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Оглавлениеzwei Stunden später
Warum geht ein Mann mit einem Hund spazieren, der nicht sein Hund ist? Zum Beispiel, weil der Mann zum Joggen gerade zu faul ist, trotzdem aber ein bisschen raus an die Luft und in die Sonne möchte. Nur geht kein Mann – wenigstens keiner, den ich kenne, oder wenigstens keiner, den ich auch als solchen bezeichnen würde – einfach nur ein bisschen raus an die Luft und in die Sonne.
„Was hast du denn gestern am Sonntag gemacht?“
„Ach, ich war ein bisschen draußen, bin spazieren gegangen.“
„Wie jetzt – allein?“
Eben. So was macht man mit seiner Mutter oder Tante, oder mit seiner Freundin. Oder seinem Freund, da sind wir restlos tolerant. Aber allein?
Es gibt eben Dinge, für die man einen Anlass braucht. Und eine Begleitung ist ein Anlass. Natürlich gibt es auch Dinge, für die man keinen Anlass braucht: Bier zum Beispiel kann man gänzlich unanlässlich, also auch allein, trinken. Das ist völlig unverfänglich!
„Was hast du denn gestern am Sonntag gemacht?“
„Hab ein paar Bier getrunken.“
„Ah ja, klar.“
Spazieren gehen aber geht gar nicht allein, das wirkt sonst nämlich höchst verdächtig und wirft gewisse Fragen auf:
„Jetzt echt ganz allein? Hey, du weißt: Wenn du Probleme hast, komm einfach vorbei, dann gehen wir in die Kneipe und reden drüber. Dafür sind Kumpels doch da. Musst nicht alles in dich reinfressen!“
Daher habe man besser einen Hund dabei, wenn man mal spazieren gehen will.
Es gibt aber auch noch einen weiteren Grund, der einem Herrchen ohne Herrchenschaft gern unterstellt wird: Nämlich den, dass man mit dem Hund nur auf Frauenfang gehen wolle. Hunde (außer, es handelt sich um muskelüberquollene Kampfmaschinen mit Null-Mimik, Kieferverbreiterung und Kruppstahlgebiss) haben schließlich häufig einen „Ach ist der süüüß!“-Effekt.
So wie Rufus. Mit dem marschiere ich gerade um die Wildparkseen (spitzenmäßig erreichbar für mich: Heslacher Tunnel durch, B14 hoch, am Schattenring auf die Magstadter Straße – schon da!). Komplett verzottelt, wie Rufus ist, scheint er ein wandelnder Flokati zu sein, dessen einzige Aufgabe darin liegt, umgehend gekuschelt zu werden.
„Ach ist der süüüß! Wie heißt er denn?“
„Rufus.“
„Das ist aber lustig!“
„Ja? Wieso denn?“
„Na, weil er doch gar nicht rothaarig ist!“
Zum Glück begegnen einem aber nicht ausschließlich Oberstudienrätinnen Mitte 60 mit dem Hobby Namenskunde, sondern auch halb so alte und Gott sei Dank nur halb so studierte Mädels mit den Hobbys Spaß, Kurzweil und Offline-Chatten (auf Deutsch: Echtwelt-Schnattern).
„Ach ist der süüüß! Wie heißt er denn?“
„Rufus.“
„Das ist aber lustig! Wollen wir uns mal auf einen Cocktail treffen?“
Na gut, das war jetzt etwas übertrieben. Mir jedenfalls ist solch ein Glücksfall noch nicht vorgekommen. Grundsätzlich aber gilt tatsächlich, dass die Chancen auf einen netten Kontakt steigen, wenn man sechsbeinig unterwegs ist.
Weswegen ich Frau Supp auch rechtschaffen dankbar bin, dass sie mir diese Flokati-Berberteppich-Wischmopp-Mischung ab und zu ausleiht. Frau Supp übrigens ist eines undefinierbaren, ganz sicher aber älteren Datums und sichtbar esoterisch – folglich ist sie wirklich nur eine Nachbarin.
Übrigens eine wahrhaft gute Nachbarin: Ihre Unterschrift sah ich noch nie auf den notorischen „Sehr geehrter Herr Späth“-Tesa-Zetteln! Weswegen es mich auch nicht stört, dass sie hin und wieder erbauliche Druck-Erzeugnisse vor meine Tür legt, die mutmaßlich meine spirituelle Reife befördern sollen. Manche von denen schaue ich mir sogar an – und denke mir jedes Mal, dass das doch sicher alles ironisch gemeint ist.
Frau Supp ist jedoch nicht nur esoterisch und nachbarschaftlichfreundlich gesinnt, nein, garantiert ist sie auch zutiefst antiautoritär. Oder aber Rufus ist eigensinnig bis zur Sinnlosigkeit. Denn sollte er eine Erziehung genossen haben, so war diese frei von Vorschriften oder ging spurlos an ihm vorüber. Daher kann es für ihn, unabhängig von irgendwelchen Regelungen für Wolfsabkömmlinge in Stuttgarts Wäldern, auch niemals „Leinen los!“ heißen.
Zumal heute, wie schon erwähnt, ein schön bewetterter Sonntag ist, und die Wege deshalb aus allen Nähten platzen. Da könnte, bei all den freilaufenden Klein- und Kleinstkindern, ein freilaufender Rufus durchaus für gewisse Irritationen sorgen. Pech für ihn, dass einige wenige seiner Artgenossen Kinder tatsächlich zum Fressen gern haben und er nun in Sippenhaft genommen wird.
Übrigens interessiert sich Rufus für seine Artgenossen nur bezüglich deren Hinterlassenschaften. Ein schnelles Vorankommen ist somit zwar nicht möglich, ein schnelles Vorankommen ist aber auch nicht die Zielvorgabe unseres Parkseenaufenthalts, der vielmehr unter dem Diktat zerstreuend-entspannenden Schlenderns steht.
Dass Rufus es indessen auch an der Leine schafft, Konfusion zu stiften, beweist er mir nach der nächsten Biegung. Gemütlich wandern wir über Weg und Wurzel, und ich diskutiere gerade mit mir selber die Frage, ob es Fakten gibt, die die erwünschte Coolheit meines oberlässigen Stuttgartführers beeinträchtigen könnten. Eine Erwähnung der am Pfaffensee zu findenden Adlereiche? Cool, würde ich sagen. Adlereiche, das klingt super.
Aber was ist mit: Pfaffensee, 1566 von Herzog Christoph für die Mühlenbetreiberfritzen durch Aufstauen der Glems angelegt? Bärensee, 1618 durch Aufstauen des Bernhardsbaches angelegt? Neuer See, ein Nachzügler, aufgestaut zwischen den beiden Altvorderen im Jahre 1826? Und dass das ganze Ensemble bis 1998 der Wasserversorgung Stuttgarts diente und seitdem nur noch der Notwasserversorgung? Wären diese Fakten etwa cool? Kein Stück wären sie das. Vollkommen uncool sind die. Die lass ich weg.
Mit solch gravierenden Fragen bin ich also beschäftigt, da überholt uns am Ende des Neuen Sees eine Joggerin. Beziehungsweise: will uns überholen.
Denn als sie sich noch einen knappen Meter hinter uns befindet, beschließt Rufus, einer olfaktorischen Besonderheit nachzugehen, die etwa zwei Meter zurück am linken Wegesrand im Grase lungert.
Nun ist Rufus nicht nur wuschelig, sondern unter seinem Gewuschel auch recht kräftig. Wenn er also urplötzlich und ohne Vorwarnung, dafür aber mit Bestimmtheit nach hinten links zieht, dann strafft sich die Leine, die straffe Leine streckt des Michas Arm, und der Arm rupft am ganzen Micha, woraufhin dieser ein Tanzbärtaumeln in die Mitte des an dieser Stelle schmalen Weges nicht mehr vermeiden kann.
Dort aber naht genau in diesem Moment flinken Fußes die Joggerin! Mit dem Erfolg, dass sie frontal und mit Effet auf meinen Rücken aufläuft – und sich dabei schmerzhaft ihr schwitzig-putziges Näschen anstößt! Mir stößt außer ihr und einem kleinen Schreck nichts Weiteres zu.
Ein bisschen stolpere ich nach vorn, da ich jedoch als stabilisierendes Gegengewicht immer noch den Wuschelklops Rufus an der Leine habe, kann ich mich auch gleich wieder fangen.
Zurück in der Senkrechten, drehe ich mich sogleich um – und denke mir, was ich für ein Glück habe, dass dieser Auflaufunfall nicht mit einem 100-Kilo-Anabolikaprotz stattgefunden hat. Denn dann hätte es wirklich schmerzhaft werden können. Auch bei der Diskussion der Schuldfrage.
So aber steht sie vor mir: entzückend wie Cameron Diaz, schlank wie Keira Knightley, sportlich wie Lara Croft, blond wie Reese Witherspoon, hübsch wie Mena Suvari. Mir scheint, ich träume. Mitte 30 dürfte sie sein, das würde also auch passen … Sie trägt eine schwarze Läuferhose und ein rosa Tanktop (beides sehr eng anliegend!) und hält sich das Näschen. Immerhin sind ihre Fingernägel zum Top passend rosa lackiert.
Schuld an allem ist natürlich Rufus. Der jedoch schnüffelt gänzlich ungerührt im Gras herum, will das Herumgerupfe an seinem Halsband gar nicht bemerkt haben und gibt ganz allgemein den unbeteiligten Dritten.
Wenn die mit ihrer Nase und vor allem mit ihrem Mund hinter ihren Händen vorkommt, werde ich bestimmt was zu hören kriegen, denke ich mir. Ob ich auf meinen Hund nicht aufpassen könne; ob ich glaube, dass ich allein im Wald wäre; dass sie, da sie ja Model sei, ihr Näschen schließlich unversehrt brauche – irgendwas in der Art. Was weiß ich.
Dann aber kommt alles anders.
„Entschuldigen Sie bitte, das tut mir leid!“, nuschelt sie durch die Finger, mit denen sie ihre Nase betastet.
Entschuldigen Sie bitte, das tut mir leid!?
Ich starre sie an und versuche krampfhaft, beim Vergleich des Ablaufs unseres kleinen Unfalls mit ihrer Äußerung zu einem kongruenten Ergebnis zu kommen. Wieso entschuldigt die sich bei mir? Ich müsste mich bei ihr entschuldigen! Oder noch besser Rufus! Aber sie? Verstehe ich nicht.
Um diese meine momentane Verunsicherung zu kaschieren, erkundige ich mich nach ihrer Nase:
„Haben Sie sich sehr wehgetan? Hoffentlich nicht? Ihre Nase ist doch nicht etwa gebrochen?“
„Nein, glaube ich nicht, die tut nur ziemlich weh. Geht schon vorbei, keine Sorge.“
Das geht ja grad so weiter. Sie beruhigt mich? Ich soll mir keine Sorgen machen?
Eins ist klar: Ein Model ist sie nicht, selbst wenn sie ganz danach aussieht. Aber Models sind – nicht, dass ich eins kennen würde, doch man darf wahrscheinlich davon ausgehen, dass die auch in echt so sind wie im Fernsehen – Models sind ultrazickig. Kann ich gar nicht brauchen. Aber dieses Mädel? Meine Verwirrung nimmt zu. Zumal ich jetzt sehe, dass ihr ein bisschen Blut aus der Nase tropft!
„Sie haben da – Sie haben Nasenbluten! Sollte man das nicht nachschauen lassen? Soll ich Sie ins Marienhospital fahren?“
„Nasenbluten?“
Sie nimmt ihre Hände von der Nase, betrachtet sie, und in der Tat ist die Anwesenheit einer roten, zähen Flüssigkeit, die wohl Blut sein dürfte, nicht zu bestreiten.
„Oh!“, sagt sie, schaut mich mit tiefbraunen Mandelaugen ganz groß an, und aus ihrem wirklich sehr putzigen Stupsnäschen tropft es weiterhin ein bisschen rötlich.
Hilfe! Heulende Frauen mag ich sowieso nicht, mit nasenblutenden Frauen kann ich aber auch nicht umgehen. Hübsch ist sie trotzdem.
„Warten Sie, ich habe ein Tempo. Ist Ihre Nase wirklich nicht gebrochen? Sie hatten ganz schön Schwung drauf!“
Ich reiche ihr ein Taschentuch, sie betupft damit ihre Nase und versucht, sich das langsam antrocknende Blut von den Händen zu wischen. Und sieht dabei total süß aus. Habe ich eigentlich einen Dachschaden? Ich kann doch keine Frau süß finden, deren Nase gerade Opfer eines dusseligen Hundes und meines breiten Kreuzes wurde. Oder doch?
Und dann kommt wieder eine seltsame Aussage von ihr:
„Nein, nein, wenn sie gebrochen wäre, müsste sie jetzt schon dick angeschwollen sein. Ich kenne das, ich bin Kinderkrankenschwester.
Und es tut mir wirklich leid, dass ich auf Sie draufgerannt bin. Ist denn bei Ihnen alles okay?“
Bitte? Ob bei mir alles okay ist? Liegt das an diesem Krankenschwesterding? Sind die alle so um das Wohl der anderen besorgt? Und sind die alle so niedlich?
„Bei – bei mir?“, stammle ich, weil ich nach wie vor nicht weiß, wie ich mit der Königin der Selbstlosigkeit umgehen soll, „bei mir ist alles super, danke der Nachfrage.“
„Und Ihrem Hund ist zum Glück auch nichts passiert, oder? Darf ich ihn denn streicheln?“
13 schlägt’s ja hin und wieder, die hier aber schlägt dem Fass den Boden ins Gesicht. Die übliche unberechenbare Frau wäre ob alledem in Heulanfällen zerflossen, hätte mich mit Vorwürfen überhäuft, hätte gekeift, getobt, gezickt und herumgestresst, bis die Tiere des Waldes Reißaus genommen hätten. Sie dagegen? Ich glaube, ich habe mich gerade verliebt!
„Na klar, den dürfen Sie streicheln. Rufus heißt er. Ach, und ich bin der Micha“, sage ich und strecke ihr meine Hand hin.
„Melli. Melanie. Freut mich, euch kennenzulernen. Na ja, gewissermaßen“, sagt sie, schüttelt meine Hand und lächelt dabei etwas verlegen. Die Umstände, schon klar.
Darum lässt sie meine Hand auch ganz schnell wieder los, kniet sich hin und beginnt, Rufus zu wuscheln. Und tatsächlich scheint dieser Trampel von Hund zu ahnen, dass er was gutzumachen hat. Kaum beginnt sie, ihn zu wuscheln, legt er sich hin, rollt sich auf die Seite, streckt die Pfoten von sich und ist ganz Genuss.
Rufus, du bist mein Kumpel – gut gemacht! Denn nach einer kleinen Weile konstanten Gewuschels schaut sie über die Schulter zu mir hoch, lächelt fröhlich (was bei mir zu einem Herzhüpfer führt, als ob ich ein 12-Jähriger vom Lande beim ersten Kuss hinter der Scheune wäre. Ich bin so peinlich!) und sagt:
„Ach ist der süüüß! Lauft ihr denn öfter um die Seen? Ich hab euch noch nie gesehen bisher.“
Keine Ahnung, was mich reitet, doch darauf antworte ich ihr mit einer kleinen Frotzelei. Mal schauen, was passiert:
„Na, so schnell, wie du rennst, ist das auch kein Wunder. Da saust die Landschaft einfach nur vorbei an dir, oder?“
Und daraufhin sie? Retourniert mit:
„Ach, dann habt ihr euch mit Absicht als Straßensperre betätigt, damit ich euch bemerke? Das habt ihr wirklich sehr gut hingekriegt!“
Und dann grinst sie. Und zwar grinst sie frech! Das ist, man erinnere sich, die dritte Variante! Was ist das für eine Frau? Wer hat die entworfen? Eine wie sie kann es nicht in natura geben, oder?
Man stelle sich das Ganze mal als Filmszene vor. Da kniet eine total hübsche Frau mit erstklassiger Figur, rosa Fingernägeln, durchgeschwitztem Joggingdress und angedatschter Nase auf dem Boden, streichelt einen höchst entspannten Bettvorleger und scherzt mit dem Typen herum, der an der Unterbrechung ihres Sportprogramms sowie an ihrem nasalen Malheur schuld ist, während, wie mir übrigens erst jetzt bewusst wird, sich immer mehr Menschen um diese romantische Dreiergruppe herumdrängen, denn der Weg ist ja inzwischen nicht breiter geworden.
Sind die schon die ganze Zeit dagewesen, diese vielen Leute? Und die Schmetterlinge in meinem Bauch, waren die auch schon vorher da? Und wieso höre ich mich gerade an wie so ein Song von dieser Band für kleine und große Mädchen? Wie ein Song von Pur?