Читать книгу Das Tal der Feuergeister - Franziska Hartmann - Страница 11

ACHT

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Eine Stunde später saß ich in meinem weißen langärmligen Nachtkleid auf einem Holzbett. Mein Zimmer lag dem Badezimmer direkt gegenüber und war winzig. Neben dem Bett passten nur ein kleiner Schreibtisch mit Stuhl und eine Kommode hinein. Alles stand so eng beieinander, dass ich vom Bett aus beinahe die Schubladen der Kommode, die an der Wand gegenüber stand, aufziehen konnte und ich mir meinen Kopf am Schreibtisch stoßen würde, bevor ich aus dem viel zu schmalen Bett fiel. Ich stellte mir vor, wie ich dabei die Kerze, die auf dem Tisch stand, zum Umfallen bringen und das gesamte Haus in Brand stecken würde. Ich durfte auf keinen Fall vergessen, die Kerze vor dem Einschlafen auszupusten.

Soweit ich gesehen hatte, befanden sich im Keller insgesamt fünf Räume. Zwei auf jeder Seite des Ganges und einer an dessen Ende. Ich war nicht wenig überrascht und beeindruckt, wie viel Platz die unscheinbare Hütte in sich verbarg.

Der Juckreiz auf meiner Haut hatte nach dem Bad spürbar nachgelassen und die Stellen leuchteten nicht mehr knallrot, sondern schienen etwas zu verblassen. Nun starrte ich in die orangegelb flackernde Kerzenflamme. Ich hatte mir seltsamerweise vorher nie Gedanken über Cuinns Geschichte gemacht. Doch jetzt ging mir die Frage nicht mehr aus dem Kopf: Was war in der Vergangenheit passiert, dass Cuinn so schlecht auf die Feuergeister zu sprechen war? Schon als Lou ihm gesagt hatte, dass er die Eier bei den Feuergeistern finden würde, hatte er entsetzt gewirkt. Damals war es mir nicht so sehr aufgefallen, aber mit meinem neuen Wissen war es rückblickend nicht zu übersehen.

Ich merkte, wie meine Augenlider schwer wurden. Ich sollte mir nicht den Kopf über Dinge zerbrechen, bei denen ich allein eh nicht weiterkam. Ich würde Cuinn fragen müssen oder er würde es mir irgendwann selbst erzählen. Ich löschte das Kerzenlicht, legte mich hin und kuschelte mich in die warme Wolldecke. Wie ich es vermisst hatte, ein Dach über dem Kopf zu haben und in einem richtigen Bett zu schlafen. Das kleine Zimmer mit der spärlichen Ausstattung kam mir vor wie eine Luxussuite. So war es auch nicht verwunderlich, dass ich binnen kürzester Zeit tief und fest schlief.

Ich wachte wieder auf, als mir der Duft von frischem Brot in die Nase stieg. Ich räkelte und streckte mich im Bett und blieb noch ein paar Minuten liegen, um die weiche Unterlage und die kuschelige Decke zu genießen. Dann schälte ich mich aus dem Bett und stand auf. Ich strich mit den Fingern über den grünen Leinenstoff des Kleides, das Kayla mir bereitgestellt hatte und nun auf dem kleinen Schreibtisch vor mir lag. Die Frau musste wirklich eine Schwäche für die Farbe Grün haben. Ich streifte mein Nachtzeug ab und zog das grüne Kleid über. Es war schlicht, ohne Zierde und ich verbrachte eine Weile mit den Schnürungen an den Seiten und den Unterarmen. Ich huschte kurz ins Bad, um mir das Gesicht zu waschen und die Haare zu bürsten, ehe ich ausgeruht wie lang nicht mehr die Treppe hinauf hüpfte.

„Guten Morgen, Katja.“ Kayla füllte grad frisch gebackene Brötchen in einen Brotkorb, schenkte mir ein fröhliches Lächeln und trug die Brötchen dann zum bereits gedeckten Tisch. Cuinn saß schon dort. Er hatte das von der Aquare zerschlissene Hemd gegen ein heiles ausgetauscht. Dunkle Ringe umrahmten seine Augen und seine Haut war kränklich blass. Offensichtlich hatte er nicht halb so gut geschlafen wie ich.

„Guten Morgen“, gab ich zurück und setzte mich ebenfalls. Auf dem Tisch standen Butter, Marmelade, Honig, Käse und eine Kanne Tee bereit. Cuinn reichte mir den Brötchenkorb und ich griff zu.

„Du siehst aus, als hättest du die Nacht durchgemacht“, erwähnte ich, während ich mein Brötchen aufschnitt.

Kayla gesellte sich zu uns und schenkte uns Tee ein.

„Und du, als hättest du dich gut erholen können“, entgegnete Cuinn.

„Ja, wobei es eigentlich ein Wunder ist, dass ich nicht von geköpften Babys und Scheiterhaufen geträumt habe“, sagte ich und lachte.

Mein Lachen verstummte, als Cuinn mich entgeistert anstarrte.

„Ich… das Buch“, stammelte ich und deutete auf das Bücherregal hinter mir. „Die Geschichte Glenbláths. Ich habe nur etwas darin herumgeblättert.“ Plötzlich fühlte ich mich scheußlich. Kaum war ich aufgestanden, hatte ich schon wieder die Stimmung ruiniert.

„Ich erzähle dir später mehr darüber“, antwortete Cuinn nach einer Weile.

Damit war das Thema fürs Erste vom Tisch. Trotzdem hatte ich ein schlechtes Gewissen und ich suchte hektisch nach anderem Gesprächsstoff, um die unangenehme Stille zu durchbrechen. „Du hast viele Bücher über Medizin und Kräuterkunde, Kayla“, merkte ich an. Ich hatte weder vom einen noch vom anderen Ahnung und hoffte, dass Kayla nun nicht auf ein tiefsinniges Gespräch über Heilpflanzen und menschliche Anatomie hoffte. „Bist du so etwas wie eine Ärztin?“

An Kaylas strahlenden Augen erkannte ich, dass sie sich über mein Interesse ihr gegenüber freute. „Ich bin das, was die meisten Kräuterhexe nennen“, antwortete sie. Ich schaute kaum merklich kurz zu Cuinn, der unschuldig die Schultern hochzog. Es gab also tatsächlich Hexen. Doch wenn sie alle freundlich und fürsorglich wie Kayla waren, besorgte mich das keineswegs.

„Leben alle Kräuterhexen in solch“, ich ließ meinen Blick durch den Raum gleiten, über die unzähligen Bücher und zur Treppe, die in den Keller mit fünf weiteren Räumen führte, „ziemlich gut ausgestatteten Häusern?“

Kayla lächelte. „Nicht zwingend. Fast alles, was du hier siehst, habe ich von meinen Eltern geerbt. Früher waren Kräuterhexen als äußerst fachkundige Heiler in der Stadt sehr angesehen. Meine Vorfahren haben eine gute Bezahlung für ihre Arbeit erhalten und konnten sich damit ein sehr angenehmes Leben leisten. Aber ich wollte niemals in die Stadt. Ich habe hier alles, was ich brauche und kann hier ebenso gut meiner Berufung nachgehen. Mir wurde auch einst angeboten, im Tal der Feuergeister als Heilerin tätig zu werden. Doch ich widme mich lieber den kleinen Wesen außerhalb, die ebenfalls Hilfe benötigen.“ Sie musste lachen. „Meistens muss ich mich um wütende, streitsüchtige Gnome kümmern, die sich mal wieder gegenseitig die Köpfe eingeschlagen haben. Im wahrsten Sinne des Wortes.“

Wie Kayla so glücklich und erfüllt von ihrer Aufgabe berichtete, wurde mir richtig warm ums Herz.

„Aber nun zu dir“, lenkte Kayla das Gespräch auf mich. „Du hast mir noch viel zu wenig über dich erzählt. Wie lebst du und was machst du gerne?“

Ich überlegte, ob ich ihr etwas Spannendes aus meinem Leben berichten könnte, doch alles, was mir einfiel, schien mir mehr als belanglos. Dennoch erzählte ich ihr von dem kleinen Reihenhaus, in dem ich mit meinen Eltern lebte, von meiner Liebe zur Musik und meinem Wunsch, zu verreisen und die Welt zu sehen. Bei Letzterem hatte ich wohl über das Ziel hinausgeschossen: Ich war bereits dabei, eine fremde Welt zu erkunden.

Als wir uns für den Tag gestärkt hatten, packte Kayla uns die übrig gebliebenen Brötchen, Käse und Honig in einen Rucksack. Ich bekam von ihr auch eine Flasche, sodass ich nun meinen eigenen Wasservorrat mit mir herumtragen konnte. Außerdem stattete sie mich noch mit einem alten grauen Wollumhang aus, damit ich in einer weiteren Nacht unter freiem Himmel nicht frieren musste. Ihre Herzlichkeit und Fürsorglichkeit rührten mich so sehr, dass ich am liebsten länger geblieben wäre. Doch Cuinn trat bereits ungeduldig von einem Fuß auf den anderen und wäre wohl am liebsten schon vor dem Frühstück aufgebrochen. Als wir vor der Haustür standen, drückte Kayla Cuinn fest an sich.

„Es war schön, dich wiederzusehen. Pass gut auf dich auf und komm bald wieder!“ Sie löste sich von Cuinn und gab dann auch mir eine Umarmung. „Es hat mich gefreut, deine Bekanntschaft zu machen. Ich hoffe, du kannst bald wieder in deine Heimat zurückkehren.“

Mit diesen Worten verabschiedete sie sich und winkte uns noch kurz zu, bevor wir uns von ihr abwandten, um unsere Reise durch den Wald fortzusetzen.

Die Luft war frisch und angenehm kühl, hier und da fielen ein paar Sonnenstrahlen durch das dichte Blätterdach. Ich war satt und hatte gut geschlafen – mehr Ansprüche hatte ich mittlerweile gar nicht mehr, sodass ich munter neben Cuinn herstapfte.

„Du wolltest mir über Glenbláth erzählen“, erinnerte ich Cuinn, nachdem wir einige Minuten schweigend durch den Wald gelaufen waren. Am liebsten hätte ich ihn mit einem Haufen Fragen bombardiert. Gab es hier Hexenverbrennungen? Was hatte es mit den geköpften Babys auf sich? Wurden hier etwa unschuldige Neugeborene irgendwelchen zweifelhaften Gottheiten geopfert? Doch ich hielt es für sensibler, diese forschen Fragen für mich zu behalten und abzuwarten, was Cuinn mir von sich aus erzählen würde.

„Ich möchte nicht, aber ich denke, du wirst keine Ruhe geben, bevor ich es tue“, entgegnete Cuinn. „Du fragst dich vermutlich, ob in Glenbláth wirklich Neugeborene getötet und Menschen verbrannt werden.“

„Ja“, gab ich zu. „Ich finde die Vorstellung recht… grausam. Wieso würde man so etwas tun?“

„Aus Angst“, antwortete Cuinn. „Es gab mal eine Zeit, da lebten Menschen und magische Wesen friedlich miteinander. Sie unterstützten sich gegenseitig, waren befreundet, teilten sich ein Haus. Sie verliebten sich, gründeten Familien. Aus diesen Beziehungen gingen viele Halbblute hervor.“

„Du meinst, sowas wie zwischen dir und Lou war normal?“, fragte ich und versuchte erfolglos meine Verblüffung zu verbergen. Im selben Moment kam mir wieder in den Sinn, dass Cuinn genau genommen nicht einfach nur ein Mensch war. „Aber woher kommt dann die Angst der Menschen vor den magischen Wesen?“

Cuinn schüttelte den Kopf. „Man sagt, ein Feuergeist habe das Königshaus angegriffen. Man sagt, die magischen Wesen seien von Anfang an auf die Macht über die Menschen aus gewesen. Doch ich bezweifle das stark. Was interessiert die magischen Wesen Reichtum und Macht, wenn sie einen ganz Wald voller kleiner Wunder haben?“

Ich verstand. Die magischen Geschöpfe hätten so viel mehr als das langweilige Leben der Menschen haben können. Und trotzdem hatten sie ihr Leben mit ihnen geteilt. Sich sogar in sie verliebt.

„Die Bilder aus dem Buch, die du gesehen hast…“

Ich wurde wieder hellhörig.

„Es wurde den magischen Wesen verboten, in die Nähe der Menschen zu kommen. Sie wurden aus der Stadt vertrieben. Doch die meisten Halbblute blieben zurück. Die Menschen hatten Angst vor ihnen. Sie galten als Missgeburten, Risikofaktoren. Jedes Kind wurde auf seine Eltern geprüft und jedes Halbblut getötet. Verbrannt, ertränkt, geköpft. So mancher Säugling war bereits im Mutterleib zum Tode verurteilt.“

Ich erschauerte und mir fehlten die Worte. Gleichzeitig schämte ich mich in Grund und Boden dafür, dass ich am Frühstückstisch noch darüber gelacht hatte. Im nächsten Moment kam mir ein weiterer entsetzlicher Gedanke, der in mir ein noch größeres schlechtes Gewissen entfachte. Cuinns anscheinend schwere Vergangenheit, über die er nicht reden wollte, seine entsetzte Reaktion am Morgen, seine magischen Fähigkeiten – all das ließ mich zu einer Schlussfolgerung kommen. „Bist du ein Halbblut?“

Ich sah, wie Cuinn kaum merklich zusammenzuckte. Ich hatte recht. Und unweigerlich schwirrten neue Fragen durch meinen Kopf. Was war Cuinn eigentlich? Halb Mensch und halb was? Was war ihm wohl in der Stadt zugestoßen? Hatte er auch verbrannt werden sollen? Wie war er entkommen? Ich wollte so viel fragen, aber traute mich nicht, irgendetwas davon auszusprechen.

„Meine Mutter war ein Mensch. Meinen Vater kenne ich nicht“, erzählte Cuinn.

Also wusste er vielleicht selbst gar nicht, was er war?

„Aber“, fuhr er fort, „ich wollte dir von Glenbláth erzählen und nicht von mir. Halbblute haben in der Regel keine schönen Geschichten zu erzählen. Wenn sie überhaupt noch welche erzählen können.“

Damit gab er mir mal wieder deutlich zu verstehen, dass er nicht weiter mit mir darüber reden wollte. Ich schluckte all meine Fragen endgültig hinunter und folgte ihm wieder stumm durch Geäst und Gestrüpp. Das ewige Schweigen ging mir auf die Nerven. Ich wollte mich mit ihm unterhalten, um mich von meinen schmerzenden Füßen abzulenken und die Langeweile zu vertreiben, aber allein Cuinns starr nach vorn gerichteter Blick verriet mir schon, dass er nicht zum Plaudern aufgelegt war. Als ich um die erste Pause des Tages bat, willigte Cuinn widerstandslos ein. Entweder er hatte sich mittlerweile damit abgefunden, dass ich mehr Pausen brauchte als er oder er musste heute selbst nach einer Nacht ohne Schlaf gut mit seinen Kräften haushalten. Ich breitete meinen Umhang auf dem moosbewachsenen Boden aus und wir setzten uns beide darauf. Cuinn öffnete den Rucksack, reichte mir eine Wasserflasche und bot mir Brötchen und Käse an. Ich war gerade etwas zur Ruhe gekommen und begann, unser kleines Mittagspicknick zu genießen, da sprang Cuinn völlig unerwartet auf und blickte sich hektisch um.

„Was ist los?“, fragte ich verwundert.

„Sag gleich am besten einfach nichts“, antwortete Cuinn und sah wachsam zwischen den Bäumen hindurch.

Als würde ich sonst viel dazu kommen zu reden. Vorausschauend packte ich unsere Vorräte wieder ein und band den Rucksack fest zu. Ich kam neben Cuinn auf die Beine, klopfte meinen Umhang aus und warf ihn mir um die Schultern, ehe auch ich endlich eine Gestalt zwischen den Bäumen ausmachen konnte.

„Was macht ihr beiden hier, so nah am Zentrum des Waldes?“, rief der Mann uns entgegen. Er schob mit der linken Hand die Kapuze seines braunen Gugels von seinem kahlen Kopf. Ein dunkler Vollbart verdeckte die Hälfte seines runden Gesichts und sein stämmiger Körperbau, gepaart mit der breiten Axt, die er bei sich trug, ließ ihn nicht wenig bedrohlich wirken. Er musterte uns von oben bis unten. „Ihr seht nicht aus wie Jäger. Also was treibt euch hierher?“

Ich beobachtete, wie Cuinn eine grandiose Unschuldsmiene aufsetzte und erst mir, dann dem Fremden einen verwirrten Blick zuwarf. „Zentrum? Herrje, da sind wir ja in eine ganz falsche Richtung gelaufen. Ihr könnt uns nicht zufällig den Weg zurück zur Stadt weisen?“

Misstrauisch beäugte der Mann Cuinn. „Es ist euch verboten, den Wald zu betreten. Ich sollte euch melden. Was bringt euch überhaupt auf die Idee, diesen gefährlichen Ort aufzusuchen?“

„Das ist alles meine Schuld“, platzte es aus mir heraus, woraufhin ich einen mahnenden Blick von Cuinn aufschnappte. „Ich war neugierig und habe ihn dazu überredet, mir den Wald zu zeigen. Und nun irren wir seit Tagen hier umher.“

Der Mann trat näher an Cuinn heran. Er war gut einen Kopf größer als der junge Magier. „Ein ganz schön törichter Versuch, das Herz eines Mädchens zu gewinnen.“ Er deutete in die Richtung, aus der Cuinn und ich gekommen waren. „Zurück zur Stadt müsst ihr dort entlang.“

„Habt vielen Dank, mein Herr. Wir wissen Eure Hilfe und Nachsicht sehr zu schätzen“, säuselte Cuinn, dass mir schlecht wurde. Gerade wollte er sich zum Gehen umdrehen, da packte der Fremde ihn am Hemd und riss den Halsausschnitt so weit herunter, dass eine seltsam geformte Narbe unter Cuinns rechtem Schlüsselbein sichtbar wurde. Sie sah aus wie ein kleines griechisches Delta, das sich um neunzig Grad zur rechten Seite geneigt hatte.

Die Augen des Mannes weiteten sich. „Du bist ein…“ Noch ehe er den Satz zu Ende sprechen konnte, legte Cuinn ihm blitzschnell eine Hand auf die Stirn. Im nächsten Moment fielen dem Mann die Augen zu und er kippte nach hinten über zu Boden.

Mit einer Hand nahm Cuinn unseren Rucksack, mit der anderen packte er mein Handgelenk und begann zu rennen.

Überrascht und geschockt stolperte ich ihm hinterher.

„Was hast du gerade mit ihm gemacht?“, fragte ich Cuinn panisch.

„Er schläft“, antwortete Cuinn knapp.

Hinter uns ertönten laute Rufe. „Yoan hat ein Halbblut gefunden! Schnappt ihn euch!“

Ich stolperte über meine eigenen Füße und wie ich zu Boden fiel, löste sich Cuinns Griff von meinem Handgelenk. Ein Blick nach hinten verriet mir, dass ein weiterer Jäger nur wenige Meter von uns entfernt war und auf uns zu geprescht kam. Cuinn drehte um, stellte sich vor mich und presste eine Hand auf den Boden. Im nächsten Moment loderte an der Stelle ein hohes Feuer auf, das den Jägern einen Umweg aufzwängen würde. Cuinn wandte sich wieder mir zu, half mir aufzustehen und zog mich weiter hinter sich her. Es dauerte nicht lang, bis sie uns wieder dicht auf den Fersen waren. Ich blickte mich immer wieder kurz um, erkannte drei – nein, vier – Personen, die uns verfolgten. Ich kreischte auf, als ein Pfeil an uns vorbeisauste. Zweige peitschten mir ins Gesicht, ich knickte mit dem Fuß um und zwang mich, trotzdem weiterzulaufen. Wir gewannen mehr und mehr Abstand zu den Jägern, bis Cuinn mich zur Seite hinter einen breiten Baumstamm zog und sich dort hinhockte. Ich tat es ihm nach, den Rücken an den Baum gelehnt, und versuchte, zu Atem zu kommen.

„Sie folgen uns immer noch“, keuchte ich. „Sie werden uns kriegen.“

„Werden sie nicht. Pass auf“, sagte Cuinn und zeigte auf den Baum neben uns.

Ich wusste nicht, was er meinte, drehte mich zum Baum um und starrte irritiert auf die dunkelbraune Rinde. Im nächsten Moment schrie ich auf. Cuinn hielt mir schnell den Mund zu, doch die Jäger hatten uns bereits gehört und liefen zielsicher in unsere Richtung. Aber das war für mich in diesem Moment beinahe nebensächlich. Der Baum vor mir hatte Augen. Vor wenigen Sekunden hatte er seine knorrigen Lider gehoben, um mich mit seinen hölzernen Augen zu begutachten. Ein paar Zentimeter tiefer, genau zwischen den Augen, ragte ein kurzer, dicker Ast aus dem Stamm, der genauso gut eine Nase hätte darstellen können. „Was zur Hölle ist das?“, fragte ich Cuinn.

Zur Antwort nahm Cuinn meine Hand und legte sie auf die raue Rinde.

Nicht was, sondern wer, ertönte eine tiefe, grummelige Stimme in meinem Kopf und ich wusste sofort, dass der Baum durch die Berührung mit mir sprechen konnte. Ich bin Corann. Es ist mir eine Ehre.

Als nächstes bedeutete Cuinn mir, mit ihm aufzustehen und schob mich zwei Schritte vom Baum zurück. Corann drehte und wendete sich und schüttelte dabei seine Äste. Nicht nur er setzte sich in Bewegung. Alle Bäume um uns herum begannen, bedrohlich zu schwanken. Ich rückte näher an Cuinn heran, als Blätter und Zweige vom Himmel herabregneten und klammerte mich an seinem Arm fest. Cuinn hingegen sah aus, als würde er das furchteinflößende Spektakel genießen. Mit einem schadenfrohen Lächeln auf den Lippen blickte er zu den Jägern, die sich panisch umschauten und erfolglos versuchten zu fliehen, während die Bäume mit Ästen und Wurzeln nach ihnen peitschten und die Erde zum Beben brachten.

„Darf ich vorstellen?“, rief Cuinn mir über den Lärm der um sich schlagenden Bäume zu, wobei er ob des wackelnden Bodens selbst ins Taumeln geriet. „Das sind die Trévarda, die großen Wächter des Waldes.“

Plötzlich wand sich ein knubbeliger Ast um meine Taille. Im selben Augenblick hörte ich eine definitiv weibliche Stimme in meinem Kopf. Die Bäume hatten auch noch verschiedene Geschlechter! Es ist zu gefährlich für euch hier unten.

Ich wurde von Cuinn fort in die Höhe gerissen. Erneut kreischte ich. „Cuinn!“

Hab keine Angst, ich beschütze dich, sagte der Baum.

Ich schlug auf das Holz an meiner Taille. „Lass mich los!“

Doch der Baum hörte nicht auf mich. Stattdessen setzte er mich auf einen dicken Ast hoch oben in seiner Krone, woraufhin sich Zweige um meine Oberschenkel schlangen, sodass ich nicht hinunterfallen, aber auch nicht entkommen konnte. Durch die Äste und Blätter hindurch versuchte ich zu erkennen, wo Cuinn geblieben war. Doch ich fand ihn nicht mehr wieder. Ich wurde auf dem Ast hin und her geschleudert, als der Baum weiter um sich schlug. Um mich herum drehte sich alles. Schon bald wusste ich nicht mehr, wo oben und unten war und ich kämpfte mit aller Macht gegen meinen rebellierenden Magen an. Ich wagte nicht einmal mehr zu schreien, aus Angst davor, mich übergeben zu müssen, sobald ich den Mund öffnete. Die rauen Unebenheiten der Rinde drückten unangenehm durch den dünnen Stoff meines Kleides und kratzen auf meiner Haut. Doch als ich einen Blick auf den Boden erhaschte, der von den langen kräftigen Wurzeln der Bäume aufgewühlt wurde, fühlte ich mich hier oben tatsächlich sicherer als auf der Erde.

Und mit einem Mal war alles still. Als wäre ich in einem Film und jemand hätte die Pausetaste gedrückt, verharrten alle Bäume wieder an Ort und Stelle. Die Zweige lösten sich von meinen Beinen und ich spürte wieder den Ast um meine Mitte. Im nächsten Moment wurde ich angehoben und sanft zum Boden getragen.

Tut mir leid, dass es etwas holprig geworden ist, entschuldigte sich der Baum, ehe er mich losließ und sich zurückzog. Ich blickte zu seinem Stamm und erkannte auch hier zwei große Augen.

„Ähm, schon in Ordnung“, antwortete ich. „Danke.“

Der Baum zwinkerte mir zu und schloss dann die Augen. Die Augenlider bildeten so eine perfekte Einheit mit dem Rest des Stammes, dass ich schon bald gar nicht mehr sagen konnte, wo die Augen gewesen waren.

Ich sah mich um und ging ein paar Schritte. Meine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding. „Cuinn?“

„Hier bin ich.”

Mein Blick folgte der Stimme und ich beobachtete, wie Cuinn von einem weiteren Baum gerade zu Boden gelassen wurde. Er bedankte sich, als der Baum seinen Ast wieder zurückzog und trat an meine Seite.

„Was ist mit den Jägern passiert?“, fragte ich ihn. „Sie sind wie vom Erdboden verschluckt.“

Wenige Sekunden später fiel mir etwas nahe einer Baumwurzel auf. Ich wagte einen Schritt näher heran. Cuinn hielt mich sofort fest und hinderte mich daran weiterzugehen. Doch dieser eine Schritt genügte mir, um das Etwas zu identifizieren. Unter der Wurzel hervor ragte die Hand eines Menschen. Das Grauen durchfuhr mich. Erschrocken riss ich die Augen auf und drehte mich zu Cuinn um. Er hingegen wirkte recht unberührt von den Geschehnissen.

„Nicht nur wie vom Erdboden verschluckt“, sagte er. Dann fing er wieder an, mich durch den Wald zu schleifen. Wie benommen folgte ich ihm. Meine Augen brannten. Weinte ich?

„Sie haben sie umgebracht“, murmelte ich.

„Die Trévarda haben nur ihre Heimat beschützt. In diesem Wald gibt es schon lange keine Kompromisse mehr. Entweder die Menschen oder die magischen Geschöpfe.“

„Aber du hast diesen einen Jäger doch auch nicht gleich umgebracht!“, erinnerte ich ihn empört.

Eine kleine Pause entstand, ehe Cuinn antwortete: „Das war vielleicht ein Fehler.“

Entsetzt starrte ich auf seinen Rücken, während ich weiter hinter ihm herlief. Ich wollte etwas entgegnen, doch mir fehlten schlichtweg die Worte. Das Einzige, was ich tun konnte, war, meinen Arm seinem Griff zu entreißen und mehr Abstand zwischen uns zu bringen. Cuinn hatte die Jäger in ihren Tod laufen lassen, ohne mit der Wimper zu zucken. Na gut, die Jäger hatten uns auch töten wollen. Und trotzdem fühlte es sich falsch an. Am liebsten wäre ich fort gelaufen. Weit weg von Cuinn. Doch ich hatte keine Ahnung, wohin ich hätte gehen können und der Gedanke, allein zwischen Killerbäumen umherzuirren, schien mir auch nicht besonders einladend. Außerdem tobten schon wieder neue Fragen in meinem Kopf, deren Antworten mir nur Cuinn liefern konnte. Was war das für ein Mal unter seinem Schlüsselbein? Und waren ab hier alle Bäume diese Trévarda?

Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht, atmete tief durch und versuchte, mich zusammenzureißen. Mit festem Schritt wanderte ich weiter. Dennoch hielt ich weiterhin Abstand zu Cuinn und untersuchte jeden Baum argwöhnisch auf Gesichter und Bewegungen, die nicht durch den Wind verursacht wurden.

Das Tal der Feuergeister

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