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Die verlorene Hand

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Hier blieb ich stehen und starrte verdattert zu der vierschubladigen Kommode hinüber, die im hintersten Winkel des dreieckigen Zimmers stand. Sie war mit einer schneeweißen, gehäkelten Decke geschmückt. Mitten auf dieser Decke erhob sich eine schlanke Frauengestalt. Sie trug ein rotblaues Gewand, das sich wie eine Abendwolke um ihren anmutigen Körper bauschte. Ihre bloßen Füße standen auf einem grünen, rotgefleckten Drachen. Ich sah nur seinen geringelten Schwanz auf der linken und sein weitaufgerissenes Maul auf der rechten Seite der Madonna, denn die untere Vorderhälfte des Standbildes wurde vom Briefkasten verdeckt. Der Briefkasten diente mir, wenn ich jeweils die Messe las, als Tabernakel. Aber ich hatte schon längere Zeit keine Messe mehr gelesen, und diese Tatsache beunruhigte mich jetzt plötzlich. Ich schaute zur Gottesmutter hinüber. Sie blickte mit gesenktem Kopf an mir vorbei. Früher schien sie den rechten Arm einem Ertrinkenden entgegenzustrecken. Aber beim letzten Umzug verlor dieser rechte Arm die Hand, und ohne die sanfte Gebärde dieser Hand bedeutete die Haltung ihres rechten Armes nur mehr soviel wie: ,Da kann ich nicht helfen. Du mußt eben besser aufpassen.‘

Dieser Vorwurf der Madonna galt mir, denn durch meine Schuld hatte sie beim letzten Umzug, als ich die Gottesmutter in die neue Wohnung hinauftrug und am Treppengeländer damit anstieß, die rechte Hand verloren. Da sah man jetzt auf einmal, daß die Himmelskönigin aus Gips war.

„Wer hat der Gottesmutter die Hand abgeschlagen?“ schrie mein Vater, als er das Unheil am Abend des Umzuges bemerkte.

Ich log: „Ein Arbeiter vielleicht.“

„Da zahlt man eine Menge Geld, damit sie einem die Wohnung ruinieren“, tobte mein Vater. „Das wird wohl so ein Ungläubiger gewesen sein. Wenn ich den Kerl hier hätte! Er müßte sie kniefällig um Verzeihung bitten. Seht her!“ Mein Vater rollte die Augen und streckte die Hand nach der beschädigten Statue aus: „Wo kein Glaube ist, da ist auch keine Ehre. Schamlose Trunkenbolde sind das, die nicht einmal wissen, wie man eine Dame behandelt!“

Jetzt hustete meine Mutter laut. Mein Vater hielt inne, musterte uns mißtrauisch, fuhr sich dann mit der Hand über die Stirne, lächelte verlegen und schwieg. Aber sein Schweigen kam zu spät. Jedes Wort hatte mich wie ein Schlag getroffen. Am folgenden Tag schloß ich mich, während die Mutter Einkäufe besorgte, in das elterliche Schlafgemach ein, kniete vor der Madonna nieder und betete: ,Heilige Maria! Du weißt es! Ich bin kein Ungläubiger! Ich bin kein Trunkenbold! Ich glaube an Gott. Ich weiß also auch, wie man eine Dame behandelt. Aber ich habe bis gestern noch nie eine Dame das Treppenhaus hinaufgetragen. Du bist die erste Frau, die ich auf meinen Armen trug. Wenn ich einmal groß bin, wird das viel besser gehen. Verzeih mir! Ich glaube ja nicht nur an Gott, ich glaube auch an dich! Mach, daß ein Wunder geschieht. Meinem Vater zuliebe. Mach, daß du morgen früh wieder eine ganze Hand hast. Das ist doch kein schweres Wunder. Dieses Wunder ist viel leichter als das andere, um das ich dich früher immer gebeten habe. Aber ich verspreche dir, daß ich dich nie mehr um das schwere Wunder bitten werde, wenn du das leichte vollbringst. Ich werde nie mehr um ein Brüderchen oder um ein Schwesterchen bitten. Ich bin zwar kein Ungläubiger. Aber so fromm bin ich nun auch wieder nicht, daß ich mir ein Brüderchen oder ein Schwesterchen von dir erbitten dürfte. Ich erbitte mir bloß eine Hand für dich. Eine Hand aus Gips.‘

Die Gottesmutter regte sich nicht. Nur ihr rechter Arm antwortete: ,Da kann ich nicht helfen. Du mußt eben besser aufpassen.‘

Das Wunder blieb aus. Ich kam mir allmählich wie ein richtiger Ungläubiger vor und wagte darum auch nicht mehr, die Messe zu lesen. Aber jetzt, wie ich so verdattert unter der Türe des Glückszimmers stand und an die Geschichte von der verlorenen Hand der Gottesmutter denken mußte, erleuchtete mich plötzlich ein himmlischer Gedanke. ,Da kann ich nicht helfen. Du mußt eben besser aufpassen‘, sagte der rechte Arm der Gottesmutter. Und ich erwiderte ganz still bei mir: ,Natürlich muß ich besser aufpassen. Ich bin kein Ungläubiger. Ich bin kein Trunkenbold. Aber ich bin ein Lügner. Ich habe, damals, vor vielen, vielen Monaten, als wir hier einzogen, mein Vergehen aus Angst vor dem Vater auf die Arbeiter abgewälzt. Du hast das Wunder aus Gips nicht gewirkt, weil ich ein Lügner bin. Aber du hast das große Wunder aus Fleisch und Blut gewirkt, du schenkst mir ein Brüderchen oder ein Schwesterchen, weil du mich auch jetzt, selbst mit Deinem verstümmelten Arm, vor dem Ertrinken retten willst.‘ Ich stand immer noch unter der Türe des Glückszimmers. Die Stimme meiner Mutter schreckte mich aus meinen Erinnerungen auf.

„Woran denkst du?“

Ich räusperte mich, grübelte einen Augenblick über den Zusammenhang zwischen dem dunklen Wandschrank, dem Pfarrer, dem Plätteisen und der zerbrochenen Puppe und sagte dann: „Es ist schon gut, daß der Pfarrer nicht arbeiten muß.“

Das Buch der Geheimnisse

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