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Das Geheimnis der Brillenschlange
ОглавлениеEs sind nun schon viele Jahre her, seit ich diese Geschichte erlebt habe.
Ich war damals ein kleiner Junge, trug kurze Hosen und kurzgeschorenes Haar. Ich trug auch eine Brille, weil ich sonst das kleine Einmaleins nicht lesen konnte, wenn es der Lehrer mit großen Zahlen an die Wandtafel schrieb. Als ich zum erstenmal mit meinem Drahtgestell auf der Nase ins Klassenzimmer trat, schrie Knorz: „Hui, seht dort die Brillenschlange!“ Alle lachten. Ich lachte mit. Als aber das Lachen meiner Kameraden nicht aufhörte, merkte ich, daß sie sich über mich und über meine Brille lustig machten. Noch am gleichen Tag fragte ich meinen Vater, was eine Brillenschlange sei. Die Mutter flüsterte meinem Vater zu, er solle mir doch die Brillenschlange im Zoo zeigen. Da wußte ich, daß Knorz die Brillenschlange vom Zoo her kannte. Mein Vater holte ein dickes Buch, erklärte mir das Geheimnis der Brillenschlange, und weil wir schon bei den Brillen und bei den Schlangen waren, erklärte er mir auch das Geheimnis der Brillenvögel und der Klapperschlangen.
Als mich Knorz am nächsten Tag auf dem Schulplatz erblickte, rief er wieder: „Hui, seht dort die Brillenschlange!“
Ich schrie zurück: „Hört, wie die Klapperschlange klappert und plappert!“ Da lachten alle. Aber diesmal lachten sie nicht über mich. Knorz spürte das, schnitt eine Grimasse und sagte: „Ich habe die Brillenschlange im Zoo gesehen. Eine Klapperschlange habe ich dort nicht gesehen. Also gibt es keine Klapperschlange.“
Da erzählte ich meinen Kameraden das Geheimnis der Klapperschlange. Ich erzählte von Nordamerika, von den Indianern, von der Klapper an der Schwanzspitze der Klapperschlange und von der Schlange im Paradies, die gewiß auch eine Klapperschlange gewesen sei, sonst hätte sie nicht so viel und so dumm klappern und plappern können.
Von diesem Tage an lachte Knorz nicht mehr über mich und meine Brille. Er war einmal sitzengeblieben, mußte die erste Klasse wiederholen und sah schon fast wie ein Erwachsener aus. Ich fürchtete seine Fäuste. Er aber fürchtete sich vor meinen Geheimnissen, die mir mein Vater abends beim Einnachten aus einem dicken Buche vorlas. Mein Vater war arm und konnte mir darum die Brillenschlange im Zoo nicht zeigen. Aber ich wollte nicht in den Zoo, denn ich kannte jetzt ja schon viele Geheimnisse, die es dort gar nicht gab.
In den Schulpausen drängten sich meine Kameraden zu mir heran und fragten: „Kennst du ein neues Geheimnis?“ Ich nickte dann und begann zu erzählen. Einmal, als ich über ein besonders schönes Geheimnis gesprochen hatte, meinte Elfi, ein rundes Mädchen mit schwarzen Augen und dicken Zöpfen: „Er sieht eben mehr als wir. Er trägt eine Brille.“
Zwei Tage später wurde mir in der Turnstunde meine Brille gestohlen. Ich hatte sie mit dem Schulsack in den Kleiderschrank gelegt. Nach der Turnstunde tanzte Knorz auf dem Schulhausplatz einen wilden Kriegstanz. Er trug meine Brille, zeigte auf mich und schrie: „Er lügt. Ich sehe nichts. Es gibt keine Klapperschlange.“
So ist es mit den Brillen : die einen sehen damit, die andern sehen nichts. Und fast gleich ist es mit den Geheimnissen.
Die Geschichte, welche ich jetzt erzähle, ist das größte Geheimnis, das mir begegnet ist. Dieses Geheimnis ist sogar größer als das Geheimnis der Klapperschlange und der Brillenvögel. Ich habe es zuerst lange für mich behalten. Während ich es für mich behielt, wurde ich groß. Als ich groß war, erzählte ich es meinen Freunden. Aber meine Freunde waren ebenfalls groß und erwachsen. Einige besaßen glänzende Autos, andere eine wunderschöne Frau. Wieder andere waren gescheit. Keiner war so dumm wie Knorz. Aber sie glaubten mir nicht, obwohl ich auch heute noch eine Brille tragen muß. So behielt ich mein Geheimnis bei mir und beschloß zuletzt, es niemandem mehr zu erzählen.
Jetzt bin ich alt und weiß eigentlich nie recht, wann ich sterben muß. Und wenn ich mir so überlege, daß kein Mensch auf der ganzen Welt mein größtes Geheimnis kennt und daran glaubt, dann werde ich traurig. In einem solchen traurigen Augenblick fielen mir nun heute früh meine Kameraden ein, die sich einst in den Sphulpausen um mich drängten und fragten: „Kennst du ein neues Geheimnis?“ Da mußte ich an die vielen armen Kinder denken, deren Herzen heute hungern, weil es keine Geheimnisse mehr gibt. Und um dieser hungernden Kinderherzen willen beschloß ich, mein Geheimnis preiszugeben und zu erzählen.
Das Unglückszimmer, die Glückskammer und die Stube
Wir wohnten damals in einem sechsstöckigen, schmalen Haus. Auf der rechten Seite des Hauses lag ein weiter Platz mit Kastanienbäumen, deren Blüten im Frühling wie Kerzen brannten. Auf der linken Seite gab es keine Bäume und keine Lichter. Zwar hätte man in der engen, dunklen Gasse eine Menge Lichter brauchen können.
Wenn mich ein Kummer quälte, schaute ich über die Brüstung des Küchenfensters in die Gasse hinab, und wenn ich mich glücklich fühlte, lehnte ich zum Fenster im Schlafzimmer meiner Eltern hinaus und zündete in Gedanken das ganze Jahr hindurch auf allen Bäumen Lichter an. So wurde die Küche mein Unglückszimmer und das Schlafgemach der Eltern meine Glückskammer. Wer vom Unglückszimmer in die Glückskammer gelangen wollte, mußte durch die kleine Stube gehen. In der Stube aßen wir. In der Stube sprachen und schwiegen sich meine Eltern aus. In der Stube lernte und spielte ich. Und vom Stubenfenster aus konnten wir über einem niederen Haus auf der anderen Seite der Gasse — mein Vater nannte dieses Haus immer nur die Zahnlücke — weit in der Ferne einen bewaldeten Hügelzug sehen. In der Stube war alles beisammen. Sie war Unglückszimmer und Glückskammer. Einmal saß ich beim Verdämmern des Tages mit Vater und Mutter auf dem grünen Sofa und träumte durch das offene Fenster, durch den Staub und den Lärm der Stadt zu den fernen violetten Wäldern hinüber. Der liebe Gott zündete am Kastanienbaum des Himmels langsam und feierlich die Blütensterne an. Dann spürte ich, daß die Welt mit allen Indianern und Klapperschlangen zusammengenommen nicht größer sein konnte als unsere Stube.
Ich habe seither in meinem Leben noch manches Unglückszimmer und manche Glückskammer gefunden. Ich weinte seither in manchem Unglückszimmer. Ich lachte seither in mancher Glückskammer. Aber nie mehr habe ich eine Stube bewohnt, die so groß war, daß man darin vor Glück traurig und vor Traurigkeit glücklich sein durfte.
Die Stubenwände waren mit vergilbten Tapeten verklebt. Die Tapete ähnelte einer Wiese. Eine schreckliche Dürre mußte diese Wiese verheert haben, denn die braunen Strohblumen an der Wand lebten nicht mehr. Wenn von den fernen Wäldern her ein Windstoß durch das offene Stubenfenster fuhr, erwartete ich eigentlich immer, er werde das Laub an den Wänden aufwirbeln und in einer geheimnisvollen, raschelnden Spirale zum Nachthimmel emporblasen. Die Strohblumen auf der Stubentapete erinnerten mich Zudem an das schönste Kleid meiner Mutter. An diesem Kleid hing eine ähnliche verblühte Blume. Sie war mit einer Nadel unter der linken Schulter des Kleides befestigt und beschattete so gleichsam das Herz meiner Mutter, von dem ich damals noch nicht wußte, daß es ebenfalls schon seine Dürre gehabt hatte. Eines aber wußte ich damals: wenn ich mit dem Bleistift zwei winzige Kreise in das oberste Blütenblatt der Strohblumen an der Wand zeichnete, sahen sie plötzlich wie die Köpfe meiner Kameraden aus, die sich in den Schulpausen oft um mich drängten und fragten: „Kennst du ein neues Geheimnis?“ So hatte ich meine Freunde ständig bei mir. Auch Knorz war dabei. Er mußte sich allerdings mit einem Platz hinter dem Ofenrohr begnügen, aber dort konnte er sich dafür auch — ohne uns damit zu stören — seinem Geschrei und seinen Brillentänzen hingeben.
Man kann sich nun vorstellen, wie schön und wahr das Leben mit meinen Freunden und Kameraden war. Meine Eltern ahnten natürlich nicht, daß sie alle, ohne einen Rappen Mietzins bezahlen zu müssen, sozusagen auf meine Kosten mit uns in der gleichen Stube wohnten. Wenn ich arbeiten mußte, wandte ich mich an sie. Wenn ich Spielgefährten brauchte, rief ich einen von ihnen herbei. Keiner hat je meine Einladung ausgeschlagen. Ich war der König unserer Stube, und da die ganze Welt zu unserer Stube gehörte, war ich zugleich auch so etwas wie ein König der Welt. Aber das begriff ich erst später.
„Fleißkind!“ rief ich dem besten Rechner meiner Klasse an der Stubentapete zu. „Siebzehn und neunundzwanzig sind?“ Hier schaltete ich eine kleine Pause ein. Ich bin in der Schule kein starker Rechner gewesen. Aber weil ich die Lösung meiner Aufgabe von Fleißkind verlangte und nicht von Knorz, mußte mir Fleißkind aus meinem Mund die richtige Antwort geben. Ich dachte also angestrengt nach und antwortete mir daraufhin mit verstellter Stimme: „Siebzehn und neunundzwanzig sind sechsundvierzig.“ Man könnte nun annehmen, daß ich auf diese Weise allmählich ein zweites Fleißkind wurde. Aber ich war oft müde und faul. Dann wandte ich mich hinter das Ofenrohr, fragte Knorz, und Knorz antwortete etwa: „Siebzehn und neunundzwanzig sind einundvierzig. “ So blieb denn alles beim alten. Ich habe jedoch später erfahren, daß überall auf der Welt immerfort alles beim alten bleibt. Aber das war ein schlechter Trost für mich.