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Waisenkinder und Waisentheologie
ОглавлениеDa Gottes Handeln an uns initiatischer bzw. initiatorischer Natur ist, weil er ein Vater ist, wir aber in einer Zeit leben, in der Menschen nicht mehr initiiert werden und aufgrund dessen häufig nicht erwachsen werden, kann es gut sein, dass wir Gott einfach nicht verstehen. Er spricht eine andere Sprache als wir, und wir haben keine Zeit, sie zu lernen. Sein Umgang mit uns ist uns rätselhaft, wir sind zu „irdisch gesinnt“. Wir verhalten uns wie Waisenkinder, die sich ständig selbst erfinden müssen, da sie keine väterliche Bezugsperson haben, die in der Lage ist, sie zu initiieren, weil sie viel tiefer blickt und weit mehr in uns sieht als wir selber.
Gott betrachtet uns ganz anders als wir selbst uns erkennen. Er rührt etwas in uns an, von dem wir gar nicht wussten, dass es da ist.
Um uns seine Sicht und seine Berührung mitzuteilen, muss er uns jedoch erst einmal in die Position bringen, in der das möglich ist, und in den Zustand versetzen, in dem wir dazu in der Lage sind, eine göttliche Schau und Berührung zu empfangen. Viele meinen, Gott könne ihnen doch „einfach mal“ sagen oder zeigen, was immer er ihnen sagen oder zeigen will, aber dem ist beileibe nicht so.
Wir erwarten von Gott Segen, wie wir uns Segen vorstellen, und nicht, wie Segen tatsächlich aussieht. An unendlich vielen Gebetserhörungen gehen wir vorbei, weil wir uns die Antwort ganz anders vorstellen, als sie uns zukommt.
Ein Priester saß an seinem Schreibtisch am Fenster und bereitete seine Predigt über die Vorsehung vor, als er plötzlich eine Explosion zu hören glaubte. Bald sah er auch Menschen in Panik hin und her laufen und erfuhr, dass ein Damm gebrochen war, der Fluss Hochwasser führte und die Bevölkerung evakuiert wurde.
Der Priester sah, wie das Wasser auf der Straße stieg. Es fiel ihm schwer, die aufsteigende Panik zu unterdrücken, aber er sagte sich: „Ausgerechnet jetzt arbeite ich an einer Predigt über die Vorsehung, da erhalte ich die Gelegenheit, zu praktizieren, was ich predige. Ich werde nicht fliehen. Ich werde hierbleiben und auf Gottes Vorsehung, mich zu retten, vertrauen.“
Als das Wasser bis zu seinem Fenster stand, fuhr ein Boot vorbei und die Menschen darin riefen ihm zu: „Steigen Sie ein, Herr Pfarrer!“
„O nein, Kinder“, sagte der Priester zuversichtlich, „ich vertraue auf die Vorsehung. Gott wird mich retten.“
Er kletterte jedoch auf das Dach, und als das Wasser auch bis dorthin stieg, kam ein weiteres Boot voller Menschen vorbei, und sie drängten den Pfarrer, einzusteigen. Wiederum lehnte er ab.
Dieses Mal stieg er bis in die Glockenstube. Als ihm das Wasser bis zu den Knien reichte, schickte man einen Polizeioffizier mit einem Motorboot, um ihn zu retten. „Nein danke, Herr Offizier“, sagte der Priester ruhig lächelnd. „Sehen Sie, ich vertraue auf Gott. Er wird mich nicht im Stich lassen.“
Als der Pfarrer ertrunken und zum Himmel aufgestiegen war, beklagte er sich sofort bei Gott. „Ich habe dir vertraut! Warum tatest du nichts, um mich zu retten?“
„Nun ja“, erwiderte Gott, „immerhin habe ich drei Boote geschickt.“6
Diese Geschichte bringt es auf den Punkt. Nach dem Tod des Priesters war die ganze Gemeinde wahrscheinlich voller Bestürzung darüber, dass Gott diese Tragödie zugelassen hatte. Sie sagten wohl genau dasselbe wie der Pfarrer: „Wir haben Gott vertraut! Warum hat er nichts getan, um ihn zu retten?“ Sicher fielen Zweifel und Verunsicherung in ihre Herzen und lähmten ihren Glauben, denn wenn so etwas einem „Mann Gottes“ passierte, wo blieben dann sie?
Diese vertrackte Situation findet sich auf allen Ebenen: Wir erbitten Gaben, wie wir uns Gaben vorstellen und nicht wie der Geist sie tatsächlich wirkt und wofür Gott sie bestimmt. Wir hören sein Wort nicht so, wie er es uns sagt, sondern so, wie unsere religiös gewaschenen Ohren es hören können und wie es „schon immer“ ausgelegt wurde.
Wie werden wir diese Diskrepanz überwinden? Gott möchte uns von kindischen und religiös klischeehaften Vorstellungen zu reifen und realistischen Vorstellungen bringen, die „höher als die Erde sind“ (Jes 55,8-9). Denn die Welt ist nicht so realistisch, wie sie vorgibt zu sein, sondern vielmehr trügerisch und illusionär. Um sie mit anderen Augen zu sehen, als wir gewohnt sind, ruft Gott uns auf seinen heiligen Berg, wo uns die Geschäfte der Welt unten im Tal einmal nicht bestimmen und die Dinge des Himmels oben auf dem Berg einmal allein wichtig sind und uns initiieren können. Wo es dann nicht mehr die Welt ist, die uns definiert, sondern der Himmel. Dann werden wir verwandelt bzw. von Neuem geboren.
1 R. Rohr, „Endlich Mann werden – Die Wiederentdeckung der Initiation“, Claudius Verlag München 2005, S. 11-12
2 M. Eliade s. o., S. 11.
3 Dürckheim, „Überweltliches Leben in der Welt – der Sinn der Mündigkeit“, Verlag O.W. Barth, Weilheim/Obb. 1972, S. 70-71.
4 Quelle: www.ncrtc.eu; aus dem Artikel: „Das haben wir scheinbar vergessen“.
5 R. Rohr, „Wer loslässt, wird gehalten“, Claudius-Verlag München 2001, S. 23-24.
6 A de Mello, „Das Anthony de Mello Lesebuch“, Herder 2013, S. 130 f.