lebensgeschichte anhörte, konnte sie vielleicht ihre eigene vergessen …

„Meine Mutter ist fortgelaufen, als ich fünf war“, sagte Lucky. „Hab’ ich dir das schon mal erzählt?“

„Erzähl’s mir noch mal.“

„Meine Tante hat mich dann aufgenommen. Sie war eine vornehme Dame. Miss Priscilla Lantry hieß sie. Verzichtete darauf zu heiraten, weil ihr Vater krank war und sie brauchte; hat den alten Geizhals fünfzehn Jahre lang gepflegt, bis er starb. Er war kaum unter der Erde, da lieferte meine Mutter mich an ihrer Tür ab, nur mit einem Zettel, auf dem stand: ‚Das ist Lucky‘.“ Sie lachte.

„Tante Prissy war nicht begeistert davon, ein Kind aufzuziehen, und noch dazu das von ihrer nichtsnutzigen Schwester. Sie sagte, sie würde zusehen, dass ich ein anständiges Mädchen würde und nicht so eine wie meine Mutter. Wenn sie mich nicht mindestens zweimal am Tag mit der Rute bearbeitete, fühlte sie sich nicht gut. ‚Wer sein Kind liebt, der züchtigt es‘, war ihre Devise.“

Lucky stellte die Flasche auf den Tisch und schob ihr schwarzes Haar aus ihrem roten Gesicht. „Sie trank. Nicht so wie ich. Sie machte alles vornehm. Und auch nicht Whisky, sondern Madeira. Gleich morgens fing sie an, ein Schlückchen hier, ein Schlückchen da. Sah wie Gold aus in dem schönen Kristallglas. Sie war immer so liebenswürdig, wenn die Nachbarinnen sie besuchten.“ Lucky kicherte.

Sie schwenkte aufseufzend die bernsteinfarbene Flüssigkeit in ihrem Glas. „Die fieseste Frau, die ich je kennengelernt hab’, einschließlich der Gräfin. Kaum waren die Gäste wieder aus der Tür, fiel sie über mich her.“ Sie machte einen blasierten Südstaaten-Akzent nach. „‚Du hast nicht geknickst, als Mrs Abernathy gekommen ist. Du hast dir zwei Plätzchen von dem Teller genommen, als ich sagte, dass du dir eines nehmen darfst. Der Lehrer hat mir erzählt, dass du gestern deine Rechenaufgaben nicht gemacht hast‘. Und so weiter.“

Sie trank das Glas halb leer. „Und dann musste ich mich hinsetzen und warten, während sie sich eine Rute von der Weide im Garten schnitt. Sie musste genauso dick sein wie ihr erhobener Zeigefinger.“

Sie hielt das Whiskyglas prüfend vor die Lampe, bevor sie es ganz leerte. „Eines Nachmittags ging sie zum Tee zur Gattin des Pastors. Sie wollten darüber beraten, auf welche Schule für höhere Töchter sie mich schicken sollten. Während sie weg war, hab ich ihr ganzes schönes Kristall kaputt geschlagen. Ich bin weggerannt, bevor sie zurückkam.“ Sie lachte leise. „Manchmal wünschte ich, ich wäre noch lange genug geblieben, um den Ausdruck auf ihrem Gesicht zu sehen, als sie wiederkam.“ Sie hielt das leere Glas in der Hand und starrte es an. „Und dann wünsch’ ich mir wieder, ich könnte zurückgehen und ihr sagen, dass es mir leidtut.“ Sie nahm die Flasche und stand auf, die Augen glasig. „Aber jetzt geh’ ich besser ins Bett, meinen Schönheitsschlaf machen.“

Angel nahm ihre Hand. „Lucky, du darfst nicht so viel trinken. Die Gräfin hat gesagt, sie wirft dich noch raus, wenn du es nicht langsamer angehst.“

„Mach dir mal keine Sorgen um mich, Angel.“ Lucky lächelte leer. „Kürzlich hab’ ich gehört, dass es hier eine Frau auf zwanzig Männer gibt, da stehen meine Aktien gut. Aber du solltest aufpassen. Magowan hasst dich.“

„Magowan ist nur Dreck.“

„Stimmt, aber die Gräfin steht auf ihn, und er erzählt ihr, dass du faul und unverschämt bist. Pass auf dich auf. Bitte.“

Angel zuckte nur die Achseln. Was sollte schon passieren? Die Männer würden weiter kommen und für ihr armseliges Vergnügen zahlen. Bis die anständigen Frauen in den Westen kamen; dann würden sie sie so behandeln wie damals Mama und so tun, als kannten sie sie nicht, wenn sie ihr auf der Straße begegneten. Und die anständigen Frauen würden sich abwenden, während die Kinder sie angaffen und fragen würden: „Wer ist das, Mama?“, worauf die Mütter ihnen befehlen würden, still zu sein. Und so würde es weitergehen, bis Angel zu hässlich oder zu krank geworden war, um zu arbeiten.

Wenn sie nur wie einer von diesen Männern aus den Bergen sein könnte, die als Trapper und Jäger in die Wildnis gingen, sich irgendwo eine Hütte bauten und keiner Menschenseele Rechenschaft schuldig waren. Von allen in Ruhe gelassen werden – das musste der Himmel sein.

Sie erhob sich, ging zur Waschschüssel und wusch sich das Gesicht, aber die Kühle brachte keine Erleichterung. Dann setzte sie sich an den kleinen Tisch neben dem Fenster und sah durch die Gardine hinaus. Auf der Straße stand ein leerer Wagen. Sie musste wieder an Michael Hosea denken – warum nur?

Was, wenn ich mit ihm gegangen wäre? Wäre dann jetzt alles anders?

Sie war 14 gewesen, als sie das erste und einzige Mal mit einem Mann durchgebrannt war. Sie war noch zu unerfahren gewesen, um Johnnys Pläne zu durchschauen. Er hatte ein Mädchen gesucht, das ihn aushielt, und sie hatte von Duke fortgewollt. Sie hatten beide nicht bekommen, was sie wollten. Sie musste wieder daran denken, was Duke gemacht hatte, als er sie eingefangen hatte, und presste entsetzt die Augenlider zusammen. Der arme Johnny.

Sie hatte ihre Ruhe gehabt – bis dieser Farmer gekommen war. Er war genau wie Johnny. Schöne Bilder von der goldenen Freiheit, rosige Versprechungen. Sie glaubte diesen Unfug nicht mehr. Sie glaubte nicht mehr an die Freiheit, sie hatte aufgehört, auch nur von ihr zu träumen – bis dieser Michael Hosea kam, und jetzt konnte sie an nichts anderes mehr denken.

Sie schloss ihre Faust um die Gardine. „Ich muss hier weg.“ Egal wohin, nur weg.

Sie hatte inzwischen genügend verdient, um sich ein kleines Haus leisten zu können und eine Weile nicht mehr arbeiten zu müssen. Sie brauchte nur ihren Mut zusammenzunehmen und zur Gräfin zu gehen, um das Gold von ihr zu fordern. Es war ein Risiko, sicher, aber das war ihr allmählich egal.

Pete, der Barkeeper, war dabei, Gläser zu stapeln, als sie herunterkam. „Morgen, Miss Angel! Willst du spazieren gehen? Soll ich Bret holen?“

Ihr Mut sank. „Nein.“

„Hast du Hunger? Henri hat gerade was für die Gräfin gemacht.“

Vielleicht würde etwas zu Essen ihren Magen beruhigen. Sie nickte, und Pete ließ die Gläser stehen und ging zu der Tür neben der Theke hinaus. Nach einer Minute kam er zurück. „Henri bringt dir gleich was, Angel.“

Da kam der kleine Franzose schon mit seinem Tablett. Er hob den Deckel hoch: Bratkartoffeln und Speck. Der Kaffee war lauwarm. Angel brachte sowieso fast nichts hinunter. Sie versuchte es tapfer, aber das Essen blieb ihr im Hals stecken. Sie trank von dem Kaffee, aber er konnte die Angst nicht ertränken, die wie ein harter Knoten in ihrer Brust saß.

Pete beobachtete sie. „Probleme, Angel?“

„Nein, alles bestens.“ Sie brachte es wohl besser gleich hinter sich. Sie schob den Teller zurück und stand auf.

Die Wohnung der Gräfin lag im Erdgeschoss, hinter dem Casino. Angel blieb vor der schweren Eichentür stehen. Ihre Handflächen waren feucht. Sie wischte die Hände an ihrem Rock ab, holte tief Luft und klopfte.

„Wer ist da?“

„Angel.“

„Komm rein.“

Die Gräfin war gerade dabei, ihren Mund mit einer Serviette abzutupfen. Auf dem Teller aus Dresdner Porzellan lagen die Reste eines Käseomeletts. Ein Ei war zwei Dollar wert, und Käse war für Geld und gute Worte fast nirgends zu bekommen. Wann hatte Angel das letzte Mal ein Ei gesehen? Diese egoistische Kuh! Angel merkte, wie ihre Angst einer wachsenden Wut Platz machte.

Die Gräfin lächelte sie an. „Warum schläfst du nicht? Du siehst furchtbar aus. Hast du was?“

„Ja. Zu viel Arbeit.“

„Unsinn! Du hast nur wieder eine deiner Launen.“ Sie strich ihren seidenen Morgenmantel glatt. Ihre Wangen waren aufgedunsen und sie bekam langsam ein Doppelkinn. Ihr ergrauendes Haar war mit einem rosa Band zusammengebunden. Im Ganzen kein schöner Anblick.

„Setz dich, Kind. Ich sehe, es ist was Unangenehmes. Bret hat mir schon gesagt, dass du nicht zum Frühstück erschienen bist. Möchtest du vielleicht jetzt etwas?“ Die Gräfin machte eine großzügige Handbewegung zu einem Korb mit Brötchen hin.

„Ich will mein Gold.“

Die Gräfin sah keinen Deut überrascht aus. Sie lachte auf und beugte sich nach vorn, um sich Kaffee nachzugießen. Sie gab Kaffeesahne hinein. Angel fragte sich, wo sie sie aufgetrieben und wieviel sie gekostet hatte. Die Gräfin hob die elegante Tasse an ihren rot bemalten Mund und nahm einen kleinen Schluck, die Augen forschend auf Angel gerichtet. „Und warum willst du dein Gold?“ Sie fragte es wie beiläufig.

„Weil es mir gehört.“

Die Gräfin sah sie halb amüsiert, halb mütterlich nachsichtig an. „Nimm dir einen Kaffee, dann können wir in aller Ruhe darüber reden.“

„Ich will keinen Kaffee, und ich will auch nicht darüber reden. Ich will mein Gold, und zwar jetzt gleich.“

Die Gräfin legte den Kopf schief. „Du könntest dich etwas höflicher ausdrücken. Hattest du gestern Abend einen schwierigen Kunden?“ Angel antwortete nicht, und die Augen der Gräfin wurden schmaler. Sie stellte ihre Tasse zurück auf die Untertasse. „Wozu brauchst du dein Gold, Angel? Was gibt es denn hier zu kaufen?“ Ihr Blick war wieder amüsiert, aber auch warnend. „Sag mir, was du willst, und ich versuche, es für dich zu besorgen. Wenn es nicht was Unmögliches ist, natürlich.“

Zum Beispiel Eier. Oder Kaffeesahne. Oder die Freiheit. „Ich möchte ein kleines Haus für mich allein“, sagte Angel.

Das Gesicht der Gräfin verdunkelte sich. „Willst du dich selbstständig machen?“

„Ich werde Ihnen keine Konkurrenz machen, keine Angst. Ich will einfach weg hier und meine Ruhe haben.“

Die Gräfin sah sie mitleidig aufseufzend an. „Angel, solche Phasen haben wir alle mal, glaub mir. Du kannst nicht mehr aussteigen, es ist zu spät.“ Sie stellte ihre Tasse wieder ab. „Ich sorge doch gut für dich, oder? Wenn du Klagen hast, höre ich sie mir an, das ist klar, aber ich kann dich nicht einfach so ziehen lassen. Dies ist ein wildes Land, du wärst keine Minute sicher, so ganz allein. Einem schönen jungen Mädchen wie dir können hundert schreckliche Sachen passieren.“ Ihre Augen glitzerten. „Du brauchst jemanden, der dich beschützt.“

Angel hob das Kinn an. „Wenn nötig, nehme ich mir eben einen Leibwächter.“

Die Gräfin begann zu lachen. „Jemand wie Bret? Ich glaube, du magst ihn nicht ganz so gern wie ich.“

„Oder ich könnte heiraten.“

„Heiraten?“ Die Gräfin gluckste. „Das ist echt süß!“

„Ich habe genug Anträge bekommen.“

„Das glaube ich dir sofort. Selbst unsere Whisky-Lucky hat schon Anträge bekommen, aber sie hat Verstand genug, um zu wissen, dass das nie klappen würde. Kein Mann will eine Hure zur Frau. Die Männer sagen alle möglichen Dummheiten, wenn sie sich einsam fühlen und Lust verspüren, aber danach werden sie bald wieder vernünftig. Und es wäre sowieso nichts für dich.“

„Wenigstens würde ich nur für einen Mann arbeiten.“

Die Gräfin lächelte. „So? Würdest du gern seine Unterhosen waschen und ihm das Essen kochen und seinen Nachttopf leeren und alle seine Wünsche erfüllen? Fändest du das etwa gut? Oder bildest du dir ein, dass du den ganzen Tag auf dem Sofa liegen und die ganze Arbeit von Bediensteten machen lassen könntest? Na ja, woanders vielleicht, aber nicht hier im Wilden Westen, und dann noch in diesen Zeiten. Lass dir raten: Du bleibst besser, wo du bist.“

Angel antwortete nicht.

Der Mund der Gräfin verzog sich spöttisch. „Dein Problem ist, dass du zu eingebildet bist, Angel.“ Sie schüttelte den Kopf. „Manchmal kommt ihr Mädchen mir wie verwöhnte Kinder vor. – Aber gut, meine Liebe, kommen wir zur Sache. Wie viel mehr willst du? Dreißig Prozent?“

„Ich will nur das, was ich bis jetzt verdient habe. Jetzt sofort.“

Die Gräfin seufzte auf. „Schön, wenn es denn sein muss, zahle ich dich aus. Aber du musst dich noch etwas gedulden, ich habe es für dich angelegt.“

Angel saß stocksteif da. Frustration und Wut stiegen in ihr auf. „Dann machen Sie es wieder locker. Ich weiß, dass Sie genügend Gold in Ihrem Safe haben, um mich auszubezahlen, jetzt gleich.“ Sie öffnete ihre Hände. „So ein Sack ungefähr, das ist alles, was ich erwarte. Einer der Kunden, den Sie gestern Abend zu mir geschickt haben, war Buchhalter, der hat mir das vorgerechnet.“

Die Gräfin starrte sie an. „Mädchen, du bist eine undankbare Närrin.“ Sie erhob sich, ein Bild verletzter Mutterehre. „Du scheinst zu vergessen, was ich alles für dich tue. Die Kosten sind nicht mehr so gering wie damals, als wir unser kleines Geschäft angefangen haben. Es wird alles teurer. Allein deine Kleidung kostet ein Vermögen, Seide und Spitze kriegt man nicht an jeder Ecke in so einer Goldgräberstadt. Gute Nahrungsmittel kosten noch mehr, und dieses Haus war auch nicht umsonst!“

Angels Zorn hatte längst jede Spur von Angst weggespült. „Steht denn mein Name im Grundbuch?“

Die Gräfin hielt inne. „Was sagst du da?“

„Ob mein Name im Grundbuch steht?“ Angel stand ebenfalls auf. „Sie trinken Kaffee mit Sahne, Eier und Käse zum Frühstück, gehen jeden Tag in Satin und Spitze, trinken aus dem besten Porzellan!“ Sie nahm eine der Tassen und warf sie an die Wand. „Wie viele Männer habe ich bedienen müssen, damit Sie sich wie ein Schwein mästen und wie eine Schmierenschauspielerin anziehen können? Gräfin? Gräfin Rotz! Du bist doch nur eine dicke alte Hure, die kein Mann mehr will!“

Das Gesicht der Gräfin wurde weiß vor Wut. Angels Herz schlug schneller und schneller. Oh, wie sie diese Frau hasste! „Und vier Unzen Gold kriegst du schon lange nicht mehr für meine Arbeit! Wie hoch ist der Tarif jetzt? Sechs? Acht? Ich müsste längst genug Geld haben, um aus diesem erbärmlichen Loch verschwinden zu können!“

„Und wenn du es nicht hast?“, sagte die Gräfin leise.

Angels Kinn ruckte hoch. „Ein cleveres Mädchen kann immer Kasse machen.“

Die Gräfin hatte ihre Fassung wiedergewonnen. „Ein cleveres Mädchen würde im Traum nicht daran denken, so mit mir zu reden.“

Die Drohung war nicht zu überhören. Angel sank zurück auf den Stuhl, das Herz in der Kehle. Was hatte sie bloß angestellt?

Die Gräfin trat zu ihr und berührte ihr Haar. „Was hab’ ich nicht alles für dich getan! Du erinnerst dich wohl gar nicht mehr an deine ersten Wochen in San Francisco?“ Sie hob Angels Kinn hoch. „Als ich dich das erste Mal sah, warst du voller blauer Flecken und halb verhungert.“ Ihr Griff wurde fester, schmerzhaft. „Ich, ich hab’ dich aus dem Dreck gezogen und was aus dir gemacht. Du bist eine Prinzessin geworden.“ Sie ließ sie los.

„Prinzessin von was?“, sagte Angel tonlos.

„Du bist so undankbar. Allmählich glaube ich, Bret hat recht. Du bist ein größenwahnsinniges Miststück und brauchst Korrektur.“

Angel zitterte innerlich. Die blendende Wut war verflogen. Sie nahm die Hand der Gräfin und drückte sie gegen ihre kalte Wange. „Bitte. Ich halte das nicht mehr aus. Ich muss hier weg.“

„Vielleicht brauchst du mal etwas Abwechslung“, sagte die Gräfin, während sie über ihr Haar strich. „Lass mich darüber nachdenken. Jetzt geh erst mal rauf und ruh dich aus. Wir reden später weiter.“

Angel ging zurück auf ihr Zimmer, setzte sich auf ihr Bett und wartete. Als Magowan ohne anzuklopfen hereinkam, hatte sie ihre Antwort. Sie stand auf und wich vor ihm zurück, während er leise die Tür schloss.

„Die Gräfin hat mir erzählt, dass du ihr vorhin viel zu sagen gehabt hast. Jetzt bin ich dran, Täubchen, und wenn ich mit dir fertig bin, wirst du so brav sein wie Mai Ling. Und ich werd’s genießen, hab’ lange genug darauf warten müssen, das weißt du ja.“

Sie sah zu dem verschlossenen Fenster hin, dann zur Tür.

„Du kommst nicht an mir vorbei.“ Er zog seine schwarze Jacke aus.

Ihr Gedächtnis blitzte zurück zu einem hoch gewachsenen Mann im schwarzen Anzug. Nein, es gab keinen Ausweg. Nie. Nicht für sie. Früher nicht, jetzt nicht und in Zukunft nicht. Wie sie sich auch drehte und wendete, immer war sie gefangen, und jedes Mal wurde es schlimmer.

„Keine Sorge, man wird hinterher nichts davon sehen. Und heute Abend wirst du arbeiten, ob dir danach ist oder nicht.“

Alles, was man ihr je angetan hatte, war wieder da, von ihrer Kindheit in dem Hafenschuppen bis jetzt, in diesem Zimmer. Nie würde es besser werden. Ein Duke, eine Gräfin nach der anderen, das war ihre Welt. Und eine endlose Schlange von Männern vor der Tür. Immer würde jemand da sein, der sie benutzte und verkaufte.

Halt, einen Ausweg gab es!

Vielleicht hatte sie ihn schon immer gekannt. Sie spürte ihn förmlich, wie er wie eine dunkle Gestalt in dem Zimmer stand und ihr zuwinkte. Jetzt endlich war sie bereit für ihn. Ein paar gut gezielte Worte, und Magowan würde sie befreien – für immer.

Magowan runzelte die Stirne bei ihrem Blick. Es war ihr egal, sie hatte keine Angst mehr. Sie begann zu grinsen.

„Was soll das?“

Ihre Augen glühten irre, und sie fing an zu lachen.

„Worüber lachst du?“

„Über dich. Den großen Mann. Den Schoßhund der Gräfin!“ Seine Augen weiteten sich und sie lachte lauter und lauter. Sie hörte selbst, dass sie klang wie eine Verrückte. Es war alles so komisch. Warum sah sie das erst jetzt? Ihr ganzes Leben war ein großer Witz. Sie lachte immer noch, als Magowan sich auf sie stürzte. Beim ersten Schlag hörte sie nicht auf. Auch nicht beim zweiten. Auch nicht beim dritten.

Nach dem vierten Schlag hörte sie nur noch das Brüllen des Tieres in ihren Ohren.

Die Liebe ist stark

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