Читать книгу Bluemoon Baby - Frank Witzel - Страница 8
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ОглавлениеIn einer Stadt in Mittelhessen steht eine 43 Jahre alte Professorin für Frauenstudien fertig zum Ausgehen und mit dem Schlüssel in der Hand vor dem laufenden Fernsehgerät. Sie will zu einer Vernissage in die Grundwiesenstraße. In einem ehemaligen Buchladen, der jetzt einem Schmuckmacherkollektiv gehört, wird Perlenschmuck gezeigt. Es gibt Borschtsch zu essen und italienischen Landwein zu trinken. Die Broschen liegen in mit Sand gefüllten Blecheimern und werden mit kleinen Strahlern angeleuchtet. Die Ringe hängen an langen Zimmermannsnägeln, die man in die unverputzt belassenen Dachbalken geschlagen hat, und die Ketten sind um Stamm und Ast einer großen Yukka geflochten.
Der Lebenspartner der Professorin für Frauenstudien, ein zur Zeit arbeitsloser Spieleerfinder aus Graubünden, ist freitagabends regelmäßig zum Schach verabredet und deshalb schon aus dem Haus.
Die Professorin ist gerade noch von dem Beitrag des politischen Magazins eines öffentlich-rechtlichen Senders fasziniert. Nicht weit entfernt von Polar im Bundesstaat Wisconsin wird zur Stunde ein ohne Knochen geborener Siebzehnjähriger in einen Schacht gelassen, um mit Hilfe einer an seinem Kopf befestigten hochsensiblen Infrarotkamera, die ihre Bilder wahlweise in Bombenangriffsgrün oder Nachtüberwachungsblau liefert, herauszufinden, ob es über die Kanalisation einen Zugang zu dem Hauptquartier einer gefährlichen Sekte geben kann. Die Sekte nennt sich, so erfährt man nicht nur durch die Sprecherin, sondern auch auf einer vorbereiteten Tafel übersetzt „Die nackten Zeugen von Armagehdon“ (The bare witnesses of Armagehdon). Professorin Rikke lacht auf, denn man hat in der Fernsehredaktion das Wort „Armageddon“ falsch geschrieben.
In der Eile der sich überstürzenden Ereignisse läßt sich nicht jedes Detail recherchieren. So beantwortet das grobgerastert eingeblendete Foto von Douglas Douglas Jr., dem jungen Mann ohne Knochen, auch nur sehr unzureichend die Frage, was „ohne Knochen“ genau bedeutet. Eine Art Schädel scheint er jedenfalls zu besitzen, auch wenn er vielleicht etwas schmal erscheinen mag. Professorin Rikke schaltet auf Teletext. Um zehn soll in einer Sondersendung ausführlich über Douglas Douglas Jr. und die Hintergründe der Geiselnahme berichtet werden. Vielleicht ist sie bis dahin zurück.
Sie schaltet den Fernseher aus und verläßt das Haus. An der immer noch heißen Luft, die in den Straßen steht und sich sofort auf ihre Kopfhaut legt, wird sie daran erinnert, daß sie sich die Haare zu kleinen Stacheln zusammengegelt hatte. Im Fenster des Penny-Marktes vergewissert sie sich, daß die Spitzen noch einigermaßen gleichmäßig von ihrem Kopf abstehen. In der japanischen Mythologie gibt es ein Kind ohne Knochen, das von seinen Eltern, wie so viele Helden, gleich nach der Geburt ausgesetzt wird. Fast ein Ereignis von mythologischem Gehalt, das sich dort in Amerika abspielt, denkt sie, während sie durch den Fußgängertunnel unter der Eisenbahnlinie geht.
Als sie den Schmuckladen betritt, ist gerade die neue Lebensgefährtin des grünen Außenministers im Mittelpunkt des Interesses. Professorin Rikke dreht sich einmal unauffällig im Kreis, um zu sehen, ob der Außenminister selbst auch anwesend ist. Sie kennt ihn noch aus der Zeit, als er das alternative Kino der Stadt in einem Kollektiv organisierte. Eigentlich müßte er schon an den in seiner Nähe herumstehenden Bodyguards zu erkennen sein. Aber wer einmal neben Madeleine Albright im Palais Schaumburg Hammelnüßchen Braganza zu sich genommen hat, wird wohl kaum nach Feierabend in der Mittelseestraße im Stehen einen Teller Borschtsch löffeln.
Professorin Rikke kennt die Lebensgefährtin bisher nur aus der Zeitung. Sie ist knapp über dreißig und war Volontärin beim Fernsehen. Es heißt, sie sei schwanger. Obwohl sich die beiden erst seit einem Vierteljahr kennen. Anders hat sie ihn wohl nicht binden können. Ein Lachen geht durch den Kreis, der die Lebensgefährtin umringt. Sie hält sich gerade zwei lange, fast unsichtbare Schnüre an die Ohrläppchen, um zu sehen, wie ihr dieses Ensemble steht. Ungefähr in Höhe ihres Busens schweben zwei glitzernde Perlen als symbolische Brustwarzen über ihrem bauchfreien Oberteil. Es wird genickt. Besonders von den Vertretern des Schmuckkollektivs. Aber sie plaziert das Ohrgehänge wieder zurück an den Stahlnagel, von dem sie es heruntergenommen hat, und bückt sich über einen der Blecheimer, wobei sie ihren prallen Hintern in den Schein eines Spots schiebt.
Professorin Rikke dreht sich um. Ein befreundeter Künstler aus dem städtischen Kunstverein betritt gerade mit einem nach frischer Ölfarbe riechenden und in eine alte Decke eingeschlagenen Rechteck unter dem Arm den Laden. Vielleicht würde sie mit ihm über die mythologischen Implikationen dieses Falls in Wisconsin reden können.