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KAPITEL 3

Die eigne Not ertrage ich,

doch nicht des Nächsten Hoffnung.

(William Walsh)

Angel wusch sich, schlüpfte in einen frischen Morgenmantel aus blauer Seide und setzte sich auf das Fußende des Bettes, um auf das nächste Klopfen an der Tür zu warten. Noch einer, und sie hatte es für heute geschafft. Aus dem Nebenzimmer kam Luckys Lachen. Lucky war immer so lustig, wenn sie betrunken war, und betrunken war sie meistens. Wenn Lucky ihren Whisky hatte, vergaß sie alles Elend der Welt.

Einmal hatte Angel versucht, mit ihr zu trinken, um zu sehen, ob der Whisky ihr auch beim Vergessen helfen würde, aber schon nach kurzer Zeit hatte sich alles im Kreis gedreht und ihr Magen hatte sich umgestülpt. Lucky hatte ihr den Nachttopf vorgehalten und sie lachend bedauert. Die einen konnten Whisky eben vertragen und die anderen nicht, und Angel gehörte wohl zur zweiten Sorte.

Als dann der nächste Kunde an die Tür geklopft hatte, hatte Angel ihm in wenig damenhaften Worten geraten, sich zu verdünnisieren. Worauf der Kunde zur Gräfin gegangen war und wutschnaubend sein Gold zurückverlangt hatte. Eine Minute später war der Kopf der Gräfin in Angels Tür erschienen. Ein Blick, und sie war im Bilde gewesen und hatte Magowan holen lassen.

Angel mochte Magowan nicht, aber Angst hatte sie auch nicht vor ihm. Er hatte ihr noch nie etwas getan, begleitete sie nur auf ihren Spaziergängen, stumm und regelmäßig, und sorgte dafür, dass niemand sie ansprach. Sie wusste natürlich, dass dies weniger ihrem eigenen Schutz diente als vielmehr dem der Gräfin. Magowan hatte dafür zu sorgen, dass sie stets wieder zurück in den Palast kam.

Mai Ling hatte nie verraten, was Magowan mit ihr gemacht hatte, aber jedes Mal, wenn er in der Nähe war, glomm die nackte Angst in den Augen des chinesischen Mädchens auf. Magowan brauchte Mai Ling bloß anzulächeln, und sie wurde bleich und Schweißperlen traten ihr auf die Stirn. Angel quittierte es mit verächtlicher Miene; um ihr Angst zu machen, musste ein Mann schon mehr vorzuweisen haben als ein großes Maul …

Als Magowan an jenem Abend hereinkam, nahm Angel erst nur einen großen Schatten wahr, der über ihr stand. „Spar dir dein Geld heute lieber“, murmelte sie. Dann erkannte sie ihn. „Ach, du bist es. Geh weg, heute mache ich keinen Spaziergang.“

Er ließ ihre Badewanne mit kaltem Wasser füllen. Kaum waren die beiden Dienstmädchen gegangen, beugte er sich wieder über sie, das Gesicht zu einem diabolischen Grinsen verzerrt. „Wusste doch, dass wir uns irgendwann mal sprechen müssen.“ Er packte sie; sie wehrte sich, plötzlich nüchtern, aber er hob sie hoch und warf sie in das eiskalte Wasser. Sie strampelte und versuchte aufzustehen, da drückte er ihren Kopf unter Wasser. Sie kämpfte gegen den eisernen Griff seiner Pranken. Als ihre Lungen zu platzen drohten und sie dabei war, das Bewusstsein zu verlieren, zog er sie wieder hoch. „Genug?“, sagte er.

„Genug!“, krächzte sie, nach Luft keuchend.

Er drückte sie wieder unter Wasser. Sie kämpfte und trat um sich. Als er sie diesmal wieder hochzog, musste sie erbrechen. Er lachte, und ihr wurde klar: Es machte ihm Spaß. Breitbeinig stand er vor ihr und streckte wieder die Hand aus, um sie erneut herunterzudrücken. Blinder Zorn packte sie, und ihre Faust landete mit aller Kraft in seinen Weichteilen. Er ging aufstöhnend in die Knie, und sie kletterte aus der Wanne und rannte in die hinterste Ecke des Zimmers.

Als er sich auf sie stürzte, schrie sie wie am Spieß. Er packte sie, und sie trat und kratzte, kämpfte und keuchte. Seine Hand hatte sich gerade um ihren Hals geschlossen, als die Tür aufflog und die Gräfin hereinsegelte. Sie knallte die Tür hinter sich zu und schrie: „Aufhören, alle beide!“

Magowan gehorchte, nicht ohne Angel einen hasserfüllten Blick zuzuwerfen. „Dich mach ich noch kalt, ich schwör’s dir.“

„Genug!“, schnaubte die Gräfin. „Ich hab’ sie bis ins Treppenhaus kreischen hören. Wenn das die Männer mitbekommen, was meint ihr, was hier los ist?“

„Aufhängen würden sie ihn“, sagte Angel und lachte.

Die Gräfin gab ihr eine Ohrfeige, dass sie zurücktaumelte. „Kein Wort mehr, Angel!“ Sie richtete sich auf und sah Magowan an. „Ich sagte, nüchtere sie aus und rede mit ihr, das war alles. Verstanden?“ Sie zog an der Klingelschnur.

Alle drei warteten in angespannter Stille. Ein Blick auf Magowan sagte Angel, dass er seine Drohung ernst gemeint hatte.

Es klopfte leise an die Tür. Die Gräfin öffnete sie einen Spalt und bestellte heißen Kaffee und Brot. Sie schloss die Tür wieder und setzte sich auf den Stuhl. „Ich hatte dir einen ganz einfachen Auftrag gegeben, Bret. Tu, was ich dir sage, und nicht mehr. Angel hat recht: Die würden dich aufhängen.“

„Sie brauchte eine Lektion“, sagte Magowan, die schwarzen Augen auf Angel gerichtet. Angels Zorn hatte sich in Luft aufgelöst. Es war ihr nicht entgangen, dieses böse Glitzern in Magowans Augen. Sie kannte diesen Blick, sie hatte ihn von Zeit zu Zeit in den Augen eines anderen Mannes gesehen. Bis jetzt hatte sie Magowan nicht recht ernst genommen, aber nun wusste sie Bescheid. Und sie wusste auch, dass Angst das Letzte war, was sie zeigen durfte. Angst würde seinen Blutdurst nur noch anheizen, bis selbst die Gräfin ihn nicht mehr aufhalten konnte.

Die Gräfin sah sie einen langen Augenblick an. „Du benimmst dich jetzt, Angel, nicht wahr?“

„Ja, Madam.“ Sie bibberte von dem kalten Wasser.

„Gib ihr eine Decke, bevor sie sich erkältet.“

Magowan nahm eine Decke von dem Bett und warf sie Angel hin. Sie wickelte sie um sich, den Blick von ihm abgewandt. Diese hilflose Wut, diese Angst ... sie hasste diese Gefühle.

„Komm hierher, Angel“, sagte die Gräfin.

Angel hob den Kopf. Als sie nicht schnell genug reagierte, packte Magowan eine Strähne ihres blonden Haars und riss sie hoch. Sie biss die Zähne zusammen, weigerte sich, ihm den Gefallen zu tun und zu schreien. „Tu, was sie dir sagt“, zischte er und schubste sie grob, sodass sie vor der Gräfin auf die Knie fiel.

Die Frau streichelte ihr über das Haar. Diese wohlberechnete Geste, so direkt nach Magowans Brutalität, zog Angel den Boden unter den Füßen weg. „Wenn das Tablett kommt, Angel, dann isst du das Brot und trinkst den Kaffee, bis zum letzten Tropfen. Bret bleibt so lange bei dir. Sobald du fertig bist, geht er. In zwei Stunden wirst du wieder arbeiten.“

Die Gräfin erhob sich und ging zur Tür. Sie schaute kurz zurück. „Bret, mach keine Sachen mehr mit ihr. Sie ist unser bestes Stück.“

„Keine Sachen“, echote er kalt.

Er hielt sein Wort. Er fasste sie nicht mehr an, aber er redete – und was er sagte, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Sie zwang das Brot und den Kaffee hinunter.

„Irgendwann gehörst du mir, Angel“, sagte er. „Noch eine Woche oder einen Monat, und du gehst zu weit bei der Gräfin oder verlangst zu viel. Und dann übergibt sie dich mir auf ’nem silbernen Tablett.“

Sie hatte funktioniert an dem Abend, und Magowan hatte sie nicht weiter belästigt. Sie wusste, dass er wartete, doch sie weigerte sich, so vor ihm zu kuschen wie Mai Ling. Wenn er in ihr Zimmer kam, lächelte sie ihn spöttisch an. Solange sie ihre Arbeit gut machte, war die Gräfin zufrieden und Magowan konnte nichts tun.

Aber sie spürte, wie es wieder enger wurde. Jeden Tag mehr. Der Druck in ihr schwoll an, es kostete sie immer mehr Kraft, ihre Fassade aufrechtzuerhalten.

Noch einer heute, dann kann ich schlafen, dachte sie. Sie zitterte am ganzen Körper; sie war am Ende ihrer Kräfte. Nur noch einer. Hoffentlich war er von der schnellen Truppe.

Das Klopfen kam, und sie stand auf, um zu öffnen. Er war größer als die meisten anderen. Älter. Muskulöser. Eigentlich war nichts Besonderes an ihm, aber sie spürte … ja, was? Eine merkwürdige Unruhe. Das Zittern wurde stärker, ihre Nerven schienen zu sirren. Sie senkte den Kopf und zwang sich, langsam durchzuatmen, drückte die merkwürdige Reaktion mit ihrer ganzen Willenskraft nach unten.

Der eine noch, dann hab ich’s für heute geschafft.

Trotz seiner 26 Jahre kam Michael sich wie ein grüner Junge vor, als er in dem matten Licht des Bordellflurs vor Angels offener Tür stand. Sein Herz hämmerte so sehr, dass er kaum Luft bekam. Sie war noch schöner, als sie von Weitem ausgesehen hatte. Und kleiner. Das blaue Satin-Negligé betonte die Konturen ihres schlanken Körpers. Er versuchte, nicht tiefer als auf ihre Schultern zu schauen.

Sie trat zur Seite, um ihn hereinzulassen. Er sah das Bett; es war gemacht, aber sofort entstanden Bilder in seinem Kopf. Nervös schaute er sie wieder an. Ein leises, verführerisches Lächeln spielte um ihren Mund. Sie schien seine Gedanken zu lesen wie in einem aufgeschlagenen Buch. „Was wünschen der Herr?“

Ihre Stimme war weich und leise und erstaunlich kultiviert, aber ihre Direktheit schockierte ihn. Noch deutlicher als mit diesen paar Worten hätte sie nicht demonstrieren können, womit sie ihr Brot verdiente – und mit was für einer magnetischen Kraft sie ihn anzog.

Er trat in das Zimmer, und sie schloss die Tür hinter ihm und lehnte sich gegen sie. Während sie auf seine Antwort wartete, taxierte sie ihn rasch. Ihre Unruhe begann sich zu legen. So anders als die anderen Männer war er doch nicht, nur ein bisschen breitschultriger. Er war kein Junge mehr, aber er sah nervös aus – sehr nervös. Vielleicht hatte er irgendwo eine Ehefrau und bekam jetzt ein schlechtes Gewissen. Oder hatte er eine fromme Mutter und fragte sich gerade, was sie wohl denken würde, wenn sie wüsste, dass er zu einer Hure ging. Viel von ihrer Zeit in Anspruch nehmen würde er wohl nicht. Gut.

Michael wusste nicht, was er sagen sollte. Den ganzen Tag hatte er nur an diesen Moment gedacht, ihn sich ausgemalt, und jetzt, wo er in Angels Zimmer stand, war seine Zunge wie gelähmt und das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Wie schön sie aussah! Und ein wenig amüsiert. Gott, was jetzt? Ich weiß noch nicht mal, was ich denken soll.

Sie trat auf ihn zu, legte die Hand auf seine Brust und hörte, wie er die Luft einzog. „Nur nicht so schüchtern, Mister. Sag mir, was du willst.“

Er sah sie an. „Dich.“

„Nun, das ist einfach.“

Sie ging zu dem Waschtisch in der anderen Ecke des Zimmers. Angel. „Engel“. Der Name passte perfekt zu ihr – eine makellose, blauäugige Porzellanpuppe mit heller Haut und goldenem Haar. Oder nicht Porzellan, sondern Marmor? Porzellan brach, Marmor nicht, und sie sah hart aus – so hart, dass es ihm wehtat. Dieses Gefühl hatte er nicht erwartet. Er hatte nur daran gedacht, sich gegen die Begierde zu wappnen, die sie in ihm wecken würde. Gott, gib mir Kraft!

Sie goss Wasser in eine Schüssel und nahm ein Stück Seife in die Hand. Jede Bewegung war gleichzeitig anmutig und herausfordernd. „Komm her, dann kann ich dich waschen.“

Er spürte, wie eine Hitzewelle durch seinen Körper schoss und in seinem Gesicht landete. Er hustete. Sein Kragen schien ihn ersticken zu wollen.

Sie lachte leise. „Es tut nicht weh.“

„Das … ist nicht nötig, Madam. Ich möchte keinen Sex. Ich will nur mit Ihnen reden.“

Angel biss sich auf die Lippe, schluckte den aufsteigenden Ärger hinunter und sah den Mann herausfordernd an. „Bist du ganz sicher, dass du nur reden willst?“

„Ganz sicher.“

Seinem Gesichtsausdruck nach schien es ihm ernst zu sein. Sie drehte sich seufzend um, um sich die Hände abzutrocknen. „Wie der Herr wünschen.“ Sie setzte sich auf das Bett, die Beine übereinandergeschlagen.

Er wusste, was die Geste bedeutete, und kämpfte dagegen an. Je länger er stumm dastand, desto deutlichere Bilder zeichnete sein Gehirn. Und sie spürte das, ihr spöttischer Augenaufschlag sprach Bände.

„Wohnen Sie hier, wenn Sie nicht arbeiten?“

„Ja.“ Sie legte ihren Kopf schräg. „Wo denn sonst? In einem schönen weißen Häuschen draußen auf dem Land?“ Sie lächelte, um ihren Worten die Schärfe zu nehmen. Wie sie es hasste, wenn Kunden sie ausfragten.

Michael ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen. Keine persönlichen Gegenstände, keine Bilder an den Wänden, keine Nippessachen auf dem kleinen, mit einer Spitzendecke verzierten Tisch in der Ecke, keine herumliegenden Kleidungsstücke. Alles war sauber, spartanisch, steril. Ein schlichter Schrank, ein kleiner Tisch, eine Petroleumlampe, der Marmorwaschtisch mit der gelben Porzellankanne und ein Stuhl mit hoher Lehne waren das ganze Mobiliar. Und natürlich das Bett, auf dem sie saß.

Er zog den Stuhl aus seiner Ecke, stellte ihn vor ihr hin und setzte sich. Ihr Satin-Negligé hatte sich einen Spalt geöffnet. Klar, sie spielte mit ihm. Sie schwang ihren Fuß wie ein Pendel hin und her, und so vergingen die Sekunden der halben Stunde. Die Zeit, für die er bezahlt hatte.

Gott, ich bräuchte eine Million Jahre, um diese Frau zu erreichen. Bist du wirklich sicher, dass sie diejenige ist, die du für mich willst?

Ihre blauen Augen waren unergründlich, er konnte nichts in ihnen lesen. Sie war wie eine Wand, ein endloser Ozean, ein wolkenverhangener Nachthimmel, unter dem er die Hand nicht vor Augen sehen konnte. Er sah nur das, was sie ihn sehen lassen wollte.

„Du wolltest mit mir reden, Mister. Bitte schön, dann rede“, forderte sie ihn auf.

„Ich hätte nicht kommen sollen“, murmelte Michael. „Ich hätte einen anderen Weg finden sollen.“

„Einen anderen Weg? Was für einen denn?“

Wie sollte er ihr nur klarmachen, dass er anders war als die anderen Männer, die zu ihr kamen, wenn er doch durch dieselbe Tür eingetreten war wie sie? Er hatte Josephs Rat befolgt und war zur Gräfin gegangen, und die hatte ihn darüber aufgeklärt, dass Angel eine Ware war – eine schöne, wertvolle, wohlbewachte Ware. Erst das Geld, dann die Ware. Er hatte sich darauf eingelassen, hatte den hohen Preis gezahlt. Es war das Einfachste gewesen. Aber nicht das Beste, wie er jetzt merkte.

Ja, er hätte einen anderen Weg finden müssen, einen anderen Ort. Sie dachte nur an ihre „Arbeit“. Und er? Er ließ sich zu leicht ablenken von ihr.

„Wie alt sind Sie?“

Sie lächelte leicht. „Uralt.“

Das stimmte wohl. Sie meinte natürlich nicht ihre Lebensjahre, sondern ihre Erfahrungen. Dieses Mädchen konnte nichts mehr überraschen, sie war auf alles gefasst. Und doch spürte er noch etwas anderes, gerade so wie in dem Augenblick, wo er sie das erste Mal gesehen hatte. Unter der Oberfläche, die sie ihm hinhielt, lag eine andere, tiefere Schicht. Gott, wie komme ich da hin?

Sie schob seine Frage an ihn zurück. „Und wie alt bist du?“

„Sechsundzwanzig.“

„Bisschen alt für einen Goldgräber, nicht wahr? Die meisten sind achtzehn oder neunzehn. Ich hab wenige richtige Männer gesehen in der letzten Zeit.“

Ihre Offenheit gab ihm Mut. „Und warum nennt man Sie Angel? Weil Sie so aussehen? Oder ist das Ihr richtiger Name?“

Ihr Mund verspannte sich etwas. Das einzige Persönliche, was sie noch besaß, war ihr Name, und den hatte sie niemandem verraten, noch nicht einmal Duke. Der einzige Mensch, der sie je bei ihrem Namen genannt hatte, war Mama gewesen, und Mama war tot.

„Nenn mich, wie du willst, Mister, das ist egal.“ Wenn er das, wofür er gezahlt hatte, nicht haben wollte, war das sein Problem.

Er musterte sie. „Ich glaube, Mara passt zu Ihnen.“

„Heißt deine Schwester so?“

„Nein. Mara bedeutet ‚bitter‘.“

Sie sah ihn überrascht an. Was für ein Spiel war das? „Wenn du meinst …“ Ihre eine Schulter hob sich beiläufig. „Mara … warum nicht?“ Ihr Fuß begann wieder sein Pendelspiel. Wie lange musste sie ihn noch ertragen?

Er ließ nicht locker. „Und wo kommen Sie her?“

„Von weit her.“

Er lächelte leise über ihren passiven Widerstand. Ihr Fuß hielt inne, sie beugte sich nach vorne. „Und du, Mister? Wie heißt du? Wo kommst du her? Hast du irgendwo eine Frau? Hast du Angst vor deiner eigenen Courage bekommen?“

Sie richtete alle Geschütze auf ihn, aber er wurde ruhiger statt nervöser. Mit diesem Mädchen konnte er schon mehr anfangen als mit dem, das ihn an der Tür empfangen hatte. „Ich heiße Michael Hosea“, sagte er. „Ich wohne in einem Tal südwestlich von hier. Ich bin nicht verheiratet, aber das wird sich bald ändern.“

Sie runzelte die Stirn. Wie er sie ansah ... „Hosea – was ist das für ein komischer Name?“

Sein Lächeln wurde verschmitzt. „Ein prophetischer.“

Machte er sich über sie lustig? „Willst du mir meine Zukunft voraussagen?“

„Ja. Ich werde Sie hier rausholen und heiraten.“

Sie lachte auf. „Mein dritter Heiratsantrag heute, danke für die Blumen!“ Sie schüttelte den Kopf und beugte sich wieder nach vorn. Ihr Lächeln war kalt und zynisch. Hielt er sich für etwas Besonderes? „Wann darf ich anfangen, Mister?“

„Sobald mein Ring an Ihrem Finger ist. Jetzt will ich Sie erst mal etwas besser kennenlernen.“

Der Tag war lang gewesen, sie hatte keine Lust auf solche Spielchen. „Was gibt’s da kennenzulernen? Ich bin das, was ich tue. Sag mir einfach, wie du es am liebsten hast. Aber mach schnell, deine Zeit ist bald um.“

Dieses erste Treffen lief nicht so besonders gut, erkannte Michael. Aber was hatte er denn erwartet? Dass er sie nach zwei Sätzen an seinem Arm hinaus in die Freiheit führen könnte? Sie sah ihn an, als ob sie ihn am liebsten erstechen wollte. Wie hatte er nur so naiv sein können? „Ich bin nicht hierhergekommen, um Sie zu benutzen, Mara.“

Seine tiefe Stimme und dieser Name – Mara – steigerten ihre Wut noch mehr. „Ach so?“ Sie stand auf, trat dicht an ihn heran, ihre weichen Hände durchkämmten sein Haar. Sie spürte seine Anspannung wachsen. Gut.

„Lass mich raten, Mister: Du willst mich also kennenlernen. Du willst herausfinden, wie ich denke und was ich fühle. Und vor allem willst du wissen, wie ein anständiges Mädchen wie ich in diesem Gewerbe gelandet ist.“

Michael schloss die Augen und biss die Zähne zusammen, versuchte, die Wirkung ihrer Finger auszublenden.

„Komm, Mister, fang an.“

Er schob sie von sich weg. „Ich bin wirklich hier, um mit Ihnen zu reden.“

Sie musterte ihn kritisch, dann zog sie ihren Umhang fest zu und knotete die Satinbänder zusammen. Sie fühlte sich ausgeliefert unter seinem Blick, nackt. „Dann bist du bei der Falschen gelandet. Aber ich kann dir was anderes bieten ...“

„Ich will nicht wissen, was Sie können, sondern wer Sie sind“, sagte er rau. „Gepflegte Gespräche gibt’s unten in der Bar.“

Er stand auf. „Kommen Sie mit mir und werden Sie meine Frau.“

Sie lachte hart. „Wenn du eine Frau willst, lass dir eine mit der Post kommen oder warte auf den nächsten Treck.“

Er trat zu ihr. „Ich kann Ihnen ein gutes Leben bieten. Mir ist egal, wie Sie hierhergekommen sind oder wo Sie vorher waren. Kommen Sie einfach mit mir.“

Ihr Mund verzog sich spöttisch. „Und wofür? Um mir noch mehr von diesem Geschwätz anzuhören? Das kenne ich in- und auswendig. Du hast mich gesehen, und jetzt kannst du nicht mehr ohne mich leben und bietest mir den Himmel auf Erden. Weißt du, wie viele Männer mir das schon erzählen wollten?“

„Aber bei mir ist es echt.“

Sie lachte nur zynisch. „Eine halbe Stunde ist mehr als genug für einen, der mich haben will.“

„Wollen Sie denn dieses Leben hier?“

Ob sie es wollte? Was hatte ihr Wille damit zu tun? „Es ist mein Leben.“

„Aber das muss es nicht bleiben. Wenn Sie wählen könnten, was würden Sie dann wollen?“

„Von dir? Nichts.“

„Vom Leben.“

Sie fühlte sich auf einmal noch müder. Leben? Was meinte er? Diese penetrante Fragerei ... sie verschanzte sich hinter ihrem kühlen Lächeln. „Alles, was ich brauche, ist hier.“

„Ja. Sie haben ein Dach über dem Kopf, zu essen und schöne Kleider.“

„Und Arbeit. Vergiss nicht die Arbeit. Ich bin wirklich gut in meinem Job.“

„Und Sie hassen es.“

Sie schwieg einen Augenblick, ihre Augen schmale Schlitze. „Du hast mich an einem meiner schlechteren Abende erwischt, Sportsfreund.“ Sie trat ans Fenster, tat so, als ob sie hinaussähe, schloss die Augen und kämpfte um ihre Selbstbeherrschung. Was war nur los mit ihr? Was war es an diesem Mann, das sie so aufwühlte? Lieber das übliche Eis in der Seele als dieses plötzliche Durcheinander. Hoffnung – was für ein Folterknecht! Dieser Kerl war ein Pfahl in ihrem Fleisch.

Er trat hinter sie und legte seine Hände auf ihre Schultern. Er spürte, wie sie sich versteifte. „Kommen Sie mit mir“, sagte er leise. „Heiraten Sie mich.“

Sie schüttelte seine Hände ab und ging in die andere Ecke. „Nein, danke.“

„Warum nicht?“

„Weil ich hier nicht wegwill, darum! Reicht das?“

„Wenn Sie nicht mitgehen, lassen Sie mich Ihnen wenigstens etwas näherkommen.“

Na endlich. „Du brauchst bloß herzukommen.“

„Ich meine nicht diese Nähe, Mara.“

Alle ihre Gefühle schienen sich in einer langsamen Spirale nach unten zu bewegen, als flössen sie in ein Loch im Fußboden. „Angel“, sagte sie. „Ich heiße Angel, kapiert? Angel! Du vergeudest meine Zeit und dein Gold.“

„Ich vergeude gar nichts.“

Sie setzte sich wieder auf das Bett und schaute zu ihm hoch, den Kopf zur Seite gelegt. „Weißt du, Mister, die meisten Männer sind ziemlich unkompliziert. Sie kommen, sie zahlen, holen sich, was sie wollen, und gehen wieder. Aber dann gibt’s ein paar andere, solche wie dich, die was Besseres sein wollen und mir was vorsingen, wie wertvoll ich bin und was falsch ist mit meinem Leben und wie gern sie mir helfen würden.“ Ihre Lippen verzogen sich zynisch. „Aber irgendwann kriegen sie das hinter sich und kommen zur Sache.“

Michael atmete tief durch. Diese Frau nahm wahrlich kein Blatt vor den Mund. Schön, das konnte er ihr auch bieten. „Ich brauche Sie bloß anzuschauen, um zu merken, dass ich ein Mann bin. Jawohl, ich will Sie, aber wie sehr und für wie lange, das wissen Sie nicht.“

Sie wurde noch nervöser. „Mit Männern kenne ich mich wirklich bestens aus“, zischte Sie.

„Sie wissen nichts über mich.“

„Klar, jeder Mann bildet sich ein, er wäre was Besonderes.“ Sie klopfte auf das Bett. „Komm her, dann zeig ich dir, dass du auch nicht anders bist. Oder hast du etwa Angst, dass ich recht haben könnte?“

Er lächelte sanft. „Im Bett wüssten Sie mehr mit mir anzufangen, nicht wahr?“ Er setzte sich wieder auf den Stuhl und beugte sich vor, die Hände lose zwischen den Knien. „Ich behaupte nicht, dass ich besser bin als die anderen Männer, die zu Ihnen kommen. Ich will einfach mehr.“

„Und das wäre?“

„Etwas, von dem Sie gar nicht wissen, dass Sie es besitzen.“

„Du erwartest ein bisschen viel für zwei Unzen Goldstaub.“

„Hören Sie sich an, was ich Ihnen zu bieten habe.“

„Ich sehe nicht, was du mir anderes bieten kannst als das, was ich schon habe.“

Es klopfte zweimal an der Tür. Angel versuchte nicht, ihre Erleichterung zu verbergen. Sie zuckte süffisant die Achseln. „Deine halbe Stunde ist um.“ Sie erhob sich und ging an ihm vorbei zur Tür. Dort nahm sie seinen Hut vom Haken und hielt ihn ihm hin. „Zeit zu gehen.“

Er sah enttäuscht aus, aber nicht geschlagen. „Ich komme wieder.“

„Wenn dich das glücklich macht, bitte.“

Er berührte kurz ihre Wange. „Überlegen Sie es sich. Sie haben etwas Besseres verdient als dieses Leben hier.“

Angels Herz raste. Er sah aus, als ob es ihm ernst sei! Aber Johnny hatte auch ganz glaubwürdig ausgesehen. Johnny, der charmante Schmeichler. In Wirklichkeit hatte er sie nur Duke wegnehmen und selbst ausbeuten wollen. Und sie hatte weggewollt von Duke. Aber das war auch alles gewesen. Ein viel zu hoher Preis.

Sie musste ihn loswerden. „Gib deinen Goldstaub besser woanders aus. Ich habe nicht das, was du willst. Probier’s doch mal mit Meggie, das ist unsere Philosophin.“ Sie begann die Tür zu öffnen.

Michael drückte mit der Hand gegen die Tür. „Sie haben alles, was ich will. Wenn es nicht so wäre, hätte ich nicht dieses Gefühl gehabt, als ich Sie das erste Mal sah. Und auch jetzt nicht.“

„Deine halbe Stunde ist um.“

Sie wollte nicht. Oder jedenfalls noch nicht. „Ich komme wieder. Alles, worum ich bitte, ist eine halbe Stunde mit Ihrem wahren Ich.“

Sie öffnete die Tür für ihn. „Mister, fünf Minuten mit meinem wahren Ich, und du würdest rennen, als sei der Teufel persönlich hinter dir her.“

Die Liebe ist stark

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