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Der blaue Wandschrank

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In unserer Stube gab es neben der Tapete und dem grünen Sofa noch einen runden Tisch, drei Stühle, zwei Türen und, schräg in eine Ecke hineingebaut, einen blauen Wandschrank. Ich weiß nicht, warum ich die Farbe des Wandschranks behalten, die Farbe der Türen hingegen vergessen habe. Vermutlich waren die Türen ebenfalls blau gestrichen, aber sie bedeuteten nicht soviel für mich wie der Wandschrank. Hinter den Türen verbargen sich dunkle Korridore, das Unglückszimmer, die Glückskammer und mein Schlafgemach. Der unterste Teil des Wandschranks barg meine Spielsachen. Auf dem ersten Holzbrett lag das Plätteisen meiner Mutter, auf dem zweiten standen einige dicke Bücher mit goldblauen Einbänden. Ich konnte diese Bücher nur erreichen, wenn ich vor dem offenen Wandschrank auf einen Stuhl kletterte.

Ich träumte viel, spielte selten und meist nur bei schlechtem, regnerischem Wetter. Zum Träumen brauchte ich eigentlich bloß das offene Stubenfenster, den blauen Himmel und die violetten Wälder. Am Morgen träumte ich von einem Lift, mit dem ich zur Sonne hinauffuhr. Hier setzte ich mich für gewöhnlich auf einen schwarzen Sonnenfleck, buk goldgelbe Fastnachtskrapfen, spießte sie an einen Sonnenstrahl und schickte ihn mit dem luftigen Gebäck durch eine weiße Wolke. Von dort aus gelangten die Leckereien fein gezuckert auf die blitzenden Teller, welche die Mutter auf den Stubentisch legte. Der Vater band eben das Mundtuch um den Hals, schmunzelte und sagte dann: „Wo nimmst du bei meinem schäbigen Lohn bloß das Geld für diese Herrlichkeiten her?“

Da strahlte meine Mutter und antwortete: „Ja, dein Bub! Wenn du wüßtest, was das für ein Tausendkünstler ist! “

„Er hat doch die Krapfen nicht in der Bäckerei gestohlen?“ fragte mein Vater mit drohender Stimme.

An dieser Stelle wachte ich meistens aus meinem Traum auf.

Am Nachmittag träumte ich von einem Wald und von einem schlanken Baum, in dessen Krone ich mir eine Hütte erbaut hatte. Wenn ich die Hütte betrat, wuchs der Baum in einer Sekunde hoch über den Mond hinaus. Meine Hütte stand plötzlich an einer Biegung der Milchstraße. Ich trug eine goldene Uniform und eine silberne Mütze. Über meiner Lorbeerhütte stand „Zollamt“, auf meiner Mütze „Mane, Thekel, Phares“. Unaufhörlich kamen Leute am Fenster meiner Hütte vorbei: Chinesen, Neger, Weiße und Indianer. Die Chinesen tauschten bei mir Schlitzaugen gegen runde Negeraugen, die Neger ihre Wuschelköpfe gegen langes Indianerhaar, die Indianer ihre Bogennasen gegen chinesische Stupsnasen um und verschwanden dann fröhlich hinter der Straßenbiegung. Nur die Weißen fanden nichts, das sie gegen ihre ratternden und rauchenden Flugzeuge und Autos eintauschen konnten. Ein grün gekleideter Polizist mit rubinroten Handschuhen schrie ihnen zu: „Umkehren. Ihr verderbt mir mit eurem Gestank die Milch!“ Hinter dem Polizisten kauerten kleine magere Kinder, schlürften Rahm aus der Milchstraße und sahen nach jedem Schluck rosiger aus. Zuletzt waren sie kugelrund, leuchteten wie die Handschuhe des Polizisten und rollten lachend um die Biegung. Sehr selten kamen in Lumpen gekleidete Männer und Frauen bei mir vorbei. Sie trieben ein Schweinchen vor sich her. Der Polizist riß dann jeweils ein Lorbeerblatt aus meiner Hütte und steckte es den Vagabunden ins Haar. Sobald das geschehen war, begann die Milchstraße zu singen und zu sieden. Sie hob sich, wuchs, schäumte, dampfte, und die trinkenden Kinder schrien begeistert: „Sie siedet. Sie siedet über den Straßenrand hinaus. Sie wird den ganzen Fußboden des Himmels bedecken. “

Am Abend träumte ich fast immer von einer elektrischen Eisenbahn. Sie fuhr zwischen den Stationen der Sterne hin und her. Manchmal, besonders Mitte August und Mitte November, sah ich sie sogar sekundenlang über den schwarzblauen Nachthimmel flitzen. Fleißkind, dem ich einmal davon erzählte, lächelte mitleidig und meinte: „Das ist keine Eisenbahn. Das sind Meteore.“ Zugegeben: Fleißkind wußte viel. Aber: wer zuviel weiß, weiß keine Geheimnisse mehr. Ich glaubte an die elektrische Eisenbahn. Kein Mensch auf der ganzen Welt hat je mit einer so großen Eisenbahn gespielt.

Das waren meine Träume vor dem offenen Stubenfenster, unter dem blauen Himmel und beim Anblick der violetten Wälder hinter der Zahnlücke. Wenn sich nun der blaue Wandschrank des Himmels schloß, wenn sich Wolken, Nebel und Dunst zwischen mich, den Himmel und die Wälder legten, blieb nur noch der blaue Wandschrank in der Stube. Der blaue Wandschrank wurde mein Regenhimmel und mein Regenwald.

Das Buch der Geheimnisse

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