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Ein Geheimnis kommt selten allein
ОглавлениеAls meine Mutter sagte, ich werde ein Brüderchen oder ein Schwesterchen bekommen, verspürte ich plötzlich, daß vor diesem Geheimnis alle anderen, selbst die längsten und schönsten, welche ich bisher nur meiner hölzernen Puppe anvertraut hatte, in einem Nu verblaßten.
Aber mit den Geheimnissen ist es wie mit den Unglücken, und ein Unglück kommt selten allein. So stürmte denn auch hier, bevor ich das erste große Geheimnis richtig begriff, ein zweites auf mich ein. Meine Mutter hatte ja nicht einfach gesagt: ,Du wirst ein Brüderchen oder ein Schwesterchen bekommen.‘ Sie sagte vielmehr: ,Jetzt, wo du doch weißt, daß du ein Brüderchen oder ein Schwesterchen bekommst.‘ Sie glaubte also, ich wisse bereits um das große Geheimnis, und dieser Glaube meiner Mutter erfüllte mich einige Sekunden lang mit ungeheurer Genugtuung, aber gleichzeitig auch mit peinigender Unruhe. Ich kam mir plötzlich wie ein Spaßmacher im Zirkus vor, der unter dem Spielzelt über ein Drahtseil tänzeln sollte, während er doch eigentlich nur zu einer ganz ungefährlichen Hanswursterei in der Manege taugt, denn ich hatte ja, bevor es mir meine Mutter sagte, gar nicht gewußt, daß ich ein Brüderchen oder ein Schwesterchen erwarten durfte.
Weil nun aber meine Mutter glaubte, ich wisse, was ich nicht wußte, und weil sie gerade dieser falsche Glaube besonders freute, wagte ich es nicht, ihr meine Unwissenheit zu gestehen und ihren Glauben und ihre Freude zu zerstören. Ich schwieg und beschloß vorerst einfach, mich des mütterlichen Glaubens möglichst bald würdig zu erweisen und das Geheimnis, wie, wann und daß man ein Brüderchen oder ein Schwesterchen bekommen kann, rasch und gründlich zu erforschen. Vorerst hatte mir meine Mutter — allerdings ohne es zu bemerken — bereits einige wichtige Anhaltspunkte geliefert. Sie hatte mir einen Weg gewiesen, den ich beschreiten mußte, falls ich ans Ziel gelangen wollte. Wenn ich nämlich die letzten Worte meiner Mutter genau überdachte — und ich bedachte sie nicht nur fieberhaft schnell, sondern auch fieberhaft genau —, so verhielt es sich mit dem Brüderchen oder Schwesterchen, das ich bekommen sollte, im Grunde genommen gar nicht so geheimnisvoll. Zu einem Brüderchen oder Schwesterchen brauchte es erstens — das stand nun endgültig fest — einen dunklen Wandschrank, zweitens einen Pfarrer, mit dem man darüber sprechen konnte, und drittens ein Plätteisen. Manchmal ging dabei auch eine Puppe kaputt, aber das war, wenn sonst nichts zerbrach, weniger wichtig. Ich brauchte jetzt bloß noch den Zusammenhang herauszufinden, der zwischen dem dunklen Wandschrank, dem Pfarrer, der zerbrochenen Puppe und dem Brüderchen oder Schwesterchen bestand, und das ganze Geheimnis war gelüftet. Im Augenblick sah ich allerdings noch keinen tieferen Zusammenhang zwischen diesen Dingen, aber ich war davon überzeugt, daß mir, mit meinen Beziehungen zu den Sonnenflecken und zusammen mit den Bekannten von der Milchstraße, die Lösung des Rätsels gelingen werde.
Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und trat unter die Türe des Glückszimmers.