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Wachstum
ОглавлениеWir neigen meines Erachtens leicht dazu, unseren Durchblick zu überschätzen und meinen zu wissen, was Sache ist, obgleich wir erst damit angefangen haben zu begreifen und zu erfahren, wer und was uns da ruft und erwählt. Wir meinen, schon fertig zu sein, ehe wir überhaupt richtig angefangen haben!
Das Konzept von Menschsein, welches unsere Kultur uns liefert, ist ganz auf Äußerlichkeit und Vorläufigkeit gerichtet. Es fördert geradezu unreifes und abhängiges Verhalten. Der unmündige Mensch, der sich aber für mündig hält, eignet sich für die Geschäfte besser als der Mündige, der seine eigene Welt zu erschaffen und zu verantworten in der Lage ist.
Nun ist es dem Menschen gegeben zu wachsen. Er muss damit niemals aufhören. Er kann sich immer weiter entfalten, so wie ein Baum. Es gibt Bäume, die schön in Reih und Glied in einer Monokultur stehen und so überzüchtet sind, dass sie ohne Dünger und Pestizide in der Wildnis (Freiheit) nicht lebensfähig sind. Ein Mensch kann – im Bilde gesprochen – aber auch ein mächtiger Baum des Waldes werden, der eine Welt, eine Biosphäre, für sich selbst bildet, die weit unter der Erde beginnt und bis in den Himmel ragt und in dessen ausladenden Ästen zahllose Tiere wohnen. Wir kennen die berühmte Geschichte vom Adler im Hühnerhof:
Ein Mann fand ein Adlerei und legte es in das Nest einer gewöhnlichen Henne. Der kleine Adler schlüpfte mit den Küken aus und wuchs zusammen mit ihnen auf.
Sein ganzes Leben lang benahm der Adler sich wie die Küken, weil er dachte, er sei ein Küken aus dem Hinterhof. Er kratzte in der Erde nach Würmern und Insekten. Er gluckte und gackerte. Und ab und zu hob er seine Flügel und flog ein Stück, genau wie die Küken. Schließlich hat ein Küken so zu fliegen, stimmt’s?
Jahre vergingen und der Adler wurde alt. Eines Tages sah er einen herrlichen Vogel hoch über sich im wolkenlosen Himmel. Anmutig und hoheitsvoll schwebte er durch die heftigen Windströmungen, fast ohne mit seinen kräftigen goldenen Flügeln zu schlagen. Der alte Adler blickte ehrfürchtig empor.
„Wer ist das?“, fragte er seinen Nachbarn. „Das ist der Adler, der König der Vögel“, sagte der Nachbar. „Aber reg dich nicht auf. Du und ich sind von anderer Art.“
Also dachte der Adler nicht weiter an diesen Vogel. Er starb im Glauben, ein Huhn im Hinterhof zu sein.4
Auch Johannes – immerhin ein Apostel – war vielleicht geneigt zu glauben, er habe die Grenze seiner Möglichkeiten erreicht, hinfort würde er nur noch verwalten und weitergeben, was er in seinem Leben erreicht hatte. Aber es kam ganz anders: Er wurde auf eine Insel verbannt, einen Initiationsort par excellence, und erhielt dort im Geist eine Offenbarung von Jesus. Weiter vorne schilderten wir die Ereignisse auf dem Berg der Verklärung. Johannes war einer der drei Jünger, die Jesus dorthin mitgenommen hatte, und diese sahen, wie er sich vor ihren Augen verwandelte und dass sein Angesicht leuchtete wie die Sonne. Damals war Johannes mit den anderen beiden Jüngern buchstäblich zu Boden gegangen, so überwältigend war die Erfahrung. Er mag völlig zu Recht gedacht haben: Mehr geht nicht! Was könnte eine solche Erfahrung noch toppen?
Aber nun, alt und im Exil auf der Insel Patmos, sieht er Jesus erneut, allerdings „im Geist“ und „im Himmel“, denn Jesus ist auferstanden. (Wobei sich die Grenzen von im Fleisch und im Geist in einer solch intensiven Vision, wie sie die Offenbarung darstellt, verwischen können. Das heißt, es stellt sich demjenigen, der eine solche Erfahrung macht, die Frage, was nun eigentlich „realer“ ist: die irdisch-materielle Dimension oder die himmlisch-geistliche, die er schaut.)
Wieder ist der Anblick von Jesus für Johannes völlig überraschend und überwältigend und die neuerliche Erfahrung mit ihm ganz anders, als er Jesus je zuvor erlebt hat. Und wieder geht er zu Boden …
Dann diktiert Jesus ihm sieben Briefe an die Gemeinden, in deren Mitte er, Jesus, in der Vision steht – „inmitten der sieben Leuchter“. Jede Gemeinde hatte so ihre bestimmten Gründe, Jesus nicht in ihrer Mitte stehen zu lassen und sich um anderes zu drehen, als um ihn. Dies sollte anhand der Briefe benannt und korrigiert werden. Um das den Gemeinden angemessen mitteilen zu können, dafür musste Johannes jedoch zuerst selbst korrigiert werden! Auch für ihn musste Jesus erst wieder in den Mittelpunkt rücken und seine ganze Aufmerksamkeit gewinnen. Das Bild, welches sich Johannes von Jesus gemacht hatte, musste erneut aufgebrochen werden.
Jesus ist immer größer als die Bilder,
die wir uns von ihm machen.
Darum sind die Bilder so gefährlich und das zweite Gebot mahnt uns, uns kein Bild zu machen, weder von dem, was oben im Himmel noch was unten auf der Erde ist (vgl. 2 Mose 20,4). Sehr leicht können wir den echten, auferstandenen und lebendigen Jesus in unsere kleinen Katechismen und frommen Kirchenvorstellungen packen und meinen, wir wären fertig mit ihm. Wir können sogar diese eigenen Bilder für unsere Zwecke benutzen und damit gegen die Bilder anderer Gruppierungen kämpfen. Bild gegen Bild.
Mit dem echten Jesus wäre uns das freilich nicht möglich, weil er sich weder für kirchenpolitische Interessen instrumentalisieren lässt noch solche Arten von Kriegen führt. Er hat ganz andere Dinge zu tun – und würde uns gerne daran beteiligen. Wenn wir nur zu ihm kämen und mit ihm gehen würden! Wenn es uns nur wirklich interessieren würde, was er denkt und tut! Wenn wir nur einmal mit ihm selbst sprechen würden! Tatsächlich wird in den Gemeinden sehr viel über ihn, aber wenig mit ihm gesprochen. Man ist allzu fertig mit Jesus und erwartet von ihm nichts Neues.