Читать книгу Raniten in der Furt - Frank Bartels - Страница 9
Gebrannte Mandeln
ОглавлениеAm Fuße eines mächtigen, alten Baumes blieb sie stehen, schaute sich kurz um und beschloss: »Hier werden wir die Nacht verbringen.«
Alexander hielt Abstand und betrachtete den Stamm. »Das ist keine Eiche. Bist du dir sicher, dass es keine Weide ist?«
»Ganz sicher keine Weide«, versicherte Lilu. Vereinzelt lagen große, Moos bewachsene Steine am Boden und der dichte Farn bot einen gewissen Schutz vor neugierigen Blicken. Die Erde war mit losem Laub bedeckt und schien als Nachtlager nicht schlechter als andere Plätze.
Alexander legte sich auf den Boden und jammerte: »Meine Füße. Meine armen Füße.« Dann zog er seine Turnschuhe aus, legte sich lang hin und streckte seine Glieder weit von sich.
»Ich werde nun für Feuerholz sorgen und du wartest hier. Rühr dich nicht vom Fleck, hast du verstanden?«, sagte Lilu streng, drehte sich um und ging.
»Genau das habe ich gerade gesagt: Ich gehe keinen Schritt mehr«, antwortete Alexander missmutig. »Und was ist mit Essen? Ich habe schon ein Loch im Bauch.«
Sie drehte sich noch einmal herum und antwortete: »Der Proviant ist leider verbraucht. Ich werde meine Augen offen halten. Vielleicht habe ich Glück und finde ein paar Pilze oder Beeren.« Dann verschwand sie in der Dämmerung und Alexander war allein. Sein Magen knurrte. Er setzte sich auf und lehnte sich an den großstämmigen Baum. Er wusste zwar nicht, was das für ein Baum war aber eine Weide war es sicher nicht. ›Hoffentlich bringt sie etwas zu essen mit. Jetzt würde ich sogar Pilze essen‹ dachte er, als er plötzlich er ein leises Rascheln hinter sich vernahm. Seine wunden Füße und sein Hunger hatten ihn die Geschichte mit dem Mirgos vorerst vergessen lassen, doch nun erinnerte er sich wieder lebhaft an diese zweifelhafte Begegnung. Vielleicht war es ihnen gefolgt.
Ganz vorsichtig, auf allen Vieren, krabbelte Alexander um den Stamm des Baumes. Wenn er doch bloß einen Knüppel oder etwas Ähnliches gehabt hätte. Glücklicherweise sah er jedoch nur diese kleinen, pelzigen Heberlinge, die auch hier nach Beeren zu suchen schienen. Ob es dieselben waren, vermochte er nicht zu sagen aber er konnte sich nicht vorstellen, dass sie mit ihren kurzen Beinchen so weit hätten laufen können. Er beobachtete einige dieser Tierchen, die emsig dabei waren, Beeren von den unteren Ästen zu sammeln. Husch, husch ging das und die Früchte verschwanden in den Körbchen, die sie auf ihren Buckeln trugen.
Eines dieser Heberlinge hatte helle Streifen auf dem Rücken und war deutlich pummeliger als seine Gefährten. Es bewegte sich nicht so rasch und es war auch nicht so eifrig. Statt der Beeren am Ast las es die reifen Beeren vom Boden auf, wobei es sich sehr gemächlich bewegte. Jede dritte Beere probierte es oder verputzte sie ganz, bis alle entweder im Körbchen oder im Magen des Tierchens waren.
Alexander folgte dem gestreiften Tierchen mit seinen Blicken, bis es außer Sicht war. ›Die Heberlinge werden mich zu leckeren Beeren führen‹, dachte er und schlich fast lautlos in die Richtung, in die er es hatte verschwinden sehen.
Das Tierchen hockte knabbernder Weise auf dem Waldboden. Es hatte eine jener kleinen braunen Kugeln in der Pfote, die scheinbar wahllos verstreut in der Gegend herum lagen. Diese Kugeln hatten ungefähr die Größe von Haselnüssen, schienen aber keine harte Schale zu besitzen. Das Gestreifte hatte sich mittlerweile aufgemacht, weitere Kügelchen aufzusammeln, von denen es nur noch jedes zweite in seinen Korb steckte. Es ließ sich in keiner Weise von dem Fremden stören und so schlich er näher heran. Die Nüsse schienen dem Tierchen so sehr zu schmecken, dass Alexander fast bis auf Reichweite an es herankam.
›Ob ich versuchen sollte, es zu streicheln‹, fragte er sich und wagte sich noch ein Stück näher. Er ging in die Knie und beugte sich vorsichtig herunter, als ihm plötzlich der verlockende Duft dieser runden Dinger in die Nase stieg.
Die musste er unbedingt versuchen. Alexander hob eines der Kügelchen auf und hielt es prüfend zwischen seinen Fingern. Giftig konnte es nicht sein, denn das Heberling aß davon. Es roch ein wenig nach gebrannten Mandeln, die er auf dem Rummel so gerne aß. Sorgfältig strich er eines der Kügelchen mit seinem Ärmel sauber, steckte es in seinen Mund und begann vorsichtig zu kauen. Es schmeckte einfach vorzüglich und tatsächlich ein wenig nach gebrannten Mandeln. Nicht ganz so süß und nicht ganz so hart und einfach lecker. Er sammelte weitere Kügelchen und steckte diese in seine Jackentasche. Noch zwei oder drei Kügelchen landeten in seinem Mund, bis er hinter sich plötzlich eine Stimme vernahm: »Lass es lieber.«
Alexander erschrak. Hinter ihm stand Lilu.
»Musst du mir so einen Schrecken einjagen?«, fauchte er. »Ich habe dich gar nicht kommen hören.«
Lilu stand dicht bei ihm und antwortete mit ruhiger Stimme: »Das liegt an den Dingern – die machen das.« Dann zeigte sie in die Richtung, in die Alexander das Gestreifte hatte verschwinden sehen und sagte: »Lege sie aus der Hand. Folge mir und du wirst verstehen.«
Nach wenigen Schritten blieb Lilu stehen. Sie erhob mahnend ihren Zeigefinger und blickte in die Richtung des kleinen, pummeligen Heberlings und flüsterte: »Schau dir das arme Wesen an. Es sieht nichts und hört nichts und ist bereits verloren.«
Aber Alexander verstand nicht, wovon sie sprach. Das Tierchen sah putzig aus, wie es auf dem Boden sitzend mit beiden Pfoten das Nüsschen hielt und genüsslich daran nagte.
»Sie benebeln die Sinne. Sie liegen hier nicht zufällig. Die Kügelchen bilden eine Spur, die ins sichere Verderben führt.«
»Äh, was meinst du?«, fragte Alexander.
»Schau hin, dann siehst du mit eigenen Augen, wovon ich spreche.«
Das Tierchen hatte derweil alle Kügelchen vom Waldboden aufgelesen, bis es vor einer riesigen Pflanze mit einer fast schwarzen, sackartigen Blüte stehen blieb. Diese Pflanze schien annähernd so groß zu sein wie Alexander selbst und sich sachte im Wind zu wiegen, obwohl kein Lüftchen sich regte. Das Heberling schien sich nicht für die mächtige Blume zu interessieren, sondern eher darüber verwundert zu sein, dass es keine Nüsschen am Boden mehr fand. Neugierig streckte es die Schnauze in die Höhe, schnupperte und trat dabei näher an die Pflanze heran.
Gerade als Alexander Lilu fragen wollte, was nun passieren würde, riss die Pflanze ihren Schlund auf, eine lange Zunge peitschte blitzschnell heraus, schnappte das bedauernswerte Wesen und verschlang es mit Haut und Haaren. Ein lautes, jammervolles Quieken erfüllte für einen kurzen Moment die Luft. Das Ganze passierte so plötzlich und unerwartet, dass Alexander glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können. Eben noch stand das niedliche Gestreifte da und genoss die köstlichen Nüsse und eine Sekunde später war es im tiefen Schlund der Pflanze verschwunden.
Erschrocken und völlig verstört warf er Lilu einen fragenden Blick zu und sie sagte mit leiser Stimme: »Das ist die alte Guste. Sie ist keine Blume. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie eine Pflanze ist. Sicher bin ich mir jedoch, dass sie böse und hinterhältig ist.«
Mit offenem Mund hockte Alexander neben Lilu und sie fuhr fort: »Die Kügelchen sind von ihr. Sie benebeln die Sinne und wer davon kostet, wird unaufmerksam. Sie verstreut ihre Köder scheinbar wahllos, doch führen sie immer in ihren hungrigen Schlund. Was Guste erst einmal mit ihrer klebrigen Zunge zu fassen gekriegt hat, wird ihr nicht entkommen. Höre auf meinen Rat und meide sie.«
Leise konnte man das Quieken des bedauernswerten Heberlings noch hören, das sich seinem Schicksal noch nicht ergeben hatte. Das war zu viel. Das war eindeutig zu viel für den armen Jungen. Nachdem er sich etwas gefangen hatte, schaute er Lilu vorwurfsvoll an und sagte: »Aber du hättest das Tierchen doch warnen können. Warum hast du es denn nicht gewarnt?«
Lilu ließ sich nicht aus Ruhe bringen und seufzte: »Es wäre sowieso zu spät gewesen – leider. Wenn die Guste es nicht verschlungen hätte, wäre es durch die Kügelchen elendig verendet.«
Und plötzlich schien ihm das Schicksal des Heberlings weniger wichtig als das eigene: »Sind … sind die etwa giftig?«
Ruhig erwiderte sie: »Also, giftig sind sie nicht aber sie … blähen.«
»Was machen die?«
»Sie blähen. Also, sie entwickeln im Bauch Gase. So wie Bohnen oder Linsen, nur viel stärker. So stark, dass man irgendwann einfach platzt. Der Bauch wird kugelrund und peng, platzt man wie eine Knallerbse«, erklärte Lilu und klatschte dabei laut in die Hände. Alexander war entsetzt. Das war ja noch schlimmer.
»Sag, dass das nicht stimmt. Bitte, sag, dass das nicht stimmt. Ich habe von den Dingern gegessen«, jammerte er in der Gewissheit, sehr bald platzen zu müssen.
Lilu kräuselte die Stirn, ließ ein paar Sekunden vergehen und fragte: »Wie viele hast du gegessen?«
»Keine Ahnung, so zwei oder drei. Bestimmt nicht mehr, ehrlich.«
Daraufhin lächelte sie: »Hi, hi. Keine Angst, Alexander, du wirst nicht platzen. Ein kleines Heberling kann platzen aber du wirst höchstens … pupsen.«
»Pupsen?«
»Ja, pupsen. Du bist groß und stark und kein Heberling. Du wirst nur pupsen müssen. Du wirst gar nicht mehr aufhören können. Hi, hi, hi«, lachte sie. »Pupsen ist immerhin besser als platzen, oder, mein Lieber?«
Da war Alexander erleichtert, denn das war ja nichts Schlimmes. Wenn keiner dabei war, machte er das dauernd. Auf jeden Fall war es nicht so schlimm wie zu platzen. Im Unterholz entdeckte er einen groben, armdicken Ast, den er entschlossen an sich nahm. Lilu schien seine Wut und Verzweiflung zu spüren und fragte: »Was hast du vor?«
»Ich werde das Ding kurz und klein hauen«, antwortete er grimmig. »Das wird jedenfalls kein Tierchen mehr fressen.«
»Lass es lieber. Sei froh, dass sie nicht dich, sondern das kleine Heberling geschnappt hat. Wozu willst du dich denn jetzt noch auf einen Kampf mit einem Gegner einlassen, den du nicht einschätzen kannst. Das Tierchen kannst du sowieso nicht mehr retten. Und wer weiß, vielleicht hat die alte Guste ja noch andere Tricks auf Lager.«
Nach anfänglichem Zögern entschied Alexander: »Na schön, aber den Knüppel nehme ich trotzdem mit. Man weiß ja nie.« Sie verließen den unglückseligen Platz nicht ohne einen letzten, misstrauischen Blick auf die alte Guste zu werfen und gingen zu ihrem Lager zurück.
Lilu entfachte ein wärmendes Feuer, denn des Nachts wurde es doch ein wenig kühl so ohne Decke oder Schlafsack und Alexander legte sich in das Moos. Wie er so da lag und darüber grübelte, was schrecklicher war, die alte Guste oder sein Hunger, spürte er, dass etwas fehlte: »Wo … wo sind meine Schuhe? Hast du meine Turnschuhe gesehen? Das kann doch nicht angehen. Ich weiß genau, dass ich sie hier ausgezogen habe.«
Wie ein aufgeschrecktes Huhn sprang er herum, wedelte wild mit seinen Armen und suchte hinter den Bäumen, unter dem Farn und zwischen den Steinen, doch von seinen Schuhen fehlte jede Spur.
»So ein Mist, verdammter«, fluchte er. »Das gibt es doch gar nicht.«
»Beruhige dich, mein Freund. Die werden sich schon wieder finden.«
»Aber die sind hier nicht und ich kann doch nicht ohne Schuhe weitermarschieren«, jammerte er nunmehr verzweifelt. Sie suchten mehrfach all die Orte ab, an denen die Schuhe hätten sein können, doch konnten sie sie nicht finden.
»Uns fällt schon eine Lösung ein«, versuchte Lilu zu beruhigen, obwohl es schon seltsam war, denn Schuhe verschwinden ja nicht von selbst. Da musste schon jemand nachgeholfen haben.
»Ach, und an welche Lösung dachtest du? Gibst du mir deine Schuhe?«, fragte Alexander spöttisch und blickte dabei auf ihre Wanderstiefelchen.
Dieses Abenteuer hatte seinen Hunger vergehen lassen, obwohl Lilu jede Menge leckere Beeren und Pilze gesammelt hatte. Sie griff einen Stock, fingerte in ihrem Bündel und zog ein beachtliches Messer hervor. Flink und unerwartet geschickt bearbeitete sie den Stock, steckte dann einige Pilze auf dessen Spitze und hielt ihn über das Feuer.
»Du hast ja ein Messer«, bemerkte Alexander verwundert.
»Natürlich. Ein Messer ist doch ungeheuer praktisch. Man sollte niemals ohne Messer auf Wanderschaft gehen. Hm, köstlich. Solltest du auch mal probieren.« Obwohl es recht lecker duftete, lehnte er ab: »Nein danke. Ich habe irgendwie Bauchschmerzen; aber darf ich das Messer mal haben?«
»Natürlich, aber schneide dir nicht die Finger ab. Es ist sehr scharf.«
Und tatsächlich. Alexander bearbeitete mit dem Messer seinen Knüppel. Er entfernte die kleinen Ästchen, schnitzte den Stamm, und die Klinge glitt durch das Holz wie durch warme Butter. Nun taten die Kugeln ihre Wirkung und Alexanders Bauch war bereits angeschwollen und kugelrund, als hätte er eine ganze Melone im Stück verschluckt. »Und du bist dir sicher, dass das wieder weggeht?«, fragte er und hielt sich den dicken Bauch.
»Keine Angst. Morgen wird es dir besser gehen«, versuchte Lilu ihren Gefährten zu beruhigen. »Oder übermorgen.« Sie grub mit einer Hand in ihrem Bündel und holte einen kleinen Metallbecher daraus hervor. Dann hielt sie Alexander ihr Stöckchen entgegen und sagte: »Halt mal bitte, aber lass sie nicht anbrennen. Immer schön gleichmäßig drehen.«
Lilu ging und ehe der Junge noch etwas sagen konnte, stand sie wieder im Feuerschein. »Ich habe ein paar Kräuter gesammelt.« Sie erhitzte etwas Wasser in einem Tiegel, legte ein paar Kräuterblätter hinein und bot ihm den Becher: »Trink, der Tee wird dir gut tun.«
Lilu hatte Tee, der beruhigte oder der aufmunterte. Sie hatte Tee, der Schmerzen linderte und welchen, der gut schmeckte. Manche Kräuter und Pflanzen trug sie in ihrem Bündel bei sich und andere Zutaten suchte sie im Wald: Kamille, Minze, Lavendel oder Melisse und andere Kräuter, die Alexander nicht kannte.
»Was ist das für ein Tee?«, fragte Alexander, nachdem er einen Schluck probiert und einen leichten Lakritzgeschmack erkannt hatte.
»Das ist Kamillentee mit einem geheimen Zusatz«, antwortete Lilu rätselhaft.
Misstrauisch fragte er: »Und was ist das für ein Zusatz?«
»Wenn ich dir das sagen würde, wäre er ja nicht mehr geheim.« Doch eigentlich wollte er das mit den Zutaten auch gar nicht so genau wissen; bestimmt waren da Sachen drin wie Spinnenbeine, Froschlaich oder Salamanderaugen – auf jeden Fall etwas Ekliges. Alexander trank trotzdem. Dann bereitete er das Nachtlager vor, indem er etwas Laub zusammenschob. »Schau, ich mache uns ein Nest, wir werden es weich und gemütlich haben. Wenn mein Bauch nur nicht so wehtun würde!«
»Das ist beunruhigend.«
»Finde ich auch.« Alexander rieb sich über den dicken, geschwollenen Bauch. »Wann wird das wieder weg gehen?«
Lilu ergriff eine Handvoll Blätter und entgegnete: »Nicht dein Bauch. Schau dir die Blätter an. Sie sind vertrocknet und vom Baum gefallen.«
»Na und? Blätter fallen nun mal von Bäumen.«
»Ja, jedoch nicht im Sommer«, antwortete sie, ohne weiter darauf einzugehen. »Wenn ich mich nicht täusche - und ich täusche mich nie«, fuhr sie fort und schloss ihre Augen, »werden wir bald den dichten Wald hinter uns lassen und die Sonne wieder auf unserer Haut spüren dürfen.«