Читать книгу Halbhöhlenlage - Frank Engelmann - Страница 7
2
Оглавлениеdie eine oder andere Woche danach
„I stand on these hills and I watch her at night, a thousand square miles and a million orange lights, hmm hmm da da da da …”
Da! So was nervt mich! Herr D. singt und summt vor sich hin, und ich habe keine Ahnung, von wem das ist, was er da summt. Dass der aber auch nie was Anständiges singen kann, sagen wir mal von Metallica! Oder von den Fantas. Oder immer wieder gern auch was von Wolle Kriwanek. Aber nein, er hört Bands, die immer ein bisschen anders sein müssen. Und die ich weder kenne noch kennen will.
Und außerdem nervt es mich, wenn Leute sich hinter Songtexten verstecken, weil ihnen sonst nichts Passendes zum Moment einfällt. Dann sollen sie doch einfach gleich ruhig sein.
Allerdings muss ich zugeben, dass Herr D. das eigentlich ganz schön gesungen hat. Und wenn er auch diese echt heiße Mischung eines deutsch-schwäbischen Englischs verwendet: Der Text, soweit ich ihn verstanden habe, passt durchaus.
Wir sitzen nämlich auf dem Birkenkopf – also auf dem Monte Scherbelino, falls jemand Touristenführer liest. Aus besagtem Touristenführer könnte der Touristenführerleser dann von der Sache mit den 15 Millionen Kubikmetern Trümmerschutt aus dem Zweiten Weltkrieg erfahren, die zwischen 1953 und 1957 dem armen Birkenkopf auf den selbigen gekippt wurden. Weswegen er sogleich vor lauter Stolz und geschichtlichem Würdebewusstsein um 40 Meter in die Höhe wuchs.
Wir in der Wolle gefärbten Kesselhelden wissen das natürlich alles schon und lassen den Hauch der Geschichte ignorant an uns vorbeiwehen. Stattdessen erfreuen wir uns unserer Sixpacks. Oh, wohlgemerkt: Ich rede hier definitiv nicht von Bauchmuskeln.
Freunde, Römer, Landsmänner: Men’s Health ist eine Frauenzeitschrift. Oder wenigstens eine von Frauen gekaufte Zeitschrift. Oder wenigstens eine Zeitschrift, die eigentlich Frauen kaufen sollten, so was wie Playgirl. Oder wenigstens eine Zeitschrift, die Männer machen, die denken, Frauen wären oberflächlich (das allerdings könnte stimmen). Auf jeden Fall, glaubt denen kein Wort: Fit sein ist okay, aber die übertreiben maßlos. Und falls ihr das Ding trotzdem selber kauft: mein aufrichtiges Beileid!
Nun, wir sitzen da oben, trinken Bier, weswegen wir uns auch ganz brav vom 92er haben herfahren lassen, und schauen runter. Auf Stuttgart natürlich, worauf denn sonst. Und es ist doch auch zu schön! Sehen übrigens fast alle so: 89 Prozent der Stuttgarter halten Stuttgart für lebenswert. Ein tolles Ergebnis!
Ich habe tatsächlich schon ernsthaft darüber nachgedacht, einen Stuttgartführer zu verfassen. Einen ziemlich lässigen natürlich. Hier zum Beispiel würde ich schreiben: …
… weiß ich jetzt auch nicht genau, aber auf jeden Fall müsste rein, dass man wegen der Kessellage so schön draufgucken kann, weil es praktisch ringsum nach oben geht. Und die Sache mit den Weinbergen, ganz klar. Und dass der Birkenkopf, mit seinem ganzen Ruinenschutt, fast eine Art kaputtes Freilichtmuseum ist. Und dass man, meiner Meinung nach, exakt von hier oben den schönsten Blick auf Stuttgart hat. Auf all die Straßen und all die Häuser, vor allem bei Nacht, wenn die Lichter an sind. Aber auch bei Tag. Finde ich. Und dass man hier oben die Stadt auch so gut hören kann. Was nämlich ebenfalls Spaß macht, eine Stadt zu hören.
Wahrscheinlich muss ich aber zugeben, dass ich besser im Genießen als im Beschreiben bin. Na gut, hole ich mir eben irgendwann einen Ghostwriter.
Aber jetzt zurück zum Singsang von Herrn D. An dem habe ich nämlich schon das eine oder andere zu beanstanden:
„Sag mal, so ganz passen die Lyrics ja nicht, oder? Also erstens stehst du nicht, du sitzt. Und außerdem: jetzt echt tausend Quadratmeilen, falls es das hieß? Und wie viele Lichter sollen da sein?“
Herr D. – eigentlich Walter Daniel Fuchs, ich wüsste aber niemand, der nicht Herr D. zu ihm sagt – Herr D. würdigt mich keines Blickes. Stoisch schaut er den Hügel runter und raucht. Und kippt sein Bier.
Na, mir soll’s recht sein. Die Sonne geht gerade erst unter, die Ruinensteine sind noch so schön warm, dass das Hocken auf ihnen geradezu ein Steinfest ist, die Vögel zwitschern, und wenn Herr D. findet, hier müsse man gemeinsam schweigen, dann kann er das haben. Das ist ein großer Vorteil des Mannseins: Man muss nicht reden, nur damit geredet wird.
Zwei Bier und drei Zigaretten später kommt dann doch was von ihm:
„Ich weiß nicht, aber vielleicht würde es dir guttun, mal rauszukommen. Im Sinne von: wegzuziehen. So viel, wie du in letzter Zeit rumquengelst, ersetzt du fast den Matze. Überleg mal: einfach für ein Jahr oder zwei wegziehen, so richtig ganz weg, ganz woanders hin.“
Ich muss schon sagen: Ich bin erstaunt. Spinnt der? Der spinnt doch!
„Hey, spinnst du? Was bitte soll ich? Willst du mich los sein? Hast du keinen Bock mehr auf Kumpels? Und wo soll ich denn hinziehen? Soll ich vielleicht die Schwabenkolonien im blöden Berlin unterstützen, bei der Aufwertung von Bruchbuden und Szenevierteln? Oder schöne Grüße von Herrn Lehmann, oder wie?
Und was heißt da, ich quengle rum? Was ist das überhaupt für ein Wort? Außerdem, du quengelst doch auch rum. Dass dir deine Frau auf die Nerven geht und dass die ganzen Schicksale bei der Drogenhilfe dich runterziehen und dass du deine Tochter kaum siehst und dass die Strampe zum Ostendplatz nicht die ganze Nacht durchfährt und was weiß ich noch alles. Aber ziehst du denn weg?“
Woraufhin mich Herr D. anstarrt – und dann weiterraucht. Und Bier kippt. Wiederum für die eine oder andere Minute und die eine oder andere Zigarettenlänge. Ich denke schon, jetzt habe ich meine Ruhe, aber von wegen. Denn nun geht der SozPäd mit ihm durch:
„Micha, da müssen wir jetzt echt mal drüber reden, …
(Nein, das müssen wir echt nicht.)
… tut mir leid, wenn dir das auf die Nerven geht, …
(Und wie.)
… aber, ganz im Ernst, was ist los mit dir, mein Schatz? …
(Das kenne ich von den Ü-30-Partys. Das hat er geklaut von so einer NDW-Band.)
… Ich mein, immerhin, das ist doch nun schon über vier Wochen her, dass Katrin davongerauscht ist, und Trauerarbeit …
(Welche Arbeit? Ich hab schon einen Job.)
… ist auch wichtig, aber irgendwie kommst du uns grad komisch vor, …
(Uns? Also euch? Also nicht nur dir?)
… so von wegen du und durchhängen wegen so einer Geschichte? Klar, war ’ne Klassefrau, die Katrin, …
(Wenn du nur wüsstest, wie klasse …)
… und du hast es auch wirklich wie aus dem Lehrbuch verbockt, …
(Weiß ich!)
… aber da ist doch noch mehr in der Schieflage, oder? Tun dir vielleicht die 40 nicht gut? Mit 40 wird der Schwabe g’scheit, aber du wirst obendrein noch düster! …
(Bitte? Düster? Ich?)
… Jetzt sag, was ist los? Katrin-Blues? Job-Blues? 40-Jahre-Blues? Stuttgart-Blues?”
Nebenan stehen ein paar Kapuzenjungs um ein erstaunlich professionelles Feuer herum. Und wenn ich nicht aufpasse, fliegt mir die Grillasche von denen in den Mund. Denn noch viel erstaunlicher als deren Feuer war dieser Sermon. Das war nicht nur SozPäd, das war fast schon Psychoanalyse! Sonnenwarmer Ruinenstein, denke ich, und er sieht mich auf dem Erzähl-doch-bitte-wie-war-das-in-deiner-Kindheit-Sofa.
Also klappe ich erst mal meinen staunenden Mund wieder zu, wegen der Hobby-Vulkanier da drüben – und dann klappe ich ihn auch gleich wieder auf. Diesmal aber staune ich über mich selber, denn ob ich’s will oder nicht, und ich will es nicht!: Ich fange gerade an, über seine FAQs nachzudenken. Hilfe, kann man das noch stoppen?
Es ist Samstagabend, der Kessel beleuchtet sich großstädtisch, die Nacht dürfte wunderbar lau und sommerlich werden. Wonach mir der Sinn steht, das ist eine weitere Fortsetzung meiner grundlegenden Forschungen über das weibliche Geschlecht. Genau dort unten im Kessel machen die sich jetzt hübsch für uns!
Keineswegs möchte ich mich zu so einem Zeitpunkt mit diesem überaus lästigen und meines Erachtens völlig überbewerteten Denkprozess der Selbstreflexion herumschlagen! Dafür ist auch morgen noch Zeit, obwohl, da ist Sonntag, da muss ich ausschlafen, also dann eben am Montag, obwohl ich da wieder brav ins Büro wandere, na gut, irgendwann nächste Woche eben oder in der drauf oder in der darauf! Aber nicht jetzt!
Trotzdem nagt es in einer finsteren Ecke meines Kopfes: Mache ich wirklich so einen Eindruck? Bin ich wirklich düster? Hänge ich wirklich durch? Ist mein Leben wirklich in Schieflage? Quengle ich wirklich rum? Habe ich heute schon den Gummibaum gegossen?
Auf jeden Fall sehe ich gleich mal gar nicht ein, dass Katrin in irgendeiner Weise was mit meinen Problemen zu tun haben soll. Aber da! Jetzt denke ich selber schon, ich hätte Probleme! Hab ich aber nicht!
Katrin? Grad egal, andere Mütter haben sogar noch schönere Töchter! Der Job? Der ist okay. Man macht ja keinen auf Maschinenbau, um dann den Weltfrieden zu konstruieren. Die 40? Na, man kann doch auch mit 40 noch auf Ü-30-Partys gehen, da ist man schließlich über 30. Obendrein sind Männer wie Rotwein: Wir werden immer besser mit den Jahren. Und was war das zum Schluss? Wie hat er das formuliert mit seinem Alt-68er-Slang? Der Stuttgart-Blues?
„Herr D., nun hör mir genau zu. Punkt 1, 2 und 3: kompletter Unfug! Punkt 4, Stuttgart-Blues: oberkompletter Unfug! Wenn ich wegzieh, dann maximal von Downtown Heslach ein bisschen rauf zu den oberen Zehntausend in die Halbhöhenlage, okay?“
„Ach, tust du das? Würde ich mir erst noch gründlich überlegen. Weißt du, Micha, in einem muss ich der Birgit echt recht geben: Du führst dich wirklich ziemlich oft auf wie ein Höhlenmensch. Und ich wüsste nicht, dass das dort hügelaufwärts Halbhöhlenlage heißt, oder sehe ich da was falsch? Die wollen dich da gar nicht, die oberen 75.000, so viele sind es nämlich wirklich.“
Jetzt muss ich aber schlucken. Einer meiner besten Kumpels erklärt mir gerade, ich sei ein unerwünschter Höhlenmensch? Wenn die Bierträgerin das sagt, na meinetwegen. Als Kellnerin ist es durchaus von Vorteil, eine große Klappe zu haben, und außerdem sieht sie gut aus, folglich ist das verziehen. Aber Herr D.? Hat einen Bart und seltsame Klamotten, irgendwo Richtung thirdhand, also soll der doch besser vorsichtig sein!
„Ach“, sage ich, „die dort oben wollen mich gar nicht? Und mein Kumpel – und der weiß nun wirklich, wovon er dabei spricht! – hält mich für einen Höhlenmenschen? Und schlägt mir vor, nach Berlin zu ziehen? Hast du das mit den anderen abgesprochen? Sehen die das auch so? Wollt ihr mich auch nicht?
Na klar, geh ich nach Berlin, krieg dann nichts auf die Reihe, so wie der Bär Läsker, oder wie Muckl, aber wenn ich’s wie Muckl mache, komme ich immerhin als Union-Berlin-Fan zurück. Klingt super, ich glaube, das mach ich!“
Man kann sich zwar fragen, ob Muckl und der Manager der Fantastischen Vier in einem Atemzug genannt werden dürfen, aber Muckl hat es ja nicht gehört, drum wird es ihn auch nicht in seiner Gitarrenrockerehre kränken.
Herr D. aber bleibt unbeeindruckt. Vollkommen entspannt schaut er mich an, zieht an seiner Zigarette, genehmigt sich noch einen Schluck Bier, schüttelt dann den Kopf und sagt:
„Ich kenn keinen Bären aus Alaska, und dem Muckl war Berlin einfach nur zu durcheinander. Außerdem hab ich keinen Ton von Berlin gesagt, da bist du ganz von allein draufgekommen. Aber egal. Das mit dem Wegziehen, das war nur eine Idee. Nur ein Vorschlag, nur von mir. Wahrscheinlich war’s auch kein guter Vorschlag. Und obendrein ist mein Bier jetzt warm. Komm, lass uns ins Städtle laufen, da gibt’s bestimmt irgendwo ein kühles Frischgezapftes!“
Und damit erhebt er sich, stopft das Leergut in seinen Rucksack, wo es garantiert rumsuppt (was ihm aber ziemlich egal sein dürfte), und stiefelt los.
Ich schau ihm hinterher, dann schau ich noch mal auf Stuttgart, auf die Jungs mit ihren Kapuzen – bei der Wärme? Merkwürdige Mode –, auf ihren Minivulkan, auf dem mittlerweile was Leckeres brutzelt, und dann stapfe ich ihm nach. Irgendwie war das ein sehr seltsamer Auftakt für einen Samstagabend.
Und als wir dann im Restlicht und von blöden Mücken umkreist den Monte abwärts umrunden, geht auch in meinem Kopf was rund. Nämlich doch Katrin. Ich will nicht weg, mein Job ist okay, die 40 sind auch okay.
Nur: Was sollte das mit dem Höhlenmenschen? Und was ist das mit diesem Zuverlässigsein? Vor allem aber: Ist es wirklich schlimm, wenn man nicht erwachsen werden will? Und vor über allem: Worum soll es dabei eigentlich gehen, bei diesem Erwachsenwerden?