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Kapitel II – Kamikowo Halbinsel – Gute Zeiten, große Politik

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"Der Motor der Konjunktur brummt wieder etwas lauter. Wir müssen nur weiterhin die Drehzahl erhöhen", sagte Ivan. Für einen besonderen Anlass hatte er sich diese Metapher einfallen lassen. Schließlich kam die Regierung das erste Mal im neuen Parlamentsgebäude zusammen – öffentlich – und er durfte die Eröffnungsrede halten. Das war ein weiterer Schritt hin zur Normalität auf der Insel und machte allen Bewohnern klar, dass die Zeiten von Landkriegen und Militarismus endgültig Geschichte waren. Sitzungen der Regierung waren nun nicht mehr geheim.

Nachdem er die Sitzungsordnung verlesen und die Parlamentsmitglieder sich damit einverstanden erklärt hatten, sprach Ivan über die wirtschaftliche Entwicklung der Insel. Er hob das Erreichte hervor, kritisierte jedoch milde den niedrigen technologischen Stand der Gesellschaft: "Hier, geehrte Kollegen, gibt es noch viel zu tun. Wir befinden uns zwar schon lange in einer konjunkturell luxuriösen Situation, haben aber erst zwei moderne Behördengebäude sowie ein mittelprächtiges Wohnhaus gebaut und diese durch gute Straßen und eine Brücke verbunden. Ein drittes Gebäude jenseits des Living River ist zurzeit im Entstehen begriffen. Es wird das Einwohnermeldeamt beherbergen. Bisher ist dieses mit einer Teilzeitkraft im Gebäude des Finanzamts untergebracht. Verstehen Sie mich nicht falsch. Wir haben in der Geschichte einzigartiges geleistet. Doch wir dürfen uns jetzt nicht damit zufrieden geben – vor allem weil wir unsere Entwicklung in Sachen Innovation und Modernität gerade erst begonnen haben."

Er blickte in die Reihen der Zuhörer, die im von Glaswänden und dicken Stahlpfeilern begrenzten Raum saßen. Sie waren recht übersichtlich. Neben Birga und Mark auf den Parlamentssitzen war ein Zuhörer da: Manuel Arnan, einer der bisher vier neu Zugezogenen.

Dieser Fakt ärgerte die Machthaber ein wenig. Eigentlich sollte die Bevölkerung mit ihrer Arbeit so ausgelastet sein, dass ihr Interesse an der Politik im besten Fall geheuchelt sein konnte. Doch dieser Arnan hatte sich tatsächlich die Zeit genommen, der öffentlichen Sitzung beizuwohnen. Nicht, dass er dort etwas Prekäres erfahren könnte. Die Machthaber hatten ohnehin geplant, eine saubere Schausitzung mit viel gegenseitigem Lob und moderater, gut positionierter Kritik abzuhalten und dies auch nach außen hin per Faltblatt und Internetblog zu kommunizieren. Arnans Anwesenheit zeigte nur, dass die Menschen auch trotz totaler Auslastung noch ein gewisses aufrichtiges Interesse an der Politik zeigten. Das war kein Weltuntergang, aber eine Herausforderung.

Ivan rückte sich seine eckige Brille zurecht und sprach weiter: "Wenn wir schon vom Einwohnermeldeamt sprechen ... kürzlich ist ein Geologe in unser Inselparadies gezogen. In ersten Gesprächen hat er sich bereits bereit erklärt, eine leitende Stelle im Amt für Bodenschätze und natürliche Ressourcen anzunehmen. Möglichst schnell soll er die Leitung über eine Suchmannschaft übernehmen, die die Berge des Fjordlands nach Rohstoffen absuchen wird. Wie Sie wissen, ist dieser Schritt schon länger geplant. Die Frage dabei ist nicht ob wir Bodenschätze entdecken, sondern welche und wie viele."

"Wie ist die Suche geplant?", wollte Birga wissen. "Nun, wir werden an der Ostküste in der Nähe von Höhe 280 beginnen und uns von dort aus an den unteren Hängen des Mt Tacle und des Alp Peak entlang arbeiten. Bevorzugt werden wir uns die Gebiete ansehen, in denen der Aufwand für einen Abbau auch vertretbar wäre. Der Zeitplan ist ehrgeizig: Wir wollen schon in der kommenden Woche ausrücken und innerhalb zwei weiterer Wochen einen Überblick über das Gebiet haben."

Es gab keine weiteren Fragen zum Projekt, das einstimmig auf den Weg gebracht wurde. Den nächsten Punkt auf der Tagesordnung leitete Birga ein: Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zum Ausland.

"Eine dreiköpfige Arbeitsgruppe der Regierung hat unsere Möglichkeiten überprüft, um möglichst bald internationale Anerkennung zu finden", berichtete er. Dazu werden wir diplomatische Beziehungen mit folgenden staatlichen Gebilden aufnehmen, die wir im Gegenzug auch im vollem Umfang anerkennen werden: der Republik China auf Taiwan, den Cookinseln, Westsahara, der Republik Somaliland, dem Kosovo, der Türkischen Republik Nordzypern, den Palästinensischen Autonomiegebieten, Abchasien sowie Südossetien." Birga straffte sich. Er versprühte einen weltmännischen Eindruck. "Da wir mit der Anerkennung des Kosovo und in gewissem Maße auch mit der der Republik China Washington einen Gefallen tun, werden wir zudem auf Facebook eine Freundschaftsanfrage an Barack Hussein Obama stellen." Jetzt machte Birga eine längere Pause. Er wollte das elektrisierende Gefühl im Raum wirken lassen, dass er von diplomatischen Beziehungen und im gleichen Zusammenhang auch von Washington und Obama sprach. Dann dozierte er weiter: "Das gleiche Entgegenkommen haben wir Moskau mit Abchasien und Südossetien zukommen lassen – auch Vladimir Putin werden wir unsere Freundschaft anbieten."

Applaus brandete auf. Es standen noch ein paar kleinere Punkte auf der Tagesordnung, bevor Mark, der diese Themen vortrug, die Sitzung schließlich beendete.

Die Pläne der Inselregierung schienen aufzugehen: Bereits nach wenigen Tagen waren sie Facebook-Freunde von Putin und Obama. Bald darauf trafen auch die ersten Diplomatenschreiben aus den angeschriebenen Gebieten im Regierungshaus ein.

Kurz nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit den Palästinensischen Autonomiegebieten erreichte allerdings auch eine entsprechende Protestnote aus Israel die Insel. Diese beinhaltete die Androhung eines Einreiseverbots für Kabinettsmitglieder der Insel, sollten diese dezidiert pro palästinensisch auftreten. Die Machthaber verfassten darauf einen Antwortbrief, indem sie Israel zweifelsfrei anerkannten, und den schwierigen Weg, den der Staat seit 1948 gehen musste, mit höchstem Respekt wertschätzten. Wie in Washington würde man sich auf der Insel jedoch für eine Zwei-Staaten-Lösung aussprechen. Zudem zogen sie ihre Anfrage, um zwischenstaatliche Beziehungen an den Knesset vor. Dies war eigentlich erst viel später geplant, doch konnte man sich auf gar keinen Fall einen mächtigen Feind mit Einfluss in den USA leisten.

Die Anfrage blieb jedoch vorerst unbeantwortet. Das wunderte niemanden, schließlich handelte es sich bei der Insel noch immer um einen unbedeutenden Pazifikstaat und nicht um eine unbedeutende zentralasiatische Republik mit Nähe zum Iran.

Noch ein paar Tage später flatterte schon die nächste gute Nachricht in den Regierungskomplex: Die vom Geologen Waldemar De Geet geleitete Expeditionsmannschaft war fündig geworden! In der Scharte zwischen Alp Peak und Mt Tacle sei man auf große Mengen Zinkerz gestoßen, schrieb er der Regierung per E-Mail. Zudem setzte er die Herren in Kenntnis, dass er sich die Gegend noch genauer ansehen werde. Im gleichen Zug fragte er an, welche Ausrüstung zur genaueren Erforschung zur Verfügung stünde.

"Ein wenig forsch dieser De Geet", sagte Mark bei einem eilig einberufenen Regierungstreffen. Für diese echten Unterredungen nutzten die Herren jedoch nicht den großen Parlamentssaal, sondern schlicht und einfach einen dafür freigehaltenen Raum in dem Gebäude, das ihre Domizile beherbergte.

"Mark, Mark, musst du denn an allem etwas aussetzen?", entgegnete Birga. "Wir werden ihn schon so sehr mit Arbeit zuscheißen, dass er bald keine Gelegenheit mehr hat, aufmüpfig zu sein. Denk lieber an die Ressourcen, die in unserer Insel schlummern. Erinner' dich an unsere Unterredung vor eurem Kolonialisierungsfeldzug."

Diese Argumentation gefiel Ivan. In dem matten Licht der einzigen kleinen Tischlampe, die den Raum erhellte, verzog sich sein Gesicht einmal mehr zu einem Lächeln, das die meisten wohl ein diabolisches Grinsen nennen würden.

"Ja, lasst ihn müpfen, wie er will", murmelte er. "Er ist von echtem Nutzen – kein dummer Vasall, den man lieber zum Leibeigenen machen sollte."

"Natürlich ist er nützlich", warf Mark wiederrum ein. "Mir ist auch klar, dass diese Bodenschätze zur richtigen Zeit kommen. Ich meine, wie lange wollen wir unseren Aufstieg noch auf den Export von Lebensmitteln und Holz basieren lassen?!"

Er runzelte die Stirn und strich sich mit Daumen und Zeigefinger über den Nasenrücken. Dann sprach er betont weiter: "Ich meine nur, dass wir ein Auge auf unsere Neuerwerbe haben müssen. Wir haben sie geködert und dann in die Abhängigkeit getrieben. Aber ich befürchte, das reicht nicht. Sie sind hergekommen, um der harten Welt in den etablierten Staaten zu entfliehen und haben immer noch ihre Idealvorstellungen von Freiheit, Gleichheit und einem alternativen Leben ohne Rumkommandiererei. Sie haben im Gegensatz zu unseren Untertanen der ersten Stunde nur eine vage Vorstellung, wer die Anderen sind und was sie ihnen und unserer ganzen Gesellschaft antun können. Sie sind noch nicht auf Linie!"

"Und was schlägst du vor?" wollte Birga wissen, während Ivan immer noch debil grinsend über den Karten lehnte, mit dem Finger auf ihnen entlangfuhr und irgendetwas vor sich hinmurmelte.

"Wehret den Anfängen", antwortete Mark wieder.

"Wir können aber nicht nochmal die ganze Besatzer-Befreier-Helden-Herrscher-Nummer durchziehen. Das dauert zu lange und es werden wieder neue Menschen zuziehen", sagte Birga.

"Pfft... Menschen", prustete Mark.

"Arbeitsarmeisen", murmelte Ivan, der ganz offensichtlich gerade wieder in seiner eigenen Welt versank.

"Wie auch immer. Aber wir müssen die Kontrolle behalten", setzte Mark fort. "Und wenn es einen schlimmen Anschlag der Anderen erfordert, der sie von der Notwendigkeit eines nach innen und außen starken Staates einschwört."

"Langsam, langsam", wandte Birga ein. "Das muss ja wohl das allerletzte Mittel sein. Wir haben zurzeit anderes zu tun, als wieder die Tür für neuen, teuren Militarismus zu öffnen. Geben wir ihnen doch erstmal was sie wollen und ersticken jeden aufrührerischen Gedanken darin. Das geht aber nur mit zunehmendem Wohlstand. Und den könnten diese neuen Rohstofffunde uns bringen, auch wenn Zink nicht gerade Uran oder Gold ist."

"Indium", warf Ivan in den Raum ein und wandte den beiden anderen wieder sein seitlich angeleuchtetes Gesicht zu. Die rechte Hälfte lag im Dunkeln, nur im Auge war ein kleiner Lichtschimmer, eine Reflexion der Lampe, zu erkennen. Sein Gesicht war noch immer zu einer grotesken Grimasse geformt.

"Was soll damit sein?"

"In vielen Pazifikstaaten wurden Indiumvorkommen in Verbindung mit Zink entdeckt. Ich sage: Lassen wir unsere Arbeitsameise weiter ihre Suche verrichten. Wenn sie auf Indium stößt, sind wir unsere Geldsorgen rasch los. Aber das ist nur so eine Ahnung. Lasst ihn suchen. Sonst ist Zink auch gut." Damit wandte er sich wieder den Karten zu und begann wahrscheinlich schon im Geiste eine Minenstadt zu planen.

"Klar ist Zink gut. Wisst ihr wer Zink braucht? Taiwan. Und die Republik China wird uns hoffentlich in den nächsten Tagen als eigenständigen Staat anerkennen und diplomatische Beziehungen zu uns aufnehmen", sagte Mark.

"Apropos", wollte Birga wissen, "was wird man eigentlich in der Volksrepublik davon halten?"

"Vermutlich nicht allzu viel. Aber wir wussten ja, dass es entweder den Westen oder Fernost als Verbündete gibt. Außerdem erkennen einige Pazifikstaaten die Republik China an und die VR hat ihnen weder eine Neutronenbombe auf den Kopf geschmissen, noch ihnen das Leben zur Hölle gemacht. Was dies angeht, müssen wir bei unserem Plan bleiben und gewisse Spannungen mit den Festlandchinesen in Kauf nehmen."

"Gut, du sagst es ja selbst: bei unserem Plan bleiben. Das heißt auch, das Maximum aus der Insel rauszuholen, bevor wir irgendeinen Komplott schmieden, der zu militärischen Abenteuern führen muss."

"Natürlich. Aber denk dran", sagte Mark inzwischen nur noch zu Birga, "wehret den Anfängen. Wir müssen dieses Gewürm unter Kontrolle halten."

"Ameisen", korrigierte Ivan ihn aus dem Abseits.

Tatsächlich sollte sich in den folgenden Tagen einiges, was an diesem Abend besprochen wurde, bewahrheiten: Die Diplomatische Note der Republik China flatterte herein. Damit war die letzte, aber auch wichtigste Anfrage erfolgreich. Umgehend stellte die Inselregierung Taiwan Rohstoffe in Aussicht. Sie garantierte Zink und deutete an, dass noch mehr kommen könnte. Nach diesem Erfolg galt es auch wieder offiziell tätig zu werden. Mit den neuen Kontakten in alle Welt mussten im großen Parlamentssaal Aufgabenbereiche öffentlich festgelegt (Arnan war tatsächlich wieder da) und dem Volk in einem Kommuniqué bekannt gegeben werden: Birga war nun Beauftragter für den pazifischen Raum. Er war also offizieller Repräsentant für den größten Brocken, der Republik China sowie für die Cook-inseln. Gerade zu Taiwan wollte man ein rein ziviles Verhältnis aufbauen – deswegen fiel die Wahl auf Birga. Ivans Zuständigkeit lag auf dem asiatischen Festland, womit er die Kontakte zu Abchasien, Südossetien und den Palästinensischen Autonomiegebieten pflegte. Seine russische Abstammung machte ihn zum idealen Mann dafür. Marks Verantwortung lag in Europa und Afrika, was den Kosovo, Westsahara, die Republik Somaliland und die Türkische Republik Nordzypern umfasste.

Fast zeitgleich mit der Nachricht aus Taiwan meldete sich auch De Geet. Er berichtete tatsächlich auf das seltene Metall Indium gestoßen zu sein. Nun sei er dabei zu ermitteln, wie groß die Vorkommen sind, vermute aber mehrere hundert Tonnen im Bauch der Insel. Über die Tragweite dieses Funds klärte ein hibbeliger Ivan seine beiden Mitstreiter auf. Der Rohstoff werde in der Chiptechnik, für Flachbildschirme und Displays sowie in Solarzellen verwendet. "Kein Wunder also, dass die Nachfrage weltweit steigt, zumal die Indiumvorkommen sehr begrenzt sind. Das führt zu einem Preis, der bei für uns günstigen Bedingungen auch gut mal bei 1000 Euro pro Kilogramm liegen kann."

Zur Besprechung hatten sie sich wieder in den Raum im Wohngebäude innerhalb ihres diokletianischen Palasts zurückgezogen. Er befand sich auf der dem Tempel zugewandten Seite und hatte sich nur wenig verändert. Zusätzlich zu den Karten der Insel auf den Tischen, hingen nun eine Weltkarte sowie die Karten der einzelnen Erdteile an den Wänden.

"Ich schlage also vor, dass wir schleunigst Bergbaumaterial anschaffen und Herrn De Geet unsere Aufwartung machen. Zudem sollten wir schnellstmöglich eine Bergbausiedlung aus dem Boden stampfen. Das, meine Freunde, wird die Insel verändern und unserem infrastrukturellen Aufbau neue Impulse geben." Sein Blick wurde glasig, er schien durch die beiden anderen durchzusehen, lächelte dabei jedoch. "Es wird nötig sein, die neue Siedlung irgendwie anzubinden. Wir werden Straßen bauen und Fahrzeuge anschaffen müssen. Könnt ihr euch an die Tunnel erinnern, die Mark und ich gefunden haben?" "Du hast Recht, aber eins nach dem anderen", unterbrach Birga ihn recht unsanft. "Wir sollten De Geet besuchen und herausfinden, was er braucht. Ich würde vorschlagen, zwei von uns gehen, während einer wie gehabt die repräsentativen Aufgaben vor Ort übernimmt."

"Ich bleibe", bot Mark an. Konnte sich dann jedoch nicht verkneifen zu sagen: "Ich will schließlich keine zweite Birgatisierung erleben."

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