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Kapitel IV – Minenstadt am Fuß der Berge – Das süße Leben
ОглавлениеEs dauerte nicht lange, bis die erste Schiffsladung Indium in die Republik China nach Taiwan ging. Das silberweiße Schwermetall wurde einfach aus dem Schacht gebaggert und grob vom Zink und den anderen Vorkommen befreit. Der Rest lag beim Empfänger, der trotzdem stattliche Preise dafür bezahlte. Tatsächlich behielt Ivan Recht: Durch die häufige Verwendung des Indiums in der Technik war die Nachfrage enorm. Damit war der Grundstein für neue Prosperität auf der Insel gelegt. Es war nun Zeit für den nächsten Schritt im Plan: Das Volk sollte bekommen, was es wollte und jeder aufrührerische Gedanke sollte darin erstickt werden.
Wieder einmal war beinahe die ganze Bevölkerung, an einem Abend wenige Wochen nach der vergangenen Feier, in der Minenstadt versammelt. Es hatte keine öffentliche Mitteilung gegeben, nur Gerüchte. Gerüchte, dass am Abend ein Bus von Settlers Port in die neue Minenstadt fahren würde. Ein Bus! Fahren! Auf der Insel? Das klang einfach zu verrückt.
Jeder, der das Gerücht in Settlers Port gehört hatte, wollte wissen, ob etwas dran war. Es war wie ein Lauffeuer durch die Behörden gegangen und hatte dort alle erreicht. So kam es, dass Tanja und Porter nach der Arbeit am Straßenrand vor dem großen Behördenbau westlich des Living River standen. Während sie warteten, sah Porter Tanja ein wenig sorgenvoll an. Sie war noch blasser und magerer geworden. Sie schien einige Jahre gealtert zu sein. Dabei hatte sie nichts an ihrem Stil verändert. Wie immer trug sie in Porters Augen angemessen weite und schöne Kleidung in matten Erdtönen. Porter wollte jedoch nichts über ihr Aussehen sagen. Weil ihm nichts anderes einfiel, um die unangenehme Stille zu brechen, fing er mit Arnan an.
"Haben Sie gehört, dass dieser Arnan politisch aktiv werden will?", sagte er und fuhr fort, bevor Tanja antworten konnte: "Immer kritisiert er nur. Denkt, er wäre was Besseres. Ständig verwendet er Fremdwörter. Er denkt wohl, er wäre was Besseres. Er sagte, dass die Regierung restriktiv sei. Dass sie bereit sei, Repressalien anzuwenden. Nur Gott weiß, was er damit meint."
Porter nahm Gott oft in seinen Wortschatz auf. Er hatte zwar keinen Glauben, aber ein starkes inneres Bedürfnis danach. Das bemerkte er selbst allerdings nicht. Dazu war sein Geist durch jahrelanges stumpfes Dasein und Schuften schon viel zu verkümmert. Ebensowenig wusste er, wovon Arnan eigentlich sprach. Mit Freude gab er es aber wieder, lächelte und schüttelte gleichzeitig den Kopf darüber. "Ich werde das Gefühl nicht los, dass das einer ist, der unsere Ordnung und unser Leben durcheinander bringen will."
Nach ein paar Minuten des Wartens, in denen Tanja einfach zu erschöpft war, um ein Gespräch aufzunehmen, fing Porter wieder an: "Wissen Sie, ich habe diesem Besserwisser nichts von dem Bus erzählt. Und wenn wirklich einer kommt, dann hätte ich auch kein schlechtes Gewissen, wenn er ihn ..." Porter stockte und lauschte kurz auf. Ihm war, als hätte er ein Geräusch gehört, das er seit den alten Tagen im Empire nicht mehr gehört hatte. Dann sprach er etwas abgelenkt weiter "...wenn er ihn verpassen würde."
Tanja blickte müde und ein wenig verwirrt zu ihm rüber. "Den Bus meine ich", sagte Porter hastig, durch ihre Reaktion verunsichert. Kaum hatte er ausgesprochen, bog tatsächlich am Hafen ein Bus um die Ecke. Er war von der Straße gekommen, die entlang des Finanzcenters lief, außerhalb von Settlers Port in eine Schotterpiste überging und die in rund 500 Metern zum Regierungssitz am Südende der Kamikowo-Peninsula führte.
Für einen Moment blieb Porter und Tanja die Spucke weg, als sie den roten achtsitzigen Mercedes Sprinter kommen sahen. Erst als er die Brücke über den Fluss überquerte, erwachte Porter aus seiner Starre und ein Grinsen zeigte sich auf seinem sonst so düsteren Gesicht. Es sollte den ganzen Abend lang anhalten.
Nach einer etwas holprigen Fahrt über die zu Beginn des Bergbaus hastig angelegte Schotterstraße, setzte der Busfahrer Assengee sie bei der Siedlung am Fuß der Berge ab und stieg auch selbst mit aus. Allein die Tatsache, dass jetzt ein Bus, ein Vehikel mit Verbrennungsmotor auf der Insel verkehren würde, war schon Grund zu feiern. Die Behördenarbeiter stießen mit den Minenkumpel und De Geet an. Sie tranken auf das Indium, auf die Insel und Porter bestand darauf, immer wieder auf die Führung zu prosten. "Dieser Bus ist schon was anderes als ein Bagger oder ein Amphibienfahrzeug", sagte Juan, der bisher als einziger mit beiden Maschinen zu tun gehabt hatte.
Doch schon kurz darauf bahnte sich die nächste Sensation an. Ein Geländewagen, ein schwarzer Land Rover Defender, fuhr vor und Ivan und Mark stiegen aus. Sie trugen beide Paradeuniform, Ivan in beige und Mark an diesem Tag in blau. Es wirkte fast so, als würden noch mehr Orden als gewöhnlich ihre Brustkörbe zieren. Sie waren gekommen, um die neue Stadt offiziell einzuweihen. Eilig wurde ein rotes Band gespannt, das Mark und Ivan zeitgleich durchschnitten. Sie tauften die Siedlung nun auf Ivania.
Dem war eine lange und hitzige Diskussion im Regierungspalast vorausgegangen.
Mark: "Ivania. Das hättest du wohl gerne?!"
Birga: "Ist ja wohl ein wenig übertrieben, mein Gutster."
Ivan: "Warum? Schließlich gab es auch die Birgatisierung"
Birga: "Ach komm! Das ist lange her ..."
Ivan: "Ja, und es ist in Fleisch und Blut übergegangen. Jeder spricht von der Birgatisierung. Und wir konnten es auf die Schnelle auch nicht ändern, weil bald darauf der 'große Sprung nach vorn' kam. Das ist eine ruhmreiche Zeit in der Geschichte unserer Insel, die wir nicht vaporisieren können. Das weißt du so gut wie ich."
Birga: "Naja ..., also ... seht ihr ... die Menschen wollen die Birgatisierung."
Mark: "Diese kümmerlichen Würmer wollen, was wir ihnen sagen, was sie wollen sollen."
Ivan: "Ameisen."
Mark: "Was?"
Ivan: "Es sind Ameisen, keine Würmer."
Mark: "Ist doch egal!"
Ivan: "Können Würmer Indium abbauen? Würmer kannst du höchstens im Wasser ersäufen, um Fische anzulocken. Und was willst du mit Fischen? Kannst du mit Fischen Flughäfen bauen? Nein, nicht mal mit fliegenden Fischen. Das geht nicht. Können Fische den Weg in eine perfekte techn..."
Birga: "Bleib beim Thema verdammt!"
Ivan: "Nur kein Ärger, mein verehrter Herr Epochen-Namenspate."
Mark: "Ja, wenigstens hatte Ivan den Anstand zu fragen, bevor er Namen verteilt."
Ivan: "Apropos – Mark, ich habe noch einen Vorschlag, denn du sollst ja nicht leer ausgehen, Kamerad."
Birga: "Sind wir jetzt beim Militärjargon angekommen oder was?"
Ivan: (grinst) "Mark, es gibt noch zwei unbenannte Berge im tiefen Süden. Was hältst du davon, wenn wir sie Mount Mark oder so ähnlich nennen?"
Die Diskussion im Hinterzimmer des Regierungspalasts zog sich noch länger hin. Doch schließlich einigten sich die Machthaber tatsächlich auf den Stadtnamen Ivania. Dafür würde der Berg am Rand des großen Fjords künftig Markspitze und der am Ostufer des Flusses Pik Mark heißen. Die Birgatisierung blieb weiterhin die Birgatisierung.
"Ivania", schallte es durch die Nacht, als eine fröhliche, beinahe ausgelassene Inselgesellschaft auf die neue Siedlung anstieß. Ein Kommuniqué verkündete die Nachrichten am nächsten Tag nochmal offiziell: Ivania, die Bergnamen und außerdem stand darin, dass die Straße, die Ivania mit Settlers Port und dem Regierungssitz auf der Kamikowo Peninsula verband, Highway 1 heißen würde.
Danach wurde es auf der Insel für eine Weile ruhig. Die Armee wurde wieder von ihrem Sondereinsatz in den Minen befreit, musste aber trotzdem immer wieder in diesem Bereich patrouillieren. Ansonsten blieb das Arbeitspensum unverändert hoch. So oft wie möglich, legten Schiffe in Setttlers Port an, um dann wieder mit Bäuchen voller Indium oder mit der Zeit auch mit Zink beladen in Richtung Taiwan oder zu anderen Kleinstaaten im Pazifik aufzubrechen. Die beiden Anleger am Hafen wurden nun abgerissen und durch größere Piers aus Beton ersetzt, auf denen auch Schienen für die Bergbauloren angelegt waren. Das Finanzcenter erfüllte nicht mehr länger diese Funktion. Stattdessen hatte die Führung angeordnet, es zum neuen Verwaltungsgebäude für Seeverkehr und Hafenangelegenheiten zu machen. Provisorisch kam das Finanzcenter in den Räumen des Einwohnermeldeamts unter. Pläne für ein neues, noch repräsentativeres Zentrum des Geldes lagen jedoch schon lange auf Birgas Schreibtisch.
Zuallererst war jedoch etwas Wichtigeres an der Reihe: Die Inselführung wies Porter an, eine Auswahl potenzieller Zuwanderer aus den Reihen der Online-Bewerber zu treffen. Das Kriterium: Sie mussten in ihrem Bewerbungsformular den Wunsch eingetragen haben, ein Geschäft zu eröffnen. Aus Porters Vorschlägen wählte die Führung schließlich Han Kaitschek aus. Der 43-Jährige wollte aus nicht näher erläuterten Gründen aus der Volksrepublik China wegziehen. Allerdings hatte er Probleme, das Startkapital für ein Leben auf der Insel aufzubringen.
In Absprache mit dem Einwohnermeldeamt sollte Porter ihm die Einreise ermöglichen und ihm dann ein Grundstück zwischen Settlers Port und Ivania, auf der Ostseite des Rich Rivers zuweisen. Kaitschek kam wenig später in Settlers Port an. Mit umgerechnet 30.000 Euro brachte er wenigstens mehr als die Hälfte des nötigen Gelds zusammen. Die restlichen 20.000 Euro und nochmal die gleiche Summe als Startkapital für einen kleinen Laden, bekam er in Form eines Kredits von der Inselregierung.
Dieses Geschäft machte schon wieder einen neuen Bau notwendig: Zusätzlich zum Finanzcenter musste eine Bank her. Damit das Bauen trotz der guten Bedingungen in dem tropischen Klima nicht wieder endlos dauerte, heuerten die Führer diesmal einen Bautrupp aus Samoa an. Für die Wochen der Arbeiten wurde es auf der Insel richtig voll. Neben den Herrschern und den vier Einwohnern der ersten Stunde, waren die vier später Zugezogenen, Kaitschek und der elfköpfige Bautrupp auf dem kleinen Eiland. Die Drei-Zentner-Polynesier kamen während dieser Zeit in Ivania unter. Dafür mussten die Arbeiter dort zeitweilig ein wenig mehr zusammenrücken als sonst. Das war jedoch kein großes Problem, da die Wohnverhältnisse in normalen Zeiten alles andere als beengt waren.
Bevor es allerdings an den Bau der Bank ging, errichteten die Arbeiter einen Rohbau für Kaitscheks neuen Laden. Die Regierung hatte den Asiaten davon überzeugt, diese einzigartige Gelegenheit wahrzunehmen und die Gastarbeiter bauen zu lassen. Weil der Bau so allerdings etwas teurer wurde, gewährte die Regierung ihm einen weiteren Kredit.
Der einfache Rohbau war schnell hochgezogen, sodass es bald an die Bank ging. Alles lief reibungslos ab, nur einmal musste die Baustelle wegen einer Bombendrohung der Anderen geräumt werden. Porter hatte den Eindruck, dass die Gegner jetzt den Finanzsektor im Visier hatten, der unaufhaltsam wuchs. Oberst Mark hatte ihm erklärt, wie dumm das von den Anderen war: Statt es weiter auf die Minen, die Melkkuh der Insel anzulegen, konzentrierten sie sich allem Anschein nach auf Dienstleistungsgebäude, wo sie jedoch noch keinen großen Schaden anrichten konnten. "Unsere Feinde sind zwar rücksichtslos und brutal, aber sie sind und bleiben ebenso dumm und unfähig", hatte Mark ihm gesagt.
Nachdem das Bankgebäude im nostalgisch kolonialen Baustil fertiggestellt war, kamen Birgas Pläne für das neue Finanzcenter wieder aus der Schublade hervor. Der Bau ähnelte dem ersten am Hafen, war jedoch ein wenig üppiger und lief nach oben hin spitz zu. Bei der Fassade setzte Birga wieder auf Glas und Beton.
Zwischenzeitlich war auch Kaitscheks Laden eröffnet worden, was den Inselbewohnern ganz neue Konsummöglichkeiten eröffnete. Die Minenarbeiter kauften sich dort gute Kleidung für die Freizeit, Bier oder was auch immer ihnen den Feierabend versüßte. Auch alle anderen Bewohner der Insel hatten nun endlich eine Möglichkeit, ihr bitter verdientes Geld auch mal spontan und aus einer Laune heraus auszugeben. (Fast) alle machten ausgiebig davon Gebrauch. Bisher war Konsum nur über seltene, teure und somit wohlüberlegte Bestellungen aus dem Ausland möglich. Jetzt wurde das Einkaufen impulsiver.
Kaitschek machte gute Geschäfte, musste jedoch sehr viel arbeiten, um seine Kredite abzustottern. Schließlich ging ein Teil seines Gewinns mit der Gewerbesteuer an den Staat.
Die neuen Möglichkeiten Geld auszugeben rüttelten auch De Geet wieder wach. Er hatte seit seiner Ankunft auf der Insel nur gearbeitet und sich so gut wie nichts gekauft. Dabei bekam er auf seinem Posten mehr Geld als die normalen Arbeiter – mit Ausnahme Porters, der als Amtsleiter auf seiner Gehaltsebene stand. Bevor De Geet ausgewandert war, hatte er Autos geliebt. Er hatte sich damals alle zwei, drei Jahre ein neues gekauft und sich somit beinahe finanziell überhoben. Jetzt fehlte ihm diese alte Leidenschaft irgendwie wieder. Zudem gab es auch einen praktischen Nutzen, sagte er sich. Bei seinem Arbeitspensum hatte er keine Zeit zu verlieren. Und das, wo er doch so viel zwischen Ivania und Settlers Port pendeln musste.
Der Entschluss fiel schließlich mitten bei der Arbeit. "Man gönnt sich ja sonst nichts", murmelte er auf einmal. Es war ein Samstag und er war gerade dabei, die vorläufige Kalkulation der Minenarbeit in der vergangenen Woche zu erledigen. Noch am selben Tag stellte er erste Nachforschungen im Internet an und vernachlässigte damit ausnahmsweise mal ein bisschen seinen Job. In der Woche darauf bestellte er in Taiwan einen neuen Luxgen7 MPV, einen Van mit einem 175 PS starken 2,2-Liter-Benziner unter der Haube. Trotz seines fast schon asketischen Lebenswandels musste er dafür jedoch einen Kredit aufnehmen. Das war bei der neuen Bankangestellten Tanja relativ schnell erledigt. Es könnte jedoch noch schneller gehen, stellte De Geet fest, wenn die Frau sich mal ordentlich ausschlafen würde. Die Kreditvergabe wurde, nachdem sie von der Kamikowo-Halbinsel aus überprüft worden war, drei Tage später bestätigt. Jetzt musste De Geet nur noch auf seinen Wagen warten.
Überraschend für alle kam eine Regierungsbekanntgabe, dass in vier Monaten Parlamentswahlen stattfinden würden. Zeitgleich mit dieser Bekanntmachung wurde eine weitere Neuerung proklamiert: Eine Gefahrenskala für die nationale Sicherheit. Sie reichte von blau wie "alles in Ordnung" über gelb wie "angespannte Lage" bis rot. Letzteres bedeutete so viel wie Krieg. Und es hieß, dass Angriffe auf die Insel oder ihre Bevölkerung jederzeit möglich waren.
Zurzeit stand die Skala bei orange, es ging also weiterhin massive Gefahr vonseiten der Anderen aus.