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Die Reise ins Morgenland

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Die Gesichter meiner Freunde und Kameraden an der Stubenwand hatten jedoch auch einen großen Nachteil. Ihre Gesichter konnten nämlich die Augen nicht schließen. Also sahen sie alles, was sich in der Stube ereignete. Sie sahen auch jene Dinge, die ich gerne vor ihnen verheimlicht hätte. Sie sahen, wie ich mit den Beinen auf dem Boden strampelte, weil ich keine Leberwurst essen mochte. Sie sahen, wie mich mein Vater prügelte, wenn ich gelogen oder in der benachbarten Bäckerei eine Tafel Schokolade gemaust hatte. Ich mauste die Schokolade, weil ich sie anderntags unter meine Schulkameraden verteilen wollte. Ich hoffte, sie damit beschwichtigen zu können. Ich glaubte nämlich, auch meine richtigen Schulkameraden, also nicht bloß die Tapetenfreunde, wüßten jetzt alles von mir. Zuletzt schämte ich mich so vor ihnen, daß ich in den Schulpausen keine Geschichten und keine Geheimnisse mehr zu erzählen wagte und noch mehr Schokolade stahl. Die gestohlene Schokolade verbarg ich auf dem Estrich. Sobald ich hundert Tafeln besaß, wollte ich mich nachts aus dem Hause schleichen, einen Güterwagen besteigen und mit ihm ins Morgenland fahren. Ich habe es schon einmal gesagt: damals wußte ich eben noch nicht, daß ich trotz aller Fehler und trotz aller Scham so etwas wie ein König der Welt war. Es ist eine traurige Sache mit den Königen. Die wahren Könige schämen sich ihrer Krone, oder sie wissen nicht einmal, daß sie Könige sind. Andere kommen — solche, die keine Könige sind —, stehlen die Kronen der wahren Könige und setzen sie sich selber auf. Die wahren Könige müssen dann Schokolade stehlen, nachts aus dem Hause schleichen, einen Güterwagen besteigen und mit ihm ins Morgenland fahren. Aber das war vermutlich schon immer so, sonst wären ja nicht drei Könige aus dem Morgenlande, sondern drei Könige aus dem Abendlande zum Christuskind gereist. Die hatten auch gestohlen. Wie wären sie sonst zu ihren Königreichen gekommen? Aber das Schöne an den drei Königen aus dem Morgenlande war, daß sie ihre Königreiche nur stahlen, um sie einem armen, kleinen und hungernden Kind vor die Füße zu legen. Doch das ist schon lange her.

Ich fuhr natürlich nicht ins Morgenland. Mein Vater entdeckte meinen Reisevorrat. Ich mußte die Schokoladentafeln in die Bäckerei zurücktragen, erhielt aber keine Prügel. Dafür las mir mein Vater abends beim Einnachten auch keine Geheimnisse mehr vor. Ich fürchtete mich aber trotzdem. Ich fürchtete mich vor meinen Freunden und Kameraden an der Stubentapete. Mitten in der Nacht tappte ich aus meinem Schlafzimmer in die Stube und tötete sie. Ich radierte ihnen mit dem Gummi die Augen aus. Meine Eltern erfuhren nichts von dieser Tat. Heute muß ich zugestehen, daß ich in meinem ganzen Leben kein größeres Unrecht begangen habe.

In den folgenden Tagen fiel beim Essen kein Wort. Mein Vater blickte finster vor sich hin. Meine Mutter legte ihm einmal die Hand auf den Arm und flüsterte: „Er ist allein. Er hat keine Geschwister. Solche Kerle haben es nicht leicht.“

Oh, sie wußte ja nicht, wie allein ich war. Sie kannte meinen Kummer nicht. Ich mied die Stube, lernte schlecht, spielte nicht mehr und schaute stundenlang über die Brüstung des Küchenfensters in die Gasse hinab.

Auf dem weiten Platz vor der rechten Seite unseres Hauses blühten die Kastanienbäume.

Es war Frühling.

Ich merkte es nicht.

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