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Es zischt im Steckkontakt

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Als ich an einem grauen Regentag aus der Schule heimkehrte und die Stubentüre öffnete, rief meine Mutter: „Paß auf die Schnur auf!“

Ich bückte mich, kroch unter der Leitung hindurch und küßte meine Mutter. Sie stand vor dem Tisch, den sie zum Plätten hergerichtet und mit weißen Tüchern bedeckt hatte.

Ich setzte mich auf das Sofa und atmete begierig die feuchte, nach Wachs, Stärke und frischer Wäsche duftende Luft ein. Eine wohlige Wärme erfüllte das dämmerige Zimmer.

„Hast du Aufgaben?“ fragte meine Mutter ohne aufzublicken und führte das glänzende Bügeleisen sanft und lautlos über eine Hemdenbrust.

„Nein.“

Die Mutter schwieg. Manchmal tauchte sie einen Wedel in den Napf und bespritzte ein Wäschestück mit Wasser. Wenn sie dann mit dem heißen Plätteisen über die angefeuchteten Tuche glitt, hörte man ein geheimnisvolles Zischen. Jetzt zischte es auch im Steckkontakt. Die schwarzen Fäden, welche die Drähte der Stromleitung isolierten, waren zerfetzt.

„Das ist gefährlich, Mutter!“ sagte ich und deutete auf die Schnur.

Sie nickte: „Ich sollte das Bügeleisen schon lange zum Elektriker bringen. “

Ein Windstoß rüttelte am Fenster und peitschte den Regen an die Scheiben. Tausend Tropfen kugelten durcheinander. Das waren Tränen, welche die Schutzengel über böse Menschen weinten. Ich schaute rasch hinter das Ofenrohr.

Dann fragte ich: „Hat der Vater immer noch keine Arbeit?“

Ich dachte an die guten und bösen Menschen, welche jetzt auf den Straßen herumirren mußten, und hätte sie am liebsten alle zu uns in die Stube gebeten. Dann wäre wohl auch mein Vater nach Hause gekommen. Ich wußte nämlich aus belauschten Gesprächen, daß er seine letzte Stelle vor einigen Tagen verloren hatte und sich auf der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz befand.

Meine Mutter stellte das Plätteisen auf den Untersatz, kehrte mir den Rücken zu und fuhr sich mit dem Taschentuch über das Gesicht. Sie sah jetzt wie ein weinender Schutzengel aus.

„Willst du nicht spielen?“ fragte sie. Ihre Stimme klang dünn, leise und ein wenig heiser. Dann fügte sie noch hinzu: „Dein Vater ist ein fleißiger Mann.“

Ich träumte zum blauen Wandschrank hinüber. Seine Türe war geöffnet.

„Ich weiß schon“, brummte ich. „Elfis Vater ist auch ein fleißiger Mann. Aber er hat dennoch keine Arbeit.“ Ich hörte meine Stimme. Diese Stimme und der Anblick des blauen Wandschrankes flößten mir Mut ein. „Heutzutage ist das nun einmal so“, fuhr ich ruhig und beruhigend weiter. „Der liebe Gott wird wissen, wozu das gut ist.“

Diesen Satz hatte ich von meiner Mutter gelernt. Wenn sie krank war und wochenlang liegen mußte, sagte sie zu meinem Vater: „Der liebe Gott wird wissen, wozu das gut ist.“ Ich verstand zwar nicht, was meine Mutter mit diesen Worten meinte. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wozu eine kranke Mutter oder ein arbeitsloser Vater gut sein kann. Ich dachte dann jeweils an Elfi. Sobald ich an Elfi dachte, fiel mir eine Antwort auf diese unerklärlichen und geheimnisvollen Fragen ein. Ich habe bis heute keine bessere Antwort darauf gefunden. Sie lautet: ,Der liebe Gott wird wissen, wozu das gut ist. Er sieht eben mehr als wir. Er trägt eine Brille.‘

Meine Mutter kehrte sich wieder zum Bügeltisch und griff nach dem Plätteisen.

Ich trat vor den blauen Wandschrank, holte eine steife, hölzerne Puppe, einige Stoff-Fetzen und ein mit Stroh gefülltes Kissen daraus hervor. Die hölzerne Puppe bestand aus Latten von ungleicher Länge, die mein Vater kreuzweise übereinander genagelt, mit einem dunkelblauen Kleidchen und oben mit einem runden pausbackigen Kartonscheibengesicht versehen hatte. Diese Puppe bettete ich sanft, als ob sie aus Glas wäre, auf das Kissen und deckte die kleine Vogelscheuche mit Stoff-Fetzen zu. Dann kniete ich auf den Fußboden und bezeichnete Stirne, Mund und Herz des hölzernen Kindes mit einem Kreuze.

„Hast du zu Nacht gebetet?“ flüsterte ich. „Wer das Nachtgebet vergißt, kommt in die Hölle. Man verdurstet dort. Auch das Wasser, welches aus den Röhren des Höllenbrunnens fließt, ist lauter Feuer. So wächst der Durst, wenn man aus dem Höllenbrunnen trinkt, und der Durst wird immer größer. Schließlich bist du nur mehr Durst und zuletzt selber Feuer. Das Höllenfeuer brennt und hätte längst die ganze Welt verbrannt, wenn nicht die Schutzengel aller Menschen, die zur Hölle fahren, immer wieder weinen müßten. Dann regnet es. Der Regen löscht das Höllenfeuer, bevor es durch den Erdboden zu uns hinaufstößt. Nur über den feuerspeienden Bergen weinen keine Engel. Denn die Engel, welche einst über jenen Bergen wohnten, durch die heute das Höllenfeuer aufstößt, sind selber Teufel geworden und in die Hölle hinuntergefallen. Hast du schon zu deinem Schutzengel gebetet?“

Da meine Puppe nicht reden und darum auch nicht antworten konnte, fuhr ich nach einer Weile fort: „Ach, du schläfst schon. Schlafe nur. Du bist ja so allein. Du hast keine Geschwister. Solche Kerle haben es nicht leicht. “

Das Buch der Geheimnisse

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