Читать книгу Spreewaldkohle - Franziska Steinhauer - Страница 16

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Dr. Pankratz schüttelte den Kopf.

So heftig, dass die OP-Haube verrutschte und sich das Licht der Lampe in seiner makellosen Glatze spiegelte.

Der zweite Obduzent unterdrückte hastig ein Lachen.

Seiner Meinung nach war die Haube auf der Glatze ohnehin sinnlos. Aber er wusste, es gab Dinge, die man besser nicht ansprach.

»Ungewöhnlich ist dieser Angriff durchaus … Psychisch kranke Menschen in den meisten Fällen. Sie haben krude Vorstellungen, hängen irrealen Theorien an, fühlen sich vom Opfer verfolgt, übergangen, ausgebootet. Sie sehen sich zum Beispiel als Rächer oder Befreier der gesamten Gesellschaft, suchen das Licht der Öffentlichkeit, möchten im Blitzlichtgewitter stehen, ihren Namen in der Zeitung auf der Titelseite lesen. Manche lassen sich direkt am Tatort überwältigen und verhaften. Aber hier? Patrick Stein. Der Täter lauerte ihm beim Joggen auf – also keine öffentliche, pressewirksame Aktion mit Täterfotos oder unscharfen Handyvideos und verstörten, weinenden Zeugen, keine große Bühne. Täter und Opfer waren unter sich. Die nun einsetzende Aufmerksamkeit wird der Tat gelten, nicht dem Täter.« Er sah auf, deutete auf eine Serie von Aufnahmen, die die Stichkanäle abbildeten. »Hier die sichtbaren Zeichen des Überfalls. Das war wohl der erste Stich. Als der gesetzt wurde, stand das Opfer noch.« Er trat an den Edelstahltisch zurück. »Die Wunde ist deutlich doppelt und doppelschwänzig. Der Täter hat zweimal diese Stelle angegriffen. Ich schätze, weil das Opfer nicht sofort zu Boden ging. Die weiteren Verletzungen wurden Stein beigebracht, als er bereits lag. Dabei sind mehrere Details bemerkenswert. Nachdem er vornübergefallen war, lag der Körper bei den weiteren Angriffen auf dem Rücken. Entweder schaffte das Opfer es selbst, sich umzudrehen oder der Täter hat das übernommen. Stein sollte unbedingt erkennen, wer ihn tötete? Keiner der Stiche war sofort tödlich. Möglicherweise war dem Täter die Anordnung der lebenswichtigen Organe nicht geläufig, er konnte die verletzbaren Bereiche nicht genau lokalisieren, entweder das Opfer bewegte sich heftig oder er verfehlte sie mit Absicht. Todesursache ist wahrscheinlich inneres und äußeres Verbluten. Hypovolämischer Schock.«

Nachtigall nickte fast unsichtbar.

Klapproth wirkte überrascht. »Könnte es sein, dass dem Angreifer gar nicht auffiel, dass sein Opfer nach dem Überfall nicht tot war? Er sich vom Tatort entfernte im festen Glauben, den Mann getötet zu haben?«

»Eher nicht«, überlegte Nachtigall laut. »Wir haben ihn schließlich nicht an dem Ort gefunden, an dem er angegriffen wurde, sondern in der Schaufel eines Kohlebaggers. Jemand hat ihn dorthin transportiert. Und er hat einen ziemlichen Aufwand betrieben, um uns den Toten so finden zu lassen, wie er geplant hat. Sehr unwahrscheinlich, dass zwei Personen unabhängig voneinander agiert haben sollen. Das würde ja bedeuten: Ein Spaziergänger, der zufällig einen Groll auf Patrick Stein hatte, stieß zufällig auf den Leichnam des Ermordeten und beschloss, ihn an einen anderen Ort zu transportieren und dort zu präsentieren. Der Gedanke daran, die Polizei zu verständigen, kam ihm zu keiner Zeit.«

»Okay. Klingt nicht sehr wahrscheinlich«, räumte Klapproth ein. »Zumal er dann auch noch zufällig einen Freund haben musste, der ihm beim Transport behilflich ist.«

»Na, dann wollen wir mal«, entschied der Rechtsmediziner und setzte das Skalpell unter dem Kinn an, zog einen tiefen Schnitt bis zum Schambein. »So!«

Nachtigall wusste genau, was nun folgen würde.

Und dennoch.

Nach all den Jahren konnte er es nicht unterdrücken.

Übelkeit stieg in ihm auf.

Da half es auch nicht, dass er sich immer wieder in Erinnerung rief, dass diese Untersuchung ihnen wichtige Informationen würde bieten können.

Wie durch Watte hörte er die Stimme des Rechtsmediziners.

»Männliches Opfer, Größe 182 cm, Gewicht 101 kg. Die äußere Inspektion hat zahlreiche Stichwunden ergeben, deren Kanäle stets in unmittelbarer Nähe lebenswichtiger Organe liegen. Um genauere Aussagen zu machen, präparieren wir einen der Stichkanäle.«

Nach und nach wanderte ein Organ nach dem anderen in eine eigene Schale, wurde gewogen und untersucht.

Dann trat Dr. Pankratz hinter den Kopf und setzte einen Schnitt entlang des Haaransatzes.

Der Assistent hatte eine Art Stütze unter den Schulterbereich geschoben, der Kopf fiel leicht nach hinten. Mit einer schwungvollen Geste klappte Dr. Pankratz den Skalp nach vorn über das Gesicht und griff nach einer speziellen Säge.

Damit trennte er den oberen Bereich des Schädels ab, legte das Hirn frei.

Nachtigall versuchte, nicht hinzusehen.

Besonders nicht, als das Organ in Scheiben geschnitten wurde.

Endlich waren sie fertig.

»So – und jetzt eine Zusammenfassung. Auffällig sind die blutleeren Organe. Deren Gewebe ist blass. Das haben wir bei Verbluten zu erwarten. Ansonsten war er gesund. Das hätte sich aber in der nächsten Zeit ändern können. Das Herz ist leicht verfettet, die Leber auch, Pankreas ist vergrößert. Er hatte viszerale Fettablagerungen. Mit gesunder Lebensführung hätte er dem Diabetes noch entgehen können, aber ich sehe bereits deutliche Zeichen von Schädigungen durch Hochdruck an den Gefäßen. Er wurde beim Laufen erstochen, also war er offensichtlich dabei mit Sport gegenzusteuern. Das Hirn ist unauffällig, lateral findet sich ein leichtes Aneurysma. Das hat ihm wahrscheinlich keine Probleme gemacht. Vielleicht wäre es dabei geblieben. Fazit: Er war gesund.«

»Toxikologie?«

»Wird gemacht. Ich glaube aber nicht, dass wir Drogen oder deren Abbauprodukte finden werden. Einstiche negativ, Atemwege frei, unauffällige Lunge. Er war kein Raucher.« Der Rechtsmediziner wies auf eine Wanne, die das Blut aus dem Bauchraum aufgenommen hatte. »Das ist wenig. Etwa zwei Liter. Bei einem Mann dieser Statur könnt ihr davon ausgehen, dass er etwa vier Liter am Ort des Angriffs verloren hat. Wurde er direkt nach der Tat in einem Fahrzeug transportiert, wird dort ebenfalls viel Blut gefunden werden können.«

»Du meinst, Hunde könnten den Ort des Überfalls finden? Sie haben ihn letzte Nacht auch nicht erschnüffelt.«

»Sie sollten nach einem Verletzten suchen. Nun sollen Hunde Zersetzung wahrnehmen. Einen Versuch wäre es wert.«

»Du meinst, jemand wollte, dass das Opfer langsam verblutet. Was, wenn kurz nach der Tat ein unbeteiligter Spaziergänger vorbeigekommen wäre. Hätte dann ein Rettungsteam …? Vielleicht war er noch eine ganze Weile ansprechbar.«

»Nein. Die Stiche haben zu massiven Blutungen geführt. Arteriellen Blutungen, venösen Blutungen. Gerade arterielle Blutungen leeren den Körper ziemlich schnell. Bei den vielen Verletzungen wäre er nach etwa 20 Minuten tot. Keine Chance für ein Rettungsteam.«

»Für mich stellen sich bei diesem Szenario viele Fragen«, begann Nachtigall gedehnt. »Eine wäre: Was hat der Täter gemacht, während sein Opfer langsam starb? Lief er weg? Hat er ihm eine Rede gehalten, um die Tat zu begründen?«

»Und: Wir reden zwar der Einfachheit halber vom Täter, es könnte aber auch eine kräftige Frau solche Verletzungen setzen. Vielleicht waren es zwei Beteiligte, die den Toten zum Tagebau gebracht haben«, ergänzte Dr. Pankratz.

Klapproth schüttelte ungeduldig mit dem Kopf. »Nur, damit ich es richtig verstehe: Das Opfer geht laufen. Irgendwo wartet der bewaffnete Täter.« Ihr Blick begegnete den Augen des Rechtsmediziners. »Okay, oder die bewaffnete Täterin. Woher demjenigen die Laufstrecke bekannt war, müssen wir noch ermitteln. Angeblich hat sich das Opfer immer spontan für einen Weg entschieden. An einer geeigneten Stelle kommt das Messer zum Einsatz. Der Täter oder ein weibliches Pendant sticht zu. Nachdem das Opfer zu Boden gegangen ist, folgen weitere Attacken gegen den Körper. Das Opfer will er/sie nicht zurücklassen, es lebt noch, könnte möglicherweise den Namen des Angreifers nennen. Lieber kein Risiko eingehen. Oder kannten sich die beiden gar nicht persönlich? Dann gab es kein privates Motiv, sondern eher einen abstrakten Mordauftrag.«

»So was wie das Klima retten? Den Weltfrieden sichern? In der Art?«, hakte Nachtigall nach. »Ein Mord für alle Gleichgesinnten? Ein moralischer Auftrag, diesen Menschen zu töten. Es war dem Täter gleichgültig, dass er nah an sein Opfer herantreten musste. Man war Aug’ in Aug’ – beim Angriff wie beim Sterben.« Er konnte nicht vermeiden, dass er eine Gänsehaut bekam, die sich über den gesamten Körper zog.

Klapproth nickte.

»Dann geht es bei dieser Tat um ein Fanal gegen ein für den Täter falsches Ziel. Die Identität des Opfers ist in Wahrheit unwichtig, es geht um das, wofür sie steht. Und wenn es so ist, fühlte der Angreifer sich im Recht. Für ihn war es legitim, diesen Mann zu töten.«

»Das gilt allerdings auch für ein starkes privates Motiv«, gab Nachtigall zu bedenken.

»Sieht für euch nach schwierigen Ermittlungen aus.« Dr. Pankratz klopfte den beiden auf die Kittel.

»Wir müssen los«, mahnte Klapproth. »Dr. März war vorhin schon sehr gereizt. Wir sollten ihn nicht zusätzlich durch Unpünktlichkeit provozieren.«

»Wenn ihr nicht wissen wollt, was ich sonst noch entdeckt habe, könnt ihr ja jetzt gehen.« Der Rechtsmediziner wies auf den Gang zur Tür.

Die beiden Ermittler warfen ihm einen verwunderten Blick zu.

»Wenn du das so formulierst, hast du eine faustdicke Überraschung für uns.«

Er lud sie zu einem Blick durchs Mikroskop ein.

»Ist es das, was ich glaube?«

»Ja. Sicher. Spermien. Sie leben noch – sexuelle Aktivität also kurz vor seinem Tod. Wenn es nötig wird, können wir sicher aus der Probe auch weitere DNA isolieren.«

»Aha. Wir müssen …«

»Wenn ihr euch beeilt, schafft ihr es locker rechtzeitig zur Pressekonferenz«, ermunterte der sehr zufriedene Dr. Pankratz die Davonstürmenden.

»Tja. Es menschelt manchmal auch bei Verstorbenen. Haben wir alle Proben?«

Der Sektionsassistent nickte.

»Gut, dann machen Sie ihn fertig. Bei diesen Fällen aus Cottbus ist immer eins sicher: Es wird eine weitere Leiche geben.«

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