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Оглавлениеkurz darauf, immer noch am selben Tag
Meine Schwester Lilo hat eine ziemlich zähe Scheidung hinter sich, und um davon Abstand zu gewinnen, macht sie einen auf Entwicklungshilfe in Afrika. Für drei Jahre, glaube ich. Daran begeistert mich vor allem der Umstand, dass ich in dieser Zeit über ihr Auto verfügen darf.
Selber besitze ich eine Monatskarte, eine weiße Vespa und die Erinnerung an meinen geliebten, bordeauxroten Baby-Benz, den mein Vater, seines Zeichens Angestellter bei Daimler und damit notorischer Jahreswagenfahrer, mir dereinst, nachdem er ihn eine Weile in der Garage reifen ließ, zum Studienabschluss vermachte.
Mein Vater fährt seine Jahreswagen mittlerweile eine Etage höher, im Himmel also, und wer weiß, vielleicht fährt er dort auch meinen Baby-Benz, denn an einem entsetzlichen, glatteisigen Januarmorgen vor zwei Jahren rutschte mir die Abfallwirtschaft Stuttgart in Form eines fetten Müll-Lkws breitseits in meinen armen, geparkten, wehrlosen 190 D.
Schrott war er schon davor, danach war er es auch offiziell. Von der Versicherung bekam ich eine glatte Frechheit als Entschädigung, weil diese Aktenköpfe nur in Sach-, nicht aber in ideellen Werten denken können. Zum Kauf eines Nachfolgers konnte ich mich nie überwinden, teils, weil ich mir dann treulos vorgekommen wäre, teils, weil ich schon irgendwie auf den Mustang sparen wollte. Der über die Jahre allerdings eher zum Dinkelacker-Brauereirössle wurde.
Somit freute mich Lilos Angebot, in ihrer Abwesenheit ihr Auto zu übernehmen, doch sehr. Oder fast sehr. Denn eine petrolfarbene A-Klasse der ersten Generation mit Frauenpoweraufkleber – der nicht entfernt werden darf! – und Basisbenziner ist nicht unbedingt das heißeste Geschoss auf Württembergs Highways.
Ein Auto aber ist sie, und gut genug, um mich und Rufus von den Wildparkseen in die Stadt zu karren, ist sie allemal. Wir parken hinter der Liederhalle in der Rosenbergstraße beim Hoppenlaufriedhof, über den wir aber nicht gehen, um zur Königstraße zu gelangen. Denn einer von uns ist ein Hund, und Hunde sind oft klein- oder sogar groß-geschäftlich unterwegs. Was mir dann doch etwas pietätlos erschiene, selbst wenn der Hoppenlaufriedhof seinen letzten Erdbewohnerzuzug 1880 hatte.
Apropos Bewohner: Besitzer oder auch Beleger eines Stückchen Lands dortselbst sind neben anderen die Herren Wilhelm Hauff (der mit Der kleine Muck und Das Wirtshaus im Spessart), Gustav Schwab (der mit den Schönsten Sagen des klassischen Altertums) und Johann Friedrich Cotta (der, dessen Name 50 Prozent von Klett-Cotta ausmacht) – Buchstabenniederbringer und Buchstabenherausbringer also, die mit Sicherheit stolz auf mich und meinen tollen Stuttgartführer wären.
Weswegen der Hoppenlaufriedhof auch reinkommt, ganz klar. Ein paar Sachen bleiben draußen (eigentlich all das, womit er anlässlich der Bundesgartenschau 1961 verschandelt wurde), aber die niedlichen Eichhörnchen und die malerisch-verwitterten Grabsteine und die oasenhafte Ruhe inmitten meines geliebten Großstädtles, die werden aufgenommen. Ich kann nämlich auch stilvoll und besinnlich, jawohl!
Diesmal aber lasse ich den Hoppenlaufriedhof, wegen Rufus eben, rechts liegen. Am Lindenmuseum und an der Unibibliothek vorbei marschieren wir via Stadtgarten und Friedrichsbau über den Kleinen Schlossplatz zur Königstraße.
Macht diese Route jedoch irgendeinen Eindruck auf mich? Oder hätte es die andere gemacht? Nein. Diesmal: nein. Selbst Rufus scheint leicht entrückt. Er schnüffelt gar nicht permanent am Boden rum, sondern trottet friedlich neben mir her.
Hierzu nun ein kleiner erläuternder Querverweis für die Asterix-Freunde unter uns: Im Band Nummer X, Asterix als Legionär, kriegt Idefix zum Schluss von Falbala ein Küsschen aufs Haupt. Und damit ist’s ebenso um ihn geschehen wie um alle anderen, denen die Gnade eines Kusses der holden Falbala gewährt wurde. Wer wäre da nicht gerne Tragicomix, ihr Verlobter. Idefix wäre es sicher sehr gerne, und wie ihm geht es jetzt eben auch Rufus, nachdem er von Mellis Händen aufs Liebevollste durchgewuschelt wurde.
Und auch mir geht es so. Obwohl ich noch nicht durchgewuschelt wurde. An nichts anderes aber mehr denken kann als daran, auch in diesen Genuss zu kommen, und zwar möglichst bald!
Um uns wieder ein bisschen zu erden, streben wir also gen Königstraße. Heiß glüht währenddessen das Handy in meiner Hosentasche, verwahrt es doch seit Neuestem Mellis Nummer in seiner digitalen Schatzkammer. Ich darf gar nicht daran denken, will ich nicht als dummer August gegen Laternenmasten torkeln vor lauter Gleichlaufstörungen in meinen Gehirnwindungen.
Passend dazu kann ich, da ich gerade über den kleinen Schlossplatz laufe, ein paar urbane Athleten – fachmännisch Traceure genannt (was ich alles weiß!) – beim Parkourtraining bewundern. Wie die über Mauern und Barrieren hupfen, ist sensationell. Für mich wäre das heute auf gar keinen Fall drin. Viel zu viel Konzentration und Koordination. Keine Chance. Gut, ich gebe zu: Unabhängig von meiner aktuellen Tagesform könnte ich mit 40 ohnehin ein oder zwei Jährchen zu alt dafür sein.
Was aber scheren mich mein Alter und jugendliche Hupfdohlen? Melli schert mich. Darum jetzt erst mal ein Bier! Am besten direkt am Schlossplatz mit Blick aufs Volk, das dürfte uns ein wenig ablenken. Und Wunder gibt es immer wieder – beim Kunstmuseum wird ein Tisch in der vordersten Reihe frei! Zwar versucht ein blasiertes Kunstpopelpärchen Ende 50 noch, uns den Platz vor der Nase beziehungsweise vor der Schnauze wegzuschnappen, aber nix gibt’s!
Ich schmeiße mich einfach direkt ins Gestühl, und Rufus plumpst genau daneben auf den Boden, mit seinem Fell der Dame Stöckelschuh bedeckend! Was diese überhaupt nicht freut und zu irgendeinem saublöden Kommentar über Hund und Herrchen und deren angebliche Asseligkeit veranlasst. Dem fügt ihr „Ich bin Galeriebesitzer und fahre Saab in der vierten Generation“-Schnösel noch pseudoelitäres Geschwafel hinzu, dann ziehen beide murrend ab. Kommentar und Geschwafel stoßen bei uns natürlich auf gänzlich taube Ohren. Wir haben wirklich andere Sorgen. Oder besser: Freuden!
Und die Wunder gehen weiter! Kaum sind die Kunstfuzzis fort, taucht auch schon, trotz voller Besetzung aller Tische, ein Ober auf: gebräunt, gestählt, gegelt, gesichtsmanikürt und mit Wassernapf in der Hand!
„So, du Hübscher, das ist schon mal für dich“, spricht er gen Rufus, kredenzt ihm das Wasser und wendet sich dann lieblich lächelnd mir zu:
„Und wonach steht dem anderen Hübschen der Sinn?“
Die mir gereichte Karte brauche ich nicht, ich weiß bereits, was ich will. Daran kann auch seine geschraubte Ausdrucksweise nichts ändern:
„Nach Bier steht ihm der Sinn. Wäre das wohl drin?“
Ich werd verrückt – es ist ein Reim entsprungen! Ich muss aufpassen, dass mich diese Melli nicht zum Poeten macht. Nie im Leben käme das bei den Kumpels gut an. Bei meinem Ober aber schon:
„Hach, ein Dichter! Ich enteile und bin gleich wieder da!“
Seltsamer Kerl. Ob der es mehr mit Jungs als mit Mädels hat? Na, mir egal. Ich habe es auf jeden Fall mit Mädels, und momentan ganz besonders mit einer! Da könnte man ja richtig monogam werden, wenigstens in Gedanken.
Rufus erfreut sich derweil seines Wassers, welches er im Liegen schlabbert, und auch ich freue mich, denn schon kommt der schnelle Mensch zurück, mit meinem Bier auf dem Tablett.
„Sodele, zum Wohle!“
Nein, doch nicht schwul. Wenigstens kann ich mir einfach nicht vorstellen, dass Schwule schwäbeln. Übrigens: Nur 14,9 Prozent der Deutschen finden den schwäbischen Dialekt sexy! Tja. Armes Deutschland.
Die nächsten fünf Minuten vergehen wie im Traum. Sonniger Sonntag, kühles Bier, Rufus schläft den Schlaf des gerechten Kupplers, und obendrein sorgt die angenehme Wärme des Tages für luftig-leichte Hüllen bei den über den Schlossplatz flanierenden Grazien …
Na ja, nur weil es jetzt eine Melanie gibt, muss ich nicht gleich auf „Selektives Sehen“-Modus umschalten.
Und dann entdecke ich etwas, das mir ein Grinsen ins Gesicht treibt, wie es der Joker nicht besser hinbekäme. Denn direkt vor meiner Nase gehen vorüber: Katrin, und zwar meine Katrin, oder besser ex-meine Katrin – und ein Typ mit wallenden Rockerlocken sowie Bierbauchansatz unterm Motörhead-T-Shirt. Und sie gehen Hand in Hand! Die sind ein Paar! Die mit so einem! Ich lach mir einen Ast! Bei mir haut sie ab, weil irgendwas mit Zuverlässigkeit, und nun hat sie den Stuttgarter Oberhöllenengel an der Backe? Na, da gratuliere ich doch ganz herzlich: Jetzt steht dem Reihenendhaus inklusive Kinderschar nichts mehr im Wege!
Und in dem Moment, als mein Grinsen derart breit geworden ist, dass es sich hinter meinen Ohren schon wieder berührt, schaut sie her zu mir. Wie es der liebe Gott will, habe ich gerade mein Bier in der Hand, und weil ich wohlerzogen bin, proste ich ihr freundlichst zu. Die soll unbedingt mitkriegen, dass mir ihr tiefer Fall nicht entgangen ist!
Aber Buuuh – schlechte Verliererin! Eine genervte Grimasse ist es ihr wert, mich nach all den Wochen wiederzusehen, mehr nicht! Ihr Typ kriegt gar nichts mit, und schon sind sie weitergewandert. Ich sehe ihnen hinterher, Katrin jedoch dreht sich tatsächlich nicht mehr um. Also echt, was für eine schlechte Verliererin!
Klar ist, dass ich daraufhin noch ein Bier ordern muss. Und dieser Ober, der soll mögen, wen und was er will. Solang er derart blitzschnell ist, darf er meinetwegen auch auf Germanisten stehen. Denn ein kleines Verrenken meines Halses und ein kurzer Blickkontakt mit ihm genügen, und kaum ein Zwinkern später steht es schon wieder goldgelb, gut gefüllt und schäumend vor mir auf dem Tisch. Oh, wie das schmeckt! Und mit jedem Schluck werden die Mädels auf dem Asphalt wohlgeformter.
Und laufen für einen Moment keine vorbei, schweift der Blick über dieses ganze Schlossplatzpanorama – ich sage nur: Stuttgartführer. Muss rein!
Tatsächlich habe ich mir mal überlegt, eine 360°-Aufnahme vom Schlossplatz in meine Wohnung zu hängen. Am besten auch noch eine aus der Vogelperspektive, wie sie Lady Concordia in ihren luftigen 30 Metern Höhe auf der zentral platzierten Jubiläumssäule hat. Eigentlich müsste man die Dame ja in Discordia umtaufen. Würde besser zur Landeshauptstadt passen.
Wenn die Cordi jetzt eine Ballerina wäre und da oben diese ulkige Charlie-Chaplin-Kniebeuge und dann eine Drehung machen würde – und zwar die, bei der die immer so drollig das Beinchen anwinkeln –, was sie dann für eine Riesenmenge superschöner Architektur vor die Linse bekäme!
Nämlich (und das muss man sich wirklich mal reinziehen!) im Uhrzeigersinn, von zwölf bis mittags: das Neue Schloss, das Alte Schloss, die Alte Kanzlei samt Prinzenbau, das Kunstmuseum, den Königsbau, den Marquardtbau, den Königin-Olga-Bau und das Kunstgebäude. Und dann wäre ihr schwindlig. Bloß nicht runterfallen, Mädle! Oder wenn, dann in eine Kastanienkrone oder in einen Brunnen. Auswahl ist vorhanden.
Aber im Ernst: Der Schlossplatz ist schlichtweg traumhaft.
So wie dieser ganze Tag. Trotzdem er so fad begann. Doch alles Fade ist vergessen, jetzt habe ich eine viel schönere Aufgabe: Melli! Und darauf noch ein Bier!
Der Montagmorgen aber hängt schon vor und über mir wie dieses eine Schwert. Das von diesem Griechen. Bestimmt ein Philosoph gewesen. Obwohl, mit Schwert? Dann wird er ein Mann des Krieges gewesen sein, genau. Aber egal.
Schweren Herzens muss ich zahlen. Schweren Herzens nicht, weil es recht teuer wäre, das zwar auch, aber viel schwerer fällt es mir, mich von meinem Abhängenachmittag zu trennen als von meinen Euros. Und ich habe den Eindruck, auch der Ober lässt mich nur ungern ziehen.
„Wirklich nicht noch eins?“, fragt er, doch für heute muss geschieden sein. Rufus erhebt sich schwankend, und bereits auf den ersten Metern stelle ich fest, dass ich es ihm gleichtue: Ich schwanke und wanke! Ich! Von drei Bieren! Wo gibt es denn so was? Herrje, das Mädel macht mich völlig fertig. Da kenne ich sie gerade ein paar Stunden, und schon vertrage ich nichts mehr …
Das macht aber rein gar nichts, denn Lilos A-Klasse steht regelkonform und gebührenfrei am Straßenrand, da kann sie ruhig noch eine Weile stehen bleiben, stört niemanden. Laufe ich eben heim, immer Richtung Süden. Wie ein einsamer Cowboy auf seinem Pferd – oder mit seinem Hund – auf dem Weg in die Ferne. Ferne Heimat Böblinger Straße. Himmel, ich habe echt einen sitzen!
Und dann, nur wenige Minuten später, passiert es.
Am oberen Ende der Königstraße imprägniert Rufus gerade die Ecke des Hauses mit der Nummer 43b, und ich frage mich, wie viele Leute wohl noch wissen, dass diese traurige Bude früher die Große Lerche war, Stuttgarts Riesenplattenladen. Was habe ich da mit meinen Deutschmark die Wirtschaft angekurbelt.
In diesem Moment werde ich angesprochen:
„Mensch, Micha, ist das der Hund von Frau Supp? Den habe ich ja ewig nicht mehr gesehen. Und dich auch nicht! Wie geht’s dir denn?“
Vanessa? Tatsächlich, Vanessa. Immerhin ist mir ihr Name sofort eingefallen. Und der da unten ist wer?
„Hey, Vanessa, das ist aber mal nett. Mir geht’s supper – quatsch: super, danke! Und wie geht’s dir? Ist das dein … äh, Kind?“
„Nee, den hab ich vorhin geklaut, der war so niedlich … Na klar, du Blödel, das ist mein Marius.“
„Marius? Wie der Pfefferminzprinz?“
„Genau. Oder wie Maria, bloß als Mann. Marius, sag mal Hallo zum Micha. Weißt du, der Micha ist ein ganz besonders lieber Freund von früher!“
Vanessa lächelt mich auf eine Art an, als ob sie bei meiner LOKALisierbarkellnerin in die Lehre gegangen wäre, und Marius schaut mit großen Augen zu mir hoch.
Ich gehe in die Hocke und reiche ihm die Hand.
„Grüß dich, Marius. Ich bin hocherfreut, dich kennenzulernen!“
Den Kleinen mag ich, der ist cool! Denn statt sich jetzt hinter seiner Mama zu verstecken oder einfach loszuheulen, grinst er mich an, gibt mir seine Zwergenhand und kräht ein fröhliches
„Hallo!“
hervor. Das weckt auch das Interesse von Rufus, der sich gründlich an der Ecke verewigt hat und nun diesen Marius beschnuppert. Anscheinend gefällt ihm, was er riecht, denn zum Abschluss seiner Untersuchung leckt er Marius einmal breit über die Backe. Marius kichert und revanchiert sich mit ausgiebigem Kraulen und Ohrenziehen. Scheint nicht besonders ängstlich zu sein, der Zwerg.
Von außen betrachtet, dürften wir wie eine Modellfamilie aussehen.
Für Hund und Kind bin ich nicht mehr interessant, also richte ich mich wieder auf und betrachte Vanessa. Gut sieht sie aus! Nicht mehr so schlank wie früher, eigentlich sogar ziemlich rundlich. Steht ihr aber. Beeindruckende Oberweite! Da gibt es doch diesen Film Echte Frauen haben Kurven. Demnach wäre die Frau hier oberecht!
Und ich habe den Eindruck, dass sie ihre Kurven mit ziemlichem Selbstbewusstsein trägt. Ihr Kleid jedenfalls kaschiert nichts, ganz im Gegenteil! Da kann man es wieder sehen: Selbstbewusstsein ist sexy. Na, zum Glück schwirrt mir derzeit Melli durch den Kopf. Mit einer Ex was anzufangen, die mittlerweile ein Kind hat, das wäre irgendwie nicht richtig, denke ich.
„Wie lang ist das jetzt her?“, frage ich ohne besonderen Anlass.
„Meinst du unser letztes Mal?“, fragt sie zurück und zwinkert mich an.
„Äh, na, als wir uns eben zum letzten Mal gesehen haben, meine ich.“
Lief da was beim letzten Treffen? Kann ich mich gar nicht richtig dran erinnern. Waren wahrscheinlich ein paar Bier mit im Spiel gewesen.
„Dreieinhalb Jahre ist das her“, antwortet sie und schaut mich mit schräg gelegtem Kopf an. Das hat sie früher schon gemacht, ich erinnere mich. War meistens ein Zeichen dafür, dass sie der Ansicht war, irgendwer stünde ein bisschen auf der Leitung.
„So, so“, sage ich. „Dreieinhalb Jahre. Lange Zeit. Und jetzt machst du richtig einen auf Familie?“
„Auf Patchworkfamilie“, antwortet sie und legt ihren Kopf noch ein bisschen schräger. Meint die mich?
„Aha, Patchwork. Und wie alt ist der kleine Scheißer hier?“, frage ich, weil ich davon ausgehe, dass Mütter so etwas gerne gefragt werden wollen.
„Marius, sagst du dem Micha mal, wie alt du bist?“
„Ich bin schon fast bald drei!“, quakt Marius von unten, während er weiterkrault und Ohren zieht. Ein Herz und eine Seele, oder auch ein Fell und zwei Händchen, die beiden. Echt putzig. Kann man gar nicht anders sehen.
„In drei Monaten hat er Geburtstag“, präzisiert Vanessa ihres Sohnes stolze Verkündung, während sie mit ihrem Handy ein Foto von den beiden schießt. Marius grinst ins Objektiv und dann in meine Richtung.
„Hey, toll, da bist du ja fast schon ein richtig großer Junge! Dann darfst du bestimmt auch bald dein erstes Bier trinken“, mache ich dem Kurzen Mut.
Was Vanessa sehr erheitert und zu einer rätselhaften Äußerung veranlasst:
„Micha, ganz ehrlich, du wärst wirklich ein Spitzenerzieher geworden!“
Wäre ich das? Bei welcher Gelegenheit denn? Auf jeden Fall bemerke ich gerade, dass die drei Bier von vorhin wieder an die frische Luft wollen. Ein bisschen unpassend jetzt, mitten auf der Königstraße.
„Du, Vanessa, wir müssen dann mal weiter. Hat mich total gefreut, dich – nee: euch getroffen zu haben. Deine Mailadresse, ist die noch dieselbe?“
„Ist sie. Kannst dich gern melden, wenn du magst“, sagt sie und umarmt mich plötzlich. Wie komme ich denn zu der Ehre? Habe ich irgendwas richtig gemacht? Aber egal, ich muss wirklich dringend heim!
„Okay, dann macht’s gut zusammen. Ich melde mich, bestimmt!“
Das habe ich sogar wirklich vor. Vanessa war und ist einfach ein netter Mensch, und der Kleine, den finde ich tatsächlich klasse.
„Tschüss, Marius“, sage ich und winke nach unten. Marius winkt nach oben, zieht Rufus ein letztes Mal am Ohr, dann gehen wir alle unserer Wege.
Nach ein paar Metern drehe ich mich aber noch mal um. Hat echt einen ziemlichen Hüftschwung bekommen, die Vanessa. Macht sich gut unterm Sommerkleid. Und ihr Kleiner schaut tatsächlich zurück und winkt uns. Putzig.
Doch jetzt: nach Hause, Destination Böblinger Straße. Und zwar schnellstens!