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Wie Knorz mein Freund wurde
ОглавлениеIch bin jetzt ein alter Mann. Die alten Leute wissen es: das Leben bringt dunkle und heitere Stunden. Den Jungen ist damit nicht geholfen. Sie sehen nie über die dunklen und über die heiteren Stunden des vollen Lebens hinweg. Sie wissen nicht, daß das Leben genau so rund wie die Erde ist und daß die Sonne immer nur auf der einen Hälfte des Lebens scheint. Aber das Leben dreht sich, und selbst am Nord- und Südpol des Lebens dauert die Nacht nicht ewig.
Ich wurde krank, fieberte, und als ich nach einigen Wochen zum erstenmal nach meiner Genesung mit gläsernem Gesicht in die Stube wankte und auf dem Sofa ruhte, bemerkte ich hinter dem Ofenrohr das Gesicht meines Kameraden Knorz. Ich hatte in der Nacht des Todes meine besten Freunde umgebracht, ihn jedoch, der mir soviel Kummer bereitete, hatte ich verschont und vergessen, weil er sich hinter dem Ofenrohr versteckt hielt. Er lebte und klagte mich an: „Ich bezeuge und beschwöre ...“ schrie er mit weitaufgerissenen Augen. Aber ich ließ ihn schreien und brachte es nicht über mich, ihm etwas anzutun. Ich wollte nicht mehr allein sein, redete Knorz zu, tröstete ihn, versprach, ihm künftig meine Hefte auszuleihen und sein bester und einziger Freund zu werden.
Ich hielt dieses Versprechen, zog mich, als ich wieder zur Schule ging, endgültig von meinen ehemaligen Kameraden zurück und schloß mich immer enger an Knorz an. Knorz wunderte sich zuerst über meine unerwartete Anhänglichkeit, verriet jedoch mit keinem Wort, daß er die Ereignisse jener Schreckensnacht kannte. Meine Dankbarkeit nahm überschwengliche Formen an. Ich lieh ihm Spielsachen und verlangte sie nicht mehr zurück. Ich forderte nichts von Knorz, er aber nahm meine Gunstbezeigungen freudig entgegen. Er schien mich wirklich zu lieben.
Eines Tages rief Knorz in der Schulpause alle Kameraden herbei. Wir standen neben dem Brunnen, vor dem ich früher jeweils meine Geheimnisse erzählt hatte. Ich glaube mich noch daran erinnern zu können, daß an diesem Tage kein Wasser aus der rostigen Röhre floß. Ein seltsames, unheimlich glänzendes Feuer brannte in den Augen meines Freundes. Ich fürchtete, er werde nun die Geschichte der Mordnacht auf der Stubentapete erzählen: „Ich bezeuge und beschwöre . . . “ Er aber lachte nur und sagte: „Gib jetzt doch endlich zu, daß du gelogen hast. Es gibt keine Klapperschlange.“
Ich atmete auf und antwortete: „Natürlich habe ich gelogen. Es gibt keine Klapperschlange. “
Erst als ich die Schmährufe meiner Klassengenossen hörte, wurde mir klar, was ich angestellt hatte. Ich eilte schutzsuchend zu Knorz. Der sprang über den Schulplatz, warf Kiesel nach mir und jubilierte: „Er lügt. Er lügt. Es gibt keine Klapperschlange. “ Meine Klassengefährten umringten Knorz und krähten mit ihm: „Er lügt. Er lügt. Es gibt keine Klapperschlange.“ Ich schluchzte auf und verbarg mein Gesicht in den Händen.
Da legte jemand den Arm um meine Schultern und meinte: „Natürlich muß es Klapperschlangen geben. Warum soll es keine Klapperschlangen geben. Es gibt ja so viele Schlangen. “ Ich hob den Kopf. Elfi, das runde Mädchen mit den dicken Zöpfen, stand vor mir und schaute mich mit großen, schwarzen Augen an.
Die andern lachten Elfi aus. Aber plötzlich verstummte der Lärm. Die hohe, hagere Gestalt eines Lehrers — es war nicht unser Klassenlehrer — trat mitten unter uns. Er trug ein Glas in der Hand. Das Glas war mit einer gelben, aber durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt. In der Flüssigkeit lag, zusammengerollt, ein riesiger Wurm.
„Ich glaube, dieser Streit muß endlich entschieden werden“, begann er. „Euer Geschrei dringt bis ins Lehrerzimmer hinauf. Natürlich gibt es Klapperschlangen.“ Elfi ergriff meine Hand und drückte sie. Der Lehrer fuhr fort: „Es gibt sogar mehr als zwei Dutzend Klapperschlangenarten. Eine davon, ein Klapperschlangenkind sozusagen, seht ihr hier. Ihr werdet später noch mehr darüber erfahren. Seid ihr jetzt zufrieden?“
Ich war zufrieden. Mein Leben drehte sich. Die Sonne ging auf. Am gleichen Abend saß ich, diesmal allein, beim Verdämmern des Tages auf dem Stubensofa und träumte, wie einst, zu den fernen Wäldern hinüber. Der liebe Gott beugte sich aus seinem hochgelegenen Lehrerzimmer und zündete am Kastanienbaum des Himmels langsam und feierlich die Blütensterne an. Nach einer Weile setzte sich auch mein Vater zu mir.
„Haben die Sterne auch Namen?“ fragte ich.
„Gewiß“, antwortete mein Vater.
„Wer hat die Sterne getauft?“
„Die Menschen haben sie getauft. Jeder Stern hat einen Vornamen. Einige Sterne zusammengenommen haben einen Familiennamen. Jede Sternfamilie bildet ein Sternbild. Es gibt beispielsweise ein Sternbild des Drachen, ein Sternbild des Hasen und, ganz in der Nähe des Äquators, ein Sternbild der Schlange.“