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Die Hölle stößt durch den Fußboden
ОглавлениеDa rief mich meine Mutter beim Namen. Es war schon fast dunkel im Zimmer. Ich wagte sie nicht anzusehen, senkte den Kopf und dachte: Sie wird mich gleich auslachen. Ich wußte genau, daß Männer nicht mit Puppen spielen sollten. Aber meine Puppe gefiel mir. Sie war der einzige Mensch, dem ich die längsten Geheimnisse erzählen durfte. Meine längsten Geheimnisse waren auch die schönsten. Elfi erzählte ich nur die kurzen. Die kurzen waren weniger schön. Aber ich sprach nur selten mit Elfi. Man hatte sie meinetwegen schon einmal ausgelacht. Ich wollte nicht, daß sich meine Kameraden ein zweites Mal über sie lustig machten.
„Ja, Mutter! “ antwortete ich.
„Du darfst dir etwas wünschen!“
Da schämte ich mich. „Ich habe genug Spielsachen, Mutter. Aber wir haben nicht genug Geld. Wollen wir nicht lieber warten, bis Vater genug Geld hat, dann kann ich mir auch etwas Großes wünschen.“
Meine Mutter lachte. „ Wer einen sehr großen, starken Wunsch hat, denkt nicht an Geld. Hast du einen solchen Wunsch?“
Es zischte wieder im Steckkontakt. Ich fuhr erschrocken auf. „Sollten wir nicht zuerst das Bügeleisen zum Elektriker bringen?“
„Ich werde das Bügeleisen auch zum Elektriker bringen, wenn du dir etwas wünschest.“
Meine Mutter sprach leise, aber sehr eindrücklich und fast bittend. Heute weiß ich, daß sie damals sehnlichst auf eine klare, einfache Antwort wartete. Sie hatte ja schon ein Geschenk für mich bereit. Ein teures Geschenk. Ein Geschenk, das kein Mensch auf der ganzen Welt, ja nicht einmal die drei Könige aus dem Morgenlande bezahlen konnten. So reich waren wir: meine arme Mutter, mein armer Vater und ich. Doch in jenem Augenblick spürte ich von jenem Reichtum nichts. Ich fürchtete mich bloß. Ich fürchtete, der Regen und der Wind könnten die Scheiben des Stubenfensters zertrümmern. Ich fürchtete mich vor dem Zischen im Steckkontakt. Ich fürchtete das finstere Gesicht meines Vaters, wenn er nach einem erfolglosen Nachmittag, ohne einen neuen Arbeitsplatz gefunden zu haben, mit triefenden Kleidern nach Hause zurückkehren würde. Am meisten fürchtete ich mich vor der Antwort, die ich meiner Mutter geben sollte. Man hatte sich bisher nie um meine Wünsche gekümmert. Wir waren arm. Jetzt erfuhr ich ganz unvorbereitet, daß es große, starke Wünsche gebe, bei denen niemand an Geld denke. Waren schon alle großen und starken Wünsche in mir gestorben?
„Wieviel kostet ein Schutzengel?“ fragte ich verzweifelt.
Meine Mutter dachte nach. Dann sprach sie mit trauriger Stimme: „Ein Schutzengel kostet sehr viel. Er kostet viele Gebete, viele Opfer und ein reines Herz.“
„Dann wünsche ich mir einen Schutzengel.“
„Diesen Wunsch kann ich dir nicht erfüllen. Den Schutzengel muß sich jeder Mensch selber verdienen. Du darfst dir also noch etwas anderes wünschen.“
Ein helles Licht flammte hinter mir auf. Ein Stuhl fiel um. Ich schnellte empor und drehte mich. Meine Mutter stand totenbleich in der Stubenecke hinter dem Bügeltisch, bewegte wortlos die Lippen und preßte beide Hände schützend an ihren Schoß. Die zerfetzten Fäden der Stromleitung hatten Feuer gefangen und züngelten nach dem Wäschestapel neben der Abstellplatte für das Bügeleisen. Das Höllenfeuer war durch den Erdboden zu uns hinaufgestoßen. Also mußte ein Engel, der eben noch über uns thronte, in die Hölle gefallen sein. Vielleicht war er noch nicht ganz in die Hölle gefallen. Vielleicht fiel er erst durch die Stubendecke. Ich mußte den Engel retten. Oder hatte meine Puppe doch nicht zu Nacht gebetet? Man konnte keinem Engel und keiner Puppe trauen. „Was soll ich tun?“ wimmerte meine Mutter. Beim Klang dieser sonst so tapferen Stimme begriff ich plötzlich, daß es jetzt keinen Engel, keine Puppe und überhaupt keine Traumgespinste, sondern meine leibhaftige Mutter zu retten galt.
„Die Leitung nicht berühren!“ schrie ich. Dann huschte ich unter dem Tisch hindurch, packte den Stecker und riß ihn aus der Dose. Dicker, beißender Rauch nebelte durch das Zimmer. Ich sah meine Mutter nicht mehr, griff mit beiden Händen nach dem Wassernapf, schüttete seinen Inhalt über die glosenden Wäschestücke und wickelte die Stromleitung in ein nasses Tuch. Die Flammen erstickten. Ich öffnete das Stubenfenster. Der Wind wirbelte den Qualm in einer geheimnisvollen Spirale zum grauen Abendhimmel empor. Hustend beugte ich mich unter dem Regen hinaus. In der Stube betete meine Mutter: „Heilige Maria! Hoffentlich hat es dem Kind und der Wäsche nichts gemacht!“
Da trippelte ich zu der verängstigten Frau, ergriff ihre linke Hand, führte sie vor das Sofa, setzte mich zu ihr und sagte: „Mir hat es nichts gemacht.“
Meine Mutter blickte mich mit glänzenden Augen an. Einige Sekunden schien es, als wolle sie mir ein langes und schönes Geheimnis anvertrauen. Aber sie schwieg, legte bloß ihren Arm um mich und flüsterte: „Mein armer, kleiner Schutzengel.“
„Du hast dir diesen Schutzengel selber verdient!“ erwiderte ich mit erhobenem Zeigefinger. „Ich wußte es ja. Du hast ein reines Herz. Du hast viel gebetet. Du hast viele Opfer gebracht. Aber das Bügeleisen hast du nicht zum Elektriker gebracht. Jetzt mußt du es flicken lassen. Und die Wäsche ist auch kaputt. Darf ich mir immer noch etwas wünschen?“
Sie nickte und küßte mich.
„Ich will es mir überlegen“, plauderte ich. „Aber zuerst müssen wir aufräumen.“
Nach einer Weile verstaute meine Mutter das abgekühlte Plätteisen im blauen Wandschrank, stolperte dabei über mein Puppenbett und zerbrach mit dem linken Fuß meine schlafende Holzprinzessin. „Heilige Maria!“ stammelte sie. „Hoffentlich ist das kein schlechtes Vorzeichen!“
„Macht nichts! “ sagte ich und trocknete den Fußboden mit einem Lappen auf. Danach stellte ich den leeren Wassernapf auf den Ofen und schaute hinter das Ofenrohr. Knorz war beinahe verkohlt. Ich zuckte die Achseln und murmelte unhörbar: „Das ist die Strafe. Du hast dir nie einen Schutzengel gewünscht. Du hast sogar Steine nach mir geworfen.“
Als mein Vater zwei Stunden später die Wohnung betrat, machte er immer noch ein finsteres Gesicht.