Читать книгу Raniten in der Furt - Frank Bartels - Страница 7
Kapitel II Eine Reise
ОглавлениеAlexander schaute auf die Rosinenschnecken vor sich und zog eine Grimasse. Sie dufteten köstlich, doch Rosinen konnte er nichts abgewinnen. Wegen ihrer schrumpeligen Form erinnerten ihn vertrocknete Weintrauben an riesige Popel und allein die Vorstellung fremde Popel im Mund zu haben, fand er ekelig. Bei den eigenen war das natürlich etwas anderes. »Jetzt erzähl mal, aber der Reihe nach. Was ist denn passiert?«
»Lecker, diese Rosinenschnecken; solltest du auch mal probieren. Mhhh, köstlich«, schwärmte Lilu und biss ein großes Stückchen ab.
Vom Hunger und dem verlockenden Duft nach Zimt und Mandeln getrieben, nahm Alexander sich doch ein Stück. »Weißt du, wann Rosinenschnecken noch besser schmecken?« Er pulte die größten Rosinen mit spitzen Fingern heraus und schnipste sie achtlos fort. »Wenn man statt Rosinen Mandelstückchen nimmt.«
»Aber dann wären es doch keine Rosinenschnecken mehr.«
»Eben …«
Nachdem die allerletzte Rosinenschnecke verputzt war, war es an der Zeit, sich ernsthaften Dingen zuzuwenden und so wischte Lilu sich den Mund mit einem Zipfel ihres Kleides und fragte: »Hast du des Nachts zufällig die Sternschnuppe gesehen, die über den Himmel gehuscht ist?«
Der Junge schaute sie erwartungsvoll an, da er dachte, dass noch eine Erklärung folgen würde. Dann antwortete er: »Zufällig? Die war ja wohl nicht zu übersehen. Die Erde hat sogar gebebt. Das war ganz schön unheimlich.« Da Lilu daraufhin nichts erwiderte, fuhr er fort: »Irgendwann bin ich eingeschlafen; dann habe ich von einem Klicken geträumt und jemand hat gejammert und geschrien.«
Sie stocherte mit einem Stöckchen im Boden herum und weckte kleine, lichtscheue Käfer, die wie aufgezogene Blechfiguren losmarschierten. »Diese Sternschnuppe scheint ein Uranolith gewesen zu sein.«
»Ein was? Unsinn, das war eine Sternschnuppe oder ein Meteorit.« Seine Neugierde war geweckt und er rutschte mit seinem Strohgraskissen näher an sie heran. »Ist der etwa irgendwo eingeschlagen und hat Häuser zerstört oder einen gewaltigen Krater hinterlassen?«
Lilu zog ihre schmalen Schultern fast bis an die Ohren und antwortete: »Nein, nicht dass ich wüsste. Ich selbst habe ihn nicht gesehen aber man hat mir berichtet, er habe besonders hell gestrahlt und sein Schweif aus Goldregen sei sehr, sehr lang gewesen.« Sie holte tief Luft, steckte ihre Beinchen lang aus, legte ihre Hände in den Schoß und fuhr fort: »Uranolithen finden ihren Weg zur Erde nur sehr selten.«
»Aha …«
»Es sind Boten – zumeist Unglücksboten«, fuhr sie fort. »Sie haben magische Kräfte. Es soll schon einmal, vor langer, langer Zeit, ein Uranolith niedergegangen sein. Alte Schriften berichten davon. Sicher gibt es auch hier verschiedene Meinungen, doch haben sie alle eines gemeinsam.«
»Und was?«
»Alle beschreiben Tod und Verderben.« Sie atmete tief durch und blickte Alexander in die Augen. »Nicht erst seit letzter Nacht gehen in unserem Wald beunruhigende Dinge vor sich, doch nun wurden die Geschöpfe der Unterwelt geweckt.«
Alexander schluckte. »Ach du liebes Bisschen. Was für Geschöpfe? Nun mach es doch nicht so spannend. Was sind das für Geschöpfe? Eigenartiger als der Gnom können sie wohl kaum sein.«
Lilu antwortete nun genau das, was Alexander eigentlich gar nicht hören wollte: »Oh doch. Und viel boshafter und viel hungriger. Das behauptete der Brötchenmeister jedenfalls. In den alten, fast vergessenen Prophezeiungen wird vor dem Unheil gewarnt und es gäbe nur eine Macht, die sich der Bedrohung würde stellen können«, erklärte sie. »Er warnte vor dem, was unter unseren Füßen in den Tiefen der Erde haust.«
Der Junge starrte auf seine Füße und ließ endlose Sekunden des Schweigens verstreichen, bevor er es nicht mehr aushielt. »Und nun?«
Das Mädchen blickte nachdenklich in den Wald und zupfte sich dabei am Ohrläppchen. Dann nickte es und beschloss: »Uns wird nichts anderes übrig bleiben. Wir sollten uns jemanden anvertrauen, der Erfahrung mit solchen Dingen hat.«
»Also ich kenne mich damit überhaupt nicht aus. Ich weiß ja nicht einmal genau, wovon du redest. Kennst du so jemanden? Ein Orakel oder so?«
»Hm, ich wüsste da einen, den wir um Hilfe ersuchen könnten, aber ich bin nicht sicher, ob es ihn tatsächlich gibt und ob ich ihm begegnen möchte, wenn es ihn gibt«, antwortete sie. »Jenseits des Waldes, in nördlicher Richtung, ragt ein hoher Berg in den Himmel. Alte Geschichten sagen, dort soll ein sehr, sehr alter Tatzelwurm leben, der sehr mächtig sei. Lange hat man von ihm keine Zeichen mehr wahrgenommen, doch in letzter Zeit mehren sich die Gerüchte, er sei wieder erwacht und versetze die Gegend in Angst und Schrecken.«
»Ein Wurm? In Angst und Schrecken?«, grinste Alexander.
»Die einen sagen, es sei ein Lindwurm, die anderen behaupten, es sei ein alter Drache. Sei’s drum. Gesehen hat ihn noch keiner, jedenfalls keiner, den ich kenne. Man sagt, dieser Wurm sei sehr mächtig - und auch sehr gefährlich, wenn er Hunger habe.«
»Wie meinst du das, wenn er Hunger habe?«, wollte Alexander wissen. »Du willst doch nicht etwa einen Drachen aufsuchen? Das kann gefährlich werden, oder?«
»Wer weiß. Ich persönlich gebe nicht viel auf das Geschwätz der Leute.«
Wo war Alexander da nun wieder hineingeraten!? Ein Drache - das hatte ihm gerade noch gefehlt! Obwohl er es nie zugegeben hätte, hatte er schon vor Hunden Angst, sogar vor manchen Katzen, und nun sollte er einen echten Drachen aufsuchen, der womöglich Menschen fraß. Er schüttelte den Kopf und sagte aus voller Überzeugung: »Das gefällt mir gar nicht – ganz und gar nicht. Außerdem … es gibt gar keine echten Drachen. Es gab mal Dinosaurier, aber das ist schon sehr lange her. Drachen gibt es nur in Märchen und das sind nur Geschichten - nichts weiter. Nur Geschichten für kleine Kinder.«
Lilu schaute ihn fragend an: »Was sind Dinosaurier?«
Alexander überlegte einen Moment, ob sie die Frage tatsächlich ernst gemeint hatte, denn jeder kennt ja wohl Dinosaurier. »Die haben mal vor sehr langer Zeit gelebt«, antwortete er dann. »Vor Millionen Jahren, aber sie sind ausgestorben - und zwar alle, nicht einer hat überlebt. Sie waren groß und sahen aus wie Drachen, waren es aber nicht und fliegen konnten die auch nicht … jedenfalls die Wenigsten.«
»Also doch Drachen«, resümierte Lilu nachdenklich. »Ich kann dir nicht sagen, was es alles auf der Welt gibt und was nicht und wer wie lange schon tot ist. Aber ich bin mir sicher, dass es vieles gibt, was wir nicht für möglich halten, bis wir es selbst mit eigenen Augen gesehen haben. Mir gefällt das auch nicht, das kannst du mir glauben. Leider habe ich keine andere Lösung. Du etwa?«
Natürlich hatte Alexander auch keine andere Lösung parat und so blieb den beiden nichts übrig, als den Drachenwurm aufzusuchen, in der Hoffnung, dieser würde ihnen helfen, das Unheil abzuwenden und sie nicht zum Frühstück verspeisen.
»Du wirst ein Abenteuer erleben, nach dessen Ende du nicht mehr der Gleiche sein wirst«, sagte Lilu, als ob die Sache bereits beschossen sei.
»Du willst mich auf den Arm nehmen.«
»Will ich nicht.«
»Ich weiß ja nicht einmal genau, wer ich bin. Da hat mir so etwas wie ein Abenteuer gerade noch gefehlt.« Dann überlegte er. »Kann es sein, dass dieser mächtige und weise Drache mir sagen kann, wer ich bin oder wie ich hier hergekommen bin?«
»Wie kommst du den darauf?«
»Keine Ahnung. In einem Traum wäre dies der passende Zeitpunkt, zu erfahren, dass es da einen Zauberer oder so gibt, der mir aus der Patsche helfen könnte. Ein Drache wäre mir auch recht, wenn er irgendwie magisch, allwissend und ganz und gar nicht gefährlich wäre.«
Das Mädchen schaute ihn fast mitleidig an. »Wir sollten uns sofort auf den Weg machen. Ich packe eben rasch mein Bündel und du wartest hier. Der Tag ist noch lang und wir haben einen mühsamen Weg vor uns.« Dann verschwand es eilig zwischen den Bäumen.
Alexander jedoch schien es, als sei es in dem Wurzelgeflecht einer alten, mächtigen Eiche verschwunden; also hatte sie doch ein Haus oder zumindest so etwas wie eine Behausung. Neugierig schlich er in die Richtung, in die Lilu verschwunden war, schaute sich sehr genau um und versuchte vergeblich, eine Tür oder einen verborgenen Eingang zu finden.
»Ich habe dich gebeten, dort drüben auf mich zu warten, du Neugierspinsel.«
Er drehte sich erschrocken um. Es war noch keine Minute vergangen und schon stand Lilu direkt hinter ihm, die Hände in ihre Hüfte gestützt. Sie trug ein knielanges, beigefarbenes Cape mit einer Kapuze über einem groben Leinenkleid und hatte ihre Lackschühchen gegen grobe Wanderstiefel getauscht, die mindestens drei Nummern zu groß schienen. Aus einem hellen Stück Stoff hatte sie ein Bündel geschnürt und trug dieses quer über ihre Schulter. In diesem Bündel schien sich die Marschverpflegung zu befinden – zumindest roch es plötzlich nach den süßen Rosinenschnecken.
»Ha, ich wusste doch, dass du ein Haus hast. Du hast mich angeschwindelt und behauptet, du hättest kein Haus«, rief Alexander triumphierend. Lilu lächelte etwas schelmisch und antwortete: »Erstens ist das kein Haus, wie du ja unschwer erkennen kannst und zweitens habe ich nicht geschwindelt. Ich habe höchstens ein ganz klein wenig geflunkert. Piep, piep.«
Alexander war natürlich neugierig, denn er wusste so wenig über seine neue Freundin. »Und wo ist es? Zeigst du es mir?«
Sie lächelte und schien Spaß daran zu haben, ihn noch ein wenig auf die Folter zu spannen. Dann sagte sie: »Habe Geduld, mein Lieber. Du wirst mein Geheimnis noch früh genug erfahren. Wir sollten aufbrechen, solange wir Tageslicht haben. Bei Nacht ist der Wald nicht sicher.«
Und so marschierten sie los, um den Wurm zu finden und das drohende Unheil abzuwenden.