Читать книгу Raniten in der Furt - Frank Bartels - Страница 5

Brötchenmeister

Оглавление

Das ausgelassene Zwitschern der Vögel weckte den Jungen und weil die Sonne bereits aufgegangen war, kletterte er vorsichtig von dem Baum. Er hatte nur wenig geschlafen und ihm taten alle Knochen weh. Als er den rechten Fuß auf den Boden setzte, rief hinter ihm eine Stimme: »Ach, hier steckt Ihr! Hat der alte Herr Eichenmann Euch einen schönen Schlaf beschert?«

Da stand wieder dieses eigenartige, kleine Mädchen in seinem schneeweißen Kleidchen und den roten Lackschühchen. Bei hellem Morgenlicht sah es nicht mehr ganz so unheimlich aus, nur eben sehr, sehr klein. Seine feuerroten Locken glänzten im Sonnenlicht und jetzt trug es einen Kranz aus geflochtenen Gänseblümchen auf dem Kopf.

»Ihr habt gut daran getan, auf einem Baum zu schlafen, obwohl ich mir das nicht gerade gemütlich vorstelle«, sagte es. »Ich denke, damit dürftet Ihr die erste Prüfung bestanden haben. Ich freue mich, Euch heil und gesund wieder zu sehen, Herr Schmutzfink.«

»Was meinst du mit Prüfung? Welche Prüfung? «, fauchte der Junge, denn er hatte sich ziemlich erschrocken. »Und außerdem heiß’ ich nicht Schmutzfink.«

»So? Und wie ist Euer werter Name?«, fragte das Mädchen dieses Mal sehr höflich.

»Ähm, Alex… Alexander.«

Zweifelnd fragte es: »Seid Ihr sicher? Für mich seht Ihr eher nach einem Wolfgang aus. Oder Kasper. Ja, Ihr könntet auch ein Kasper sein.«

Ganz sicher war er sich zwar nicht, aber eines war sonnenklar: »Nein, Kasper heiße ich bestimmt nicht und Wolfgang schon gar nicht.«

Es schaute ihn lange an und neigte den Kopf abermals zur Seite. »Sagt, Herr Alexalexander, warum seid Ihr so voller Dreck? Ihr haltet wohl nicht viel von Reinlichkeit.«

Der Junge blickte auf seine Hände und dann an sich herab. »Das würde ich auch gerne wissen. Aber mein Name ist nur Alexander.«

»Hm, wie Ihr meint. Obwohl ich den Namen Kasper besser finde. Ich heiße übrigens Lilu, falls Ihr es wissen möchtet«, antwortete die Kleine. »So, nun haben wir uns offiziell vorgestellt. Eigentlich hätten wir einander von Dritten vorgestellt werden müssen, weißt du? Es schickt sich für ein ehrbares Mädchen nicht, mit jedem dahergelaufenen Schmutzfink zu sprechen. Sag, hast du vielleicht Hunger?«

Alexander schüttelte verständnislos den Kopf. Er wurde nicht so recht schlau aus diesem Kind, aber irgendwie war es ihm auch vertraut. Er war in einem Alter, in dem Jungen nicht viel von Mädchen halten und hätte er nur eine Wahl gehabt, wäre er ihr sicher nicht gefolgt. Doch er hatte keine Wahl und außerdem tatsächlich Hunger. Das Mädchen hüpfte über die Wiese, Alexander folgte ihm zögernd.

Es bückte sich mal hier und mal da, dann nahm es vorsichtig eine Blumenblüte zwischen ihre kleinen Finger und sagte: »Na meine Liebe, ausgeschlafen? Geh auf, geh auf – es ist Zeit, den neuen Tag zu begrüßen. Hi, hi, hi.«

Alexander stand dicht bei ihm und fragte: »Sprichst du etwa mit den Blumen?«

»Natürlich, ich muss sie doch wecken, sonst verschlafen sie noch den ganzen Tag und das wäre nicht gut für sie«, antwortete sie, ohne ihn anzuschauen. »Ich weiß, was gut für meine Lieben ist. Piep, piep.«

›Die ist doch nicht normal im Kopf‹, dachte er und fragte etwas spöttisch: »Und? Antworten sie dir denn auch?«

»Du Naseweis, natürlich nicht. Blumen haben doch keinen Mund.«

»Aber sie haben auch keine Ohren, oder? Also können sie dich auch nicht hören.«

Sie winkte ab. »Ach, was weißt du denn schon von Blumen? Meine Lieblinge können auch ohne Ohren hören und sie verstehen mich sehr gut. Sie sind manchmal nur etwas … verträumt.«

Sie gingen weiter über die Wiese und Alexander achtete vorsichtshalber darauf, nicht auf die Blumen zu treten, obwohl er ihr nicht ein einziges Wort glaubte. »Und wenn das deine Lieblinge sind, warum hast du dann gestern welche abgepflückt? Davon gehen sie doch ein, wenn man sie nicht ins Wasser stellt.«

Das Mädchen blieb stehen, wandte sich ihm zu und sagte mit zittern­der Stimme: »Abgepflückt? Ich, abgepflückt? Ich würde meinen Lieblingen niemals etwas antun. Blumen gehören auf die Wiese und nicht in die Vase.« Es senkte den Blick und schwieg einen Moment, dann flüsterte es: »Ich sammle lediglich die auf, die ihr Leben gelebt haben und dem Ende nahe sind. Ich biete ihnen noch eine letzte Stätte, bevor sie verwelken.«

›Also doch die Vase‹, dachte er. ›Jedenfalls hat die Kleine nicht alle Tassen im Schrank – so viel ist mal sicher.‹ Sie gingen nebeneinander her, das Mädchen hüpfte nun nicht mehr und Alexander fiel ein, was es vorhin zu ihm gesagt hatte. »Nun zurück zu den Prüfungen. Von welchen Prüfungen hast du gesprochen? Was für Prüfungen und wer hat mich nicht geholt?«

»Ich weiß nicht viel darüber, aber Prüfungen gehören zu unserem Schicksal. Unser Leben wird von davon bestimmt. Doch gibt es Zeiten zum Reden und Zeiten zum Frühstücken und jetzt ist genau die richtige Zeit, ein wohlschmeckendes Frühstück zu genießen«, erwiderte es, wandte sich ab und ging.

Alexander stützte beide Hände in die Hüfte um seinen Worten den nötigen Ausdruck zu geben und rief hinter ihm her: »Und damit wir uns richtig verstehen: Ich will keine Prüfungen machen. Ich will nur wissen, wie ich hier wieder verschwinden kann.«

Wenig später stellte Lilu sich unter einen Baum, der nah an der Lichtung stand und zeigte mit übertrieben ausladender Handbewegung auf etwas, das der Frühstückstisch hätte sein können. »Wir sind da. Ich habe schon einen Bärenhunger. Es gibt knusperfrische Brötchen mit Konfitüre und Honig – mhhh, lecker. Alles Weitere werde ich dir zu gegebener Zeit erläutern, so ich denn kann.«

Unter einem Schatten spendenden Baum lag ein grob geschlagenes Brett über zwei großen, moosbewachsenen Steinen. Vier aus Gras und Stroh kunstvoll geflochtene Kissen dienten als Hocker. Auf dem Brett standen kleine Teller, Becher und ein Korb gefüllt mit winzigen Brötchen. In der Mitte des Brettes standen Töpfchen mit der Aufschrift ›Honig‹ und ›Konfitüre‹ und es gab flache Holzstöckchen, die sie statt eines Brotmessers nutzen konnten.

Bisher hatte Alexander sich wenig Gedanken darüber gemacht, wo so ein Mädchen wohnen könnte, ob es Eltern hatte und warum es nicht zur Schule musste. Er schaute sich um, doch er sah weder ein Haus noch eine Hütte; nicht einmal ein Zelt und fragte: »Und hier wohnst du? Wo ist dein Haus und wo schläfst du?«

Lilu lächelte und antwortete: »Ich benötige kein Haus. Ich schlafe, wo ich will und frühstücke, wo mir der Duft leckerer Brötchen in die Nase steigt. Nun setz dich und lass es dir schmecken, piep, piep.«

Das war nicht die Antwort, die Alexander erhofft hatte, aber der Duft frisch gebackener Brötchen ließ ihn seine Fragen vorerst vergessen. Er setzte sich auf zwei der kleinen Graskissen und bediente sich, denn er hatte ebenfalls einen Bärenhunger. Da diese Brötchen augenscheinlich für sehr kleine Münder gebacken worden waren, war sein Hunger noch nicht gestillt, obwohl er mindestens ein Dutzend innerhalb der ersten drei Minuten verputzte.

»Die schmecken sehr lecker. Wer hat die gebacken?«, fragte er mit vollem Mund.

Lilu blickte auf, sah ihren Gast mit vorwurfsvollem Blick an und mahnte: »Meine Güte, lieber Alexander. Man spricht nicht mit vollem Munde. Das ist gefährlich. Dir kann ein Bissen im Halse stecken bleiben und dann wirst du hier vor meinen Augen liegen und nach Luft japsen. Du wirst einen roten Kopf bekommen und jämmerlich ersticken und ich werde nichts für dich tun können. Ich werde um dich weinen müssen und vor Gram elendig zugrunde gehen.« Gekonnt theatralisch griff sie sich mit beiden Händen an die Kehle, hechelte und würgte, bis ihr Gesicht rot anlief.

»Ist ja schon gut, ich hab’s verstanden.«

Sie lächelte, die Röte verschwand und ihr Gesicht wurde wieder so blass wie zuvor. »Diese leckeren Brötchen hat ein lieber Freund gebacken. Er ist der Brötchenmeister und keiner, landauf, landab, hat jemals solch köstliche Brötchen zaubern können.«

»Der kann Brötchen zaubern?«, fragte Alexander etwas ungläubig.

»Natürlich nicht. Das sagt man nur so.«

»Euer neuer Freund ist fürwahr ein Schmutzfink übelster Sorte. Habt nicht übertrieben, meine Liebe. Und zudem spricht er mit vollem Munde. Feine Gesellschaft habt Ihr Euch da ausgewählt, feine Gesellschaft.«

Alexander zuckte zusammen, drehte rasch seinen Kopf und suchte die Gestalt zu dieser krähenden Stimme. Hinter sich erblickte er ein sehr kleines Männchen. Vor lauter Schreck verschluckte er sich und begann zu husten, um dieses gemeine Stückchen aus seinem Hals zu bekommen, das nun vor seiner Speiseröhre steckte.

»Siehst du, da hast du es!«, sagte Lilu triumphierend, stand blitzschnell auf und klopfte ihm mehrfach kräftig auf den Rücken.

Nun war der Junge sich sicher, dass er träumte, denn das Männchen war lediglich halb so groß wie Lilu und es sah zudem noch sehr befremdlich aus. Eine gewisse Ähnlichkeit mit einem riesigen Pilz mit einer hässlich schrumpeligen Visage war nicht zu leugnen.

Genau so hatte Alexander sich immer einen Gnom vorgestellt. Man muss wissen, dass Gnome deutlich kleiner als Zwerge, und meistens böse und hinterhältig sind. Der Wicht war annähernd weiß gekleidet, wie es sich für einen Bäcker gehörte, hatte einen, für seine Verhältnisse, großen Weidenkorb voll mit diesen winzigen, leckeren Brötchen auf seinem Hut oder seinem Kopf, denn Alexander konnte in seiner Überraschung nicht genau erkennen, wo der Hut aufhörte und der Kopf des Männchens anfing.

Lilu machte eine höfische Handbewegung und sagte mit festlicher Stimme: »Darf ich vorstellen? Das ist Brötchenmeister.«

Das Männchen verbeugte sich wortlos, so tief es eben ging, ohne dass der Korb von seinem Kopf rutschen würde.

»Brötchenmeister?«, stammelte der Junge. »Nur Brötchenmeister? Hat der nur diesen einen Namen?«

»Wie viele Namen sollte er denn sonst haben? Etwa sieben oder mehr?«, zischte der Wicht und er schien vergrämt darüber zu sein, dass über ihn gesprochen wurde, als sei er nicht anwesend.

»Es genügt ein Name«, sagte Lilu und setzte sich wieder auf das Graskissen.

Alexander war fassungslos. So ein seltsames Wesen hatte er noch nie zu Gesicht bekommen und da es sich nicht schickt, fremde Leute, und seien sie auch noch so sonderlich, auf ihr Aussehen anzusprechen, fragte er nur: »Macht er kein Brot oder vielleicht Kuchen?«

»Nein, ausschließlich Brötchen und zwar die leckersten«, antwortete Lilu und biss von ihrem Brötchen ab.

»Warum tut Ihr so, als hätte er keine Ohren. Er kann sehr gut hören und er steht ganz in Eurer Nähe«, beschwerte sich der Wicht und Alexander hatte das Gefühl, ihn abermals beleidigt zu haben, obwohl das gar nicht seine Absicht war. Er war nur nicht vertraut im Umgang mit fremdartigen Wesen.

»Ähm, hallo, ich bin Alexander«, stammelte er im Glauben, sich vorstellen zu müssen.

Das Männchen machte abermals die Andeutung einer Verbeugung und erwiderte: »Angenehm, er wird Brötchenmeister genannt, wie Ihr ja schon wisst. Er hat schon viel von Euch gehört und es gefällt ihm außerordentlich, dass Euch seine Backwaren sichtlich und hörbar schmecken.«

»Hörbar?«

»Du schmatzt, mein Lieber. Du schmatzt wie ein Schweinchen. Piep, piep«, bemerkte Lilu lachend.

Der Wicht nahm den Korb von seinem Kopf und setzte sich zu ihnen. Seine kurzen, krummen Beine reichten gerade bis zum Boden. Er blickte den Jungen abschätzend an und fuhr sich mit der flachen Hand nachdenklich über das volle, schlaffe Kinn. »Sieht nicht so aus, als würdet Ihr der Roten eine große Hilfe sein. Sehr, sehr schmutzig. Täte besser daran, sich künftig ihren Beistand gewissenhafter auszusuchen.« Er griff sich ein Brötchen, riss seinen Schlund auf und biss mit einem Happen die Hälfte ab. Beim Sprechen war es nicht zu sehen gewesen, denn dabei bewegte er kaum die runzligen Lippen, aber nun zeigte der Wicht, dass sein Mund annähernd von Ohr zu Ohr reichte. Seine wenigen Zähne waren ebenso spitz und kräftig wie die eines wilden Tieres, jedoch deutlich gelber. Alexander schauderte bei diesem Anblick etwas.

»Seid Ihr sicher, dass er derjenige ist, der Euch beistehen wird?«, fragte der Wicht, warf die andere Brötchenhälfte in die Höhe und schnappte danach im Fluge wie ein Hund, dem ein Leckerbissen zugeworfen wurde.

»Er ist der Einzige, der gekommen ist. «, erwiderte das Mädchen.

»Ich verstehe überhaupt nichts«, fuhr Alexander dazwischen. »Kann mir mal jemand erklären, wovon ihr redet.«

»Neugierig, der Bengel«, zischte der Brötchenmeister. »Hat weder Manieren noch Ahnung, was?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Es war noch keine Zeit. Er ist doch gerade erst angekommen.«

»Woher kommt er?«

»Das weiß ich nicht. Er war auf der Lichtung, wie die anderen.«

Der Junge folgte dem Dialog der Fremden, indem er seinen Kopf von links nach rechts drehte, als würde er einem langsam geschlagenen Ball eines Tennisspieles folgen. »Hallo, vielleicht redet ja mal jemand mit mir. Welche anderen und was geht hier vor?«

Sie beachteten ihn nicht.

»Ihr wisst, was zu tun ist«, sagte der Wicht. »Wäre ich nur hundert Jahre jünger, würde ich Euch an seiner statt begleiten.«

Das Mädchen nickte. »Ist schon recht. Wir werden Euch nicht enttäuschen. Ich weiß, was zu tun ist.« Sie blickte zu Alexander. »Er sieht doch ganz kräftig aus. Hätte schlimmer kommen können.«

Der Brötchenmeister schaute den Jungen an und schien zu schmunzeln. »Wie Ihr meint. Doch nun genug der Worte. Genießt die Backwaren solange sie noch warm sind. Er wird noch mehr machen, wenn es Euch beliebt. So viel zu tun, so viel zu tun«, näselte er und verschwand mit kurzen, schnellen Schritten ebenso plötzlich, wie er gekommen war.

Alexander schaute sich noch einmal um, um sich zu vergewissern, dass er wirklich fort war, beugte sich etwas vor und fragte leise: »Eigenartiger Kauz. Ich habe nicht ein Wort verstanden. Wovon habt ihr gesprochen?«

Lilu lächelte nur. Alexander beugte sich noch ein wenig tiefer und tuschelte: »Ist das ein Gnom? Oder ein Kobold?«

»Er ist ein Gnom. Kobolde leben nicht in den Wäldern«, antwortete sie, als ob die Existenz von Kobolden und Gnomen nichts Besonderes sei. »Aber er wird nicht gerne so genannt. Du musst wissen, dass Gnom weniger klein als vielmehr verschlagen und böse bedeutet.«

Doch wenn der Brötchenmeister ein Gnom war, gab es sicher auch noch andere Wesen, schlussfolgerte Alexander. Er war zu Recht aufgeregt. »Gibt es hier auch Riesen und Zwerge oder Hexen und Zauberer? Und was ist mit Feen und Drachen und Einhörnern?«

»Einiges gibt es, einiges nicht«, antwortete Lilu fast beiläufig. »Das ist vor allem Ansichtssache.«

»Wie?«

»Der Brötchenmeister mag für dich ein Wicht sein und in seinen Augen bist du nicht weniger als ein Riese. Und mit Zauberei werden häufig Dinge benannt, die die einfachen Leute nicht verstehen.«

»Hm.« Das musste Alexander sich erst einmal durch den Kopf gehen lassen. Sie genossen das reichhaltige Frühstück, zu dem auch warmer Kräutertee gereicht wurde und sprachen nicht viel.

Raniten in der Furt

Подняться наверх