Читать книгу Die Liebe ist stark - Francine Rivers - Страница 6

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KAPITEL 1

Doch Kraft allein, ob auch der Musen Spross,

ist ein gefall’ner Engel. Finsternis,

gestürzte Bäume, Maden, Sarg und Grab

erfreuen sie. Des Lebens Stachelwerk

ist Speise ihr, und sie vergisst das Ziel

der Dichtung: dass ein treuer Freund sie sei,

der Seelen ihre Sorgenbürde nimmt.

(Keats)

Kalifornien, 1850

Angel schob die Zeltplane so weit zur Seite, dass sie auf die ungepflasterte Straße sehen konnte. Sie fröstelte in der kalten Nachmittagsluft, die nach zerbrochenen Träumen roch.

Pair-a-Dice hieß das Kaff. Der Name klang wie „Paradies“ (was er auch sollte), bedeuten tat er „Würfelbecher“, und ein Würfelbecher war sie in der Tat, diese aus vor sich hinmodernden Segeln gestrandeter und aufgegebener Schiffe erbaute Höllenstadt: ein Würfelbecher der Obdachlosen und Gescheiterten, der Heimat- und Besitzlosen, der ausgelaugten Opfer des Goldfiebers. Bars und Spielhöllen säumten die verdreckten Straßen. Pair-a-Dice – wo die schwarze Verzweiflung sich mit stummer Angst und dem Gallegeschmack des Ruins paarte.

An einer Straßenecke predigte gerade ein Mann über Himmel und Hölle, an der anderen erleichterte sein Bruder, mit dem Hut in der Hand, die armen Sünder um ihr Geld. Angel lächelte zynisch. Wo sie auch hinblickte, sah sie Verzweifelte, heimatlos Gewordene, die Schutz und Vergessen vor dem Fegefeuer ihrer zerbrochenen Hoffnungen suchten.

Und diese Idioten suchten Trost, wo sie ihn am wenigsten finden konnten: bei ihr. Sie losten um ihre Dienste, gaben fieberhaft ihre vier Unzen Gold her, zahlbar an die „Gräfin“, die Betreiberin des „Palasts“, des Zeltbordells, in dem sie wohnte. Jeder zahlende Gast konnte Angel für eine halbe Stunde haben. Ihr magerer Eigenanteil wurde unter Schloss und Riegel verwahrt und von einem frauenhassenden Riesen namens Magowan bewacht. Die Unglücklichen, die sich Angel nicht leisten konnten, standen im knietiefen Matsch der sogenannten Hauptstraße und warteten darauf, wenigstens einen Blick auf den „blonden Engel“ erhaschen zu können. Und Angel selbst? Für sie war ein Monat wie ein Jahr an diesem Ort, der für nichts anderes taugte als für das Geschäft. Wann würde es aufhören? Wie hatte sie nur hier landen können, auf dieser Müllkippe der Menschheit?

„Tut mir leid, im Augenblick geht nichts“, erklang die Stimme der Gräfin, die mehrere Freier abwimmelte. „Ihr wartet schon lange, ich weiß, aber Angel ist müde, und ihr wollt sie doch richtig genießen, oder?“ Die Männer jammerten, drohten, baten, bettelten, aber die Gräfin wusste, wann Angel nicht mehr konnte. „Sie muss sich jetzt ausruhen. Ihr könnt heute Abend wiederkommen; trinkt so lange einen auf Kosten des Hauses.“

Sie gingen. Gut. Angel ließ das Segeltuch los, legte sich auf das ungemachte Bett und starrte stumm zur Zeltdecke hoch. Beim Frühstück hatte die Gräfin verkündet, dass das neue Haus fast fertig sei; morgen schon würden die Mädchen einziehen können. Angel war froh. Endlich wieder vier richtige Wände, kein Durchzug mehr durch die Risse in dem maroden Segeltuch. Sie hatte nicht gewusst, wie viel vier Wände ihr bedeuteten, als sie sich auf der Brigantine eingeschifft hatte, um nach Kalifornien zu fahren. Weg hier, das war ihr einziger Gedanke gewesen. Auf in die Freiheit!

Doch die Fata Morgana hatte sich rasch aufgelöst, als sie erkennen musste, dass es einschließlich ihr nur drei Frauen auf diesem Schiff gab, aber 120 lebhafte junge Männer, die auf nichts als Abenteuer aus waren. Die beiden Prostituierten mit den harten Gesichtern waren sofort an die Arbeit gegangen. Angel hatte versucht, in ihrer Kabine zu bleiben, aber es vergingen keine zwei Wochen, und ihr war klar gewesen, dass sie nur noch die Wahl hatte, entweder ins Gewerbe zurückzukehren oder vergewaltigt zu werden. Und was sollte es auch? Es war das Einzige, was sie konnte. Füll dir die Taschen, wie deine beiden Kolleginnen, dann hast du vielleicht irgendwann genug Geld beisammen, um dir deine Freiheit zu kaufen …

Sie überlebte die raue See, das übel riechende Essen, die drangvolle Enge und die ständige Entwürdigung und klammerte sich an die Hoffnung, dass sie, wenn sie erst einmal die kalifornische Küste erreicht hätten, ein neues Leben beginnen konnte.

Und die Küste kam.

Und der nächste Schlag.

Die beiden anderen Huren hatten sie in ihrer Kabine überfallen. Als sie wieder zu sich kam, waren sie über alle Berge. Ihr Geld, ihr ganzer Besitz – weg. Sie hatte nur noch die Kleider, die sie am Leib trug.

Mehrere Tage lang war sie umhergeirrt, Gesicht und Haar unter einer schmutzigen Decke versteckt. Sie hatte Hunger, sie fror, sie hatte aufgegeben; Freiheit – das war nur ein Traum.

Sie bot ihre Dienste auf dem Portsmouth-Platz an, bis die Gräfin, eine bereits nicht mehr ganz junge, aber höchst geschäftstüchtige Dame, sie entdeckte und dazu überredete, ihr Glück in der Goldgräbergegend zu versuchen.

„Ich habe noch vier andere Mädchen: eine Französin aus Paris, eine Chinesin, die Ah Toy mir verkauft hat, und zwei, die so aussehen, als ob sie von einem Kartoffelschiff aus Irland kommen; na ja, mit ein bisschen Essen kann noch was draus werden. Aber du … meine Güte, als ich dich sah, war mein erster Gedanke: Endlich ein Mädchen, das reich werden kann, wenn man’s nur richtig anfängt! Eine mit deiner Schönheit ist eine gemachte Frau in den Goldgräber-Camps! Die Männer werden sich drum prügeln, wer dir als Erster sein Gold in die Hand drücken darf.“

Man einigte sich darauf, dass Angel 80 Prozent ihres Verdienstes abgeben und dafür Schutz für Leib und Leben genießen würde. „Und die tollsten Kleider kriegst du, das beste Essen und die schönste Unterkunft, dafür verbürge ich mich.“

Angel hätte fast losgelacht. Was für ein Witz: Den Klauen eines Kerls namens Duke – „der Graf“ – entronnen, um in die Hände der „Gräfin“ zu fallen. Das konnte auch nur ihr passieren.

Die ach so mütterlich redende Gräfin entpuppte sich alsbald als geldgierige Tyrannin. Sie nahm Bestechungsgelder an, von denen kein einziges Gramm Goldstaub seinen Weg in die Taschen der Mädchen fand. Dafür fielen auch die Trinkgelder unter die 80-Prozent-Klausel. Mai Ling, die kleine Chinesin, versuchte einmal, ihr Gold zu verstecken, worauf Magowan mit seinem grausamen Lächeln und den Riesenpranken zu ihr geschickt wurde, um „mit ihr zu reden“. Danach war sie nicht mehr dieselbe.

Angel hasste ihr Leben. Sie hasste die Gräfin. Sie hasste Magowan. Sie hasste ihre eigene elende Hilflosigkeit. Aber am meisten hasste sie die Männer mit ihrer unersättlichen Lust. Sie gab ihnen ihren Körper – mehr nicht. Vielleicht gab es auch gar kein „mehr“, aber das schien ihnen allen egal zu sein. Sie sahen nur ihre Schönheit, diese makellose Hülle um ein gefrorenes Herz, und waren hingerissen. Sie blickten in ihre blauen Engelsaugen und waren verloren.

Sie fiel nicht herein auf ihre endlosen Liebesschwüre. Sie wollten sie so, wie sie das Gold aus den Flüssen wollten: Sie waren gierig auf sie. Sie schlugen sich darum, bei ihr sein zu können. Sie rannten und sprangen, spielten und grabschten, gaben ihren letzten Cent aus, boten die höchsten Preise, um Sklaven zu werden. Und sie gab ihnen ihren Himmel, der in Wirklichkeit die Hölle war.

Aber was sollte es? Sie war leer, ihr war es alles egal. Noch stärker als der Hass, der sie zerfraß, war diese unendliche Müdigkeit in ihrer Seele. Ganze 18 Jahre alt, war sie des Lebens überdrüssig und hatte sich damit abgefunden, dass nie mehr etwas anders werden würde. Sie fragte sich, warum sie überhaupt geboren worden war. Friss oder stirb. Die heilige Wahrheit. Und der einzige Ausweg wäre, dass sie sich das Leben nahm; aber jedes Mal, wenn eine Chance kam, ließ ihr Mut sie im Stich.

Ihre einzige Freundin war eine müde alte Hure namens Lucky, die der Brandy langsam fett machte. Aber selbst Lucky wusste nicht, wo Angel herkam und wie sie so geworden war, wie sie war. Und die übrigen Prostituierten machten sich ihre Gedanken über sie, aber Fragen stellten sie ihr nicht. Von Anfang an hatte Angel klargestellt, dass ihre Vergangenheit tabu war. Außer für die ständig betrunkene Lucky, die Angel ans Herz gewachsen war.

Lucky schaute tief ins Glas, wenn sie nicht im Dienst war. „Du brauchst Pläne, Angel. Du musst eine Hoffnung haben in dieser Welt.“

„Hoffnung auf was?“

„Na, ohne kannst du nicht leben.“

„Ich schon.“

„Wie das?“

„Ich schaue nicht zurück und nicht nach vorn.“

„Aber die Gegenwart, Angel. An die musst du doch wenigstens denken.“

Angel lächelte schwach und strich sich über ihr langes, goldenes Haar. „Für mich gibt’s keine Gegenwart.“

Die Liebe ist stark

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