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Kapitel 4 KERNWAFFENTESTS IM PAZIFIK: GODZILLA UND GLÜCKLICHER DRACHE

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Es geschah am 1. März 1954, kurz vor Sonnenaufgang. Der japanische Trawler Daigo Fukuryu Maru (Glücklicher Drache V) war auf Thunfischfang bei den Marshallinseln im tropischen Pazifik, knapp zweitausend Kilometer von seinem Heimathafen entfernt. Der Mann im Ausguck wartete darauf, dass die Sonne aufging, als er plötzlich zu seinem Erstaunen in der entgegengesetzten Richtung, am westlichen Horizont, eine grellorangefarbene Kugel erblickte. Er rief die übrigen zweiundzwanzig Mitglieder der Crew an Deck, und bestürzt beobachteten sie, wie die »Sonne« verblasste und eine riesige Pilzwolke am Himmel erschien.

Zwei Stunden später, beim Netze-Einholen, begann weiße Asche auf das Deck zu rieseln. Fünf Stunden lang ging der Fallout nieder. Die überraschten Fischer zerrieben die geheimnisvolle Asche zwischen den Fingern, einer probierte sie sogar. Nach einer Weile lag auf dem Deck eine so dicke Schicht, dass sie Fußspuren darin hinterließen. Sie wussten es nicht, aber was da als weiße Asche herunterkam, waren die radioaktiv verseuchten Überreste der Koralleninsel Namu, die zum 160 Kilometer entfernten Bikini-Atoll gehörte. Ihr Korallenring war in Stücke gerissen worden, als »Bravo«, die erste echte amerikanische Wasserstoffbombe, detonierte. Mit einer Sprengkraft von 15 Megatonnen, tausendmal stärker als die Bombe von Hiroshima, ist sie bis heute die größte Kernwaffe, die die USA je gezündet haben. Die »Sonne« war der mehr als sechs Kilometer breite Feuerball der Explosion gewesen.1

Auf der Rückreise mussten die Fischer sich übergeben. Durch die Strahlung bildeten sich Verbrennungen und Wundstellen auf ihrer Haut. Das Haar fiel ihnen aus. Das Zahnfleisch begann zu bluten. Als sie zwei Wochen später in der südjapanischen Stadt Yaizu anlegten, hatte sich ihr Zustand noch immer nicht gebessert. Manche gingen nach Hause, andere suchten das örtliche Krankenhaus auf. Da die Befunde aus Hiroshima und Nagasaki den Ärzten noch deutlich vor Augen waren, begriffen sie schnell, was passiert sein musste. Die Seeleute waren radioaktiver Strahlung ausgesetzt gewesen und litten an akuter Strahlenkrankheit. Rasch wurden auch die übrigen Crewmitglieder ins Krankenhaus gebracht.

Die japanischen Seeleute hatten zwischen 2.000 und 6.000 Millisievert erhalten, eine potenziell tödliche Strahlendosis.2 Als einer der Ärzte aus Yaizu an die Atomenergiekommission der US-Regierung schrieb und um Behandlungsempfehlungen bat, erhielt er keine Antwort. Offenbar fürchteten die Bombenbürokraten, dass jegliche Informationen über die Isotopenzusammensetzung des Fallouts Rückschlüsse auf die geheime Bauweise der Bombe zuließen. Der Vorsitzende der Kommission, Lewis Strauss – ein Selfmade-Millionär und glühender Antikommunist, bekannt dafür, den Entzug von Robert Oppenheimers Sicherheitsberechtigung vorangetrieben zu haben –, ließ vielmehr verlauten, dass er die Fischer für einen »Haufen roter Spione« hielt.3

In Wirklichkeit war der Glückliche Drache V mit seiner Besatzung schlicht zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Bei der Detonation von »Bravo« hatte sich das Schiff ein gutes Stück außerhalb der offiziellen Gefahrenzone befunden. Doch kurz zuvor hatte der Wind gedreht, wodurch es sich genau in der Richtung befand, in die sich der Fallout ausbreitete. Bald wurde bekannt, dass insgesamt rund hundert japanische Thunfischtrawler in Gefahr gewesen waren. Panisch nahmen Fischhändler überall in Japan den Thunfisch aus der Auslage. Im ganzen Land flammte die Furcht vor Nuklearwaffen wieder auf, die seit dem Trauma von Hiroshima und Nagasaki weitergeschwelt hatte. Als Reaktion auf die Tragödie entstand der japanische Film Godzilla, der sieben Monate später ins Kino kam und ein großer Erfolg werden sollte. Er schildert den Kampf des Landes gegen ein marodierendes Mutantenmonster, das durch Atomtests auf einer japanischen Insel entstanden ist.

Während sich ganz Japan an diesem nuklearen Horrorszenario weidete, lagen die Seeleute noch immer im Krankenhaus und bekamen zur Dekontamination regelmäßige Bluttransfusionen. Der Funker Aikichi Kuboyama starb an Hepatitis, nachdem er sich bei einer Transfusion infiziert hatte. Die anderen überlebten, und einige erreichten sogar ein Alter über achtzig Jahre, litten aber unter der Ausgrenzung durch Freunde und Nachbarn, die glaubten, dass Strahlenkrankheit ansteckend sei.


»Bravo« stand am Anfang einer ganzen Ära von Tests mit Bomben, die weit mächtiger als die von Hiroshima und Nagasaki waren und oft auch viel zu mächtig für eine Detonation in der Wüste von Nevada oder sogar in der kasachischen Steppe, dem bevorzugten Testgebiet der Sowjetunion. Als Schauplatz für diese Detonationen in Megatonnenstärke wählten die USA – und später auch Großbritannien und Frankreich – die augenscheinlich so entlegenen Atolle des Pazifiks, Tausende Kilometer entfernt von größeren Siedlungsgebieten. Die Sowjetunion entschied sich für die Arktis. Tatsächlich aber war niemand mehr vor ihnen sicher. So schien es jedenfalls. Eine einzige Wasserstoffbombe war nun in der Lage, jede beliebige Stadt der Welt zu zerstören – sogar New York, wie sich Strauss einmal im Interview mit einem amerikanischen Journalisten brüstete. Und da der Schutt in weit größere Höhen geschleudert wurde, erreichte ihr Fallout die ganze Erde.

Bei einer nuklearen Explosion entsteht ein enormer Feuerball, der alles in seiner Reichweite mit in die Luft reißt – auch Boden, Wasser und, im Fall des Bikini-Atolls, die Trümmer des Korallenriffs am Ort der Detonation. Irgendwann erreicht diese Wolke schließlich ihre größte Höhe und breitet sich nach allen Seiten aus, was zu der charakteristischen Pilzform führt. Dann wird sie durch die Winde zerstreut, und das Material sinkt nach und nach zu Boden. Ein Teil dieses Fallouts erreicht den Grund bereits nach wenigen Minuten, wie es die Fischer auf dem Glücklichen Drachen erleben mussten. Der Anteil jedoch, der hoch in die Atmosphäre geschleudert wird, kann mehrere Monate in der Luft bleiben.

Je größer die Explosion, desto höher hinauf gelangt der Staub, desto länger dauert es, bis er zu Boden fällt, und desto weiter breitet er sich aus. Bei den frühesten Atombomben fiel der gesamte Schutt innerhalb von siebzig Tagen zu Boden. Der von »Bravo« ausgelöste Feuerball jedoch erreichte eine Höhe von nahezu 14.000 Metern; das ist mehr als die Reiseflughöhe eines Passagierflugzeugs. Die radioaktive Wolke dehnte sich mit einer Höhe von erstaunlichen 33.500 Metern sogar bis in die Stratosphäre aus. Ein Großteil ihrer Bestandteile ging erst im Lauf von achtzehn Monaten nieder. Einerseits bedeutete das, dass einige der aggressiveren radioaktiven Isotope mit kürzeren Halbwertszeiten bereits zerfallen waren, ehe sie den Erdboden erreichten, andererseits breitete sich der Fallout über den gesamten Globus aus und bedeckte die Erde mit einer dünnen radioaktiven Schicht. Er sorgte für die höchste Strahlenbelastung durch Fallout in der gesamten Geschichte der weltweiten Atombombentests.4

Auf der ganzen Welt wuchs der Ärger über dieses Vergehen an der Menschheit. Die Angst wuchs, ein Krieg könne einen nuklearen Holocaust auslösen und alles Leben auf der Erde zerstören. In seinem Roman Das letzte Ufer aus dem Jahr 1957 erzählt Nevil Shute von einer Gruppe Australier, die den Tod durch den Fallout eines Atomkriegs erwarten, der bereits allen Bewohnern der Nordhalbkugel das Leben gekostet hat.5 Zum ersten Mal wurde sich die Menschheit bewusst, dass sie einer existenziellen Bedrohung gegenüberstand, die sie selbst geschaffen hatte. Für manche Bevölkerungsgruppen des Pazifikraums allerdings war diese Bedrohung ganz unmittelbar.


Die Korallenatolle der Marshallinseln zählen zu den entlegensten Orten der Erde. Schon bald nachdem die Vereinigten Staaten am Ende des Zweiten Weltkriegs die Kontrolle über den Archipel von den besiegten japanischen Soldaten übernommen hatten, erklärten die Generäle zwei der Atolle, Bikini und Eniwetok, als geeignet für Atomtests. 1946 wurden dort die ersten Kernwaffenversuche nach den Abwürfen von Hiroshima und Nagasaki durchgeführt, ehe die Dringlichkeit aufgrund des Wettrüstens 1951 eine Rückkehr nach Nevada nötig erscheinen ließ. Später, von 1954 bis 1958, fanden auf den Inseln die noch viel zerstörerischeren Wasserstoffbombentests mit ihren insgesamt 109 Megatonnen statt – dem rund Fünfundsiebzigfachen der Sprengkraft, die über die Wüste von Nevada gekommen war.6

Um den Weg für die ersten Tests frei zu machen, besuchte 1949 der Militärgouverneur der Marshallinseln, Kommodore Ben H. Wyatt, die 167 Bewohner des schmalen Inselrings rund um die Lagune von Bikini. Er »forderte sie freundlich auf«, die Inseln zu verlassen, und erklärte, es käme der gesamten Menschheit zugute und bedeute das Ende aller Kriege.7 Sie glaubten, was ihr Befreier ihnen sagte, und rechneten damit, nach kurzer Zeit wieder zurückzukehren. Wie es ihr Oberhaupt Dretin Jokdru kurz vor seinem Tod im Exil 2006 formulierte: »Sie sagten uns […]: ›Auch wenn ihr auf einer Sandbank lebt, werden wir für euch sorgen, als wäret ihr unsere Kinder.‹ […] In gewisser Weise freute es uns, dass sie für uns sorgen wollten. Die Welt kam uns damals eigenartig vor. Aber wir konnten einfach nicht verstehen, warum sie unsere Insel haben wollten.«8

Wie dann tatsächlich für sie »gesorgt« wurde, war schockierend. Sie wurden auf dem fast 250 Kilometer östlich gelegenen Rongerik-Atoll abgesetzt, wo sie fast verhungerten, ehe man sie auf der Insel Kwajalein neben der Landebahn eines US-Stützpunkts in Zelten unterbrachte. Von dort wurden sie auf die Insel Kili gebracht, wo es keine Lagune gab, sodass sie nicht einmal ihre traditionellen Fischfangtechniken einsetzen konnten.

Wenigstens hatte man sie überhaupt evakuiert. Als »Bravo« detonierte, waren achtzehn Bewohner der nur gut 140 Kilometer entfernten Insel Rongelap gerade dabei, auf einem anderen Atoll Kopra zu sammeln. Wie auf die japanischen Fischer, regnete auch auf sie radioaktiv belasteter Korallenstaub herab. Zwei Stunden später erreichte der Fallout Rongelap selbst und überraschte weitere achtundsechzig Bewohner in ihren Häusern. Am nächsten Tag erschienen amerikanische Soldaten in Schutzanzügen und nahmen Messungen vor. Zu diesem Zeitpunkt litten die meisten Bewohner, wie schon die Fischer, bereits an Verbrennungen und mussten sich übergeben – klare Anzeichen von Strahlenkrankheit. Eilig wurden sie nach Kwajalein evakuiert, und die Atomenergiekommission veröffentlichte eine Pressemitteilung, wonach die Evakuierung »als geplante Vorsichtsmaßnahme« erfolgt sei, »[…] Verbrennungen traten nicht auf. Offenbar geht es allen gut.«9

Nachdem 1963 die oberirdischen Tests eingestellt worden waren, hatte Amerika keine weitere Verwendung für die Inseln und wollte die Evakuierten wieder dort ansiedeln. 1968 erklärte Präsident Lyndon Johnson das Bikini-Atoll für sicher, und vier Jahre später kehrten über hundert Menschen aus Kili zurück. Im Zuge von Gesundheitsüberprüfungen wurden bei den Rückkehrern allerdings erhöhte Werte von radioaktivem Cäsium-137 durch den Fallout der Bombe festgestellt. Also evakuierte man sie erneut.10

Cäsium-137 hat eine Halbwertszeit von dreißig Jahren – das bedeutet, dass die Hälfte einer bestimmten Menge nach dieser Zeitspanne zerfallen und verschwunden ist. Heute dürfte der Strahlungswert also nicht viel mehr betragen als ein Viertel des nach den Tests gemessenen Werts. Trotzdem kam eine Studie noch im Jahr 2016 zu dem Schluss, dass Bikini »vermutlich noch nicht wieder bewohnbar ist«. Der im Boden verbleibende Fallout konzentriere sich demnach in den Kokosnüssen und in den Krabben, die sich von ihnen ernähren.11 Manche behaupten, die radiologischen Gefahren würden übertrieben hoch dargestellt. Eine Studie gibt die auf Bikini durch eine Ernährung mit lokal erzeugten Lebensmitteln erhaltene Strahlendosis mit 15 Millisievert pro Jahr an. Das ist zwar das Sechsfache der weltweit durchschnittlichen natürlichen Umgebungsstrahlung, liegt aber weit niedriger als alle Werte, die jemals nachweislich zu Gesundheitsschäden geführt haben. Die psychologischen Komplikationen eines Lebens im Exil sind wohl schlimmer als die radiologischen Gefahren nach einer Rückkehr.12 Dennoch nehmen die Menschen von Bikini den Amerikanern – verständlicherweise – nicht ab, dass eine Rückkehr gefahrlos möglich sei. Sie haben immer noch den Eindruck, dass man sie wie Kinder behandelt.

Noch größeres Chaos erlebten die vom Fallout betroffenen Bewohner von Rongelap, die nach dem »Bravo«-Test evakuiert worden waren. 1957, nur drei Jahre später, brachten die Amerikaner sie zurück auf ihre Insel, ohne sich zuvor um eine Dekontamination gekümmert zu haben.13 Dort lebten die Menschen dreißig Jahre lang und ernährten sich zum größten Teil von dem, was ihr verseuchtes Land hervorbrachte. Nachdem aber unter den Kindern eine erhöhte Anzahl an Schilddrüsenkrebsfällen und bei den Erwachsenen vermehrt Leukämie aufgetreten war, baten sie eindringlich darum, wieder evakuiert zu werden. Greenpeace kam zu Hilfe und brachte sie per Schiff nach Kwajalein. Dort litten sie unter den beengten Lebensverhältnissen und an Arbeitsplatzmangel, außerdem kam es zu einer Selbstmordwelle.14

1998 rief die US-Regierung endlich ein Programm zur Reinigung der radioaktiv kontaminierten Böden von Rongelap ins Leben. Seither sind einige Bewohner zurückgekehrt, und offenbar geht es mit ihnen wieder deutlich bergauf. Es gibt eine befestigte Landebahn, die Inseln betreiben Ökotourismus und handeln mit vor Ort gezüchteten schwarzen Perlen.15

Neben den Tests auf dem Bikini-Atoll führten die USA dreiundvierzig weitere Versuche auf dem evakuierten Eniwetok-Atoll durch. 1979 erschien das Aufräumkommando. Rund 100.000 Kubikmeter des am stärksten radioaktiv belasteten Bodens wurden abgetragen und unter eine Betonkuppel gepackt, den sogenannten Runit Dome. Glaubt man den Versprechungen, wird durch den weiteren Zerfall der Isotope, etwa von Cäsium-137, der größte Teil des Atolls Ende der 2020er-Jahre wieder für Menschen bewohnbar sein. Doch die Kuppel, die wie ein halb im Sand vergrabenes Ufo aussieht, hat bereits Risse, und laut einer Folgebegutachtung des US-Energieministeriums aus dem Jahr 2012 tritt möglicherweise ein Teil ihres Inhalts bereits wieder aus und gelangt zurück in den Boden.16

Es sind traurige Geschichten. Keiner kommt gut dabei weg. Im großen Ringen um die emotionale wie rationale Beurteilung der Risiken radioaktiver Strahlung sind die Inselbewohner viel zu oft die Bauernopfer gewesen.17 Und mangels einer angemessenen Entschädigung wurde ihre Not noch verschlimmert. Während US-Bürgern, die den Folgen von Atombombentests ausgesetzt waren, eine Milliarde Dollar ausgezahlt wurde, ist den Bewohnern der Marshallinseln, von denen viele wesentlich höhere Strahlendosen erhalten haben, weniger als ein Zehntel dieser Summe zugekommen.

Aber wie steht es um die Natur? Sind die Inseln zur nuklearen Todeszone geworden? Die Kernwaffentests haben in erheblichem Ausmaß Korallenriffe zerstört und Böden und Lagunen kontaminiert. Doch wie an vielen anderen radioaktiv belasteten Orten der Welt erholt sich die Natur bereits und gedeiht womöglich sogar, dank der Abwesenheit des Menschen. Als Meeresbiologen 2008 in den Krater hinabtauchten, den »Bravo« ein halbes Jahrhundert zuvor in den Meeresboden gerissen hatte, fanden sie neu gewachsene Korallenriffe von mehr als 7,5 Meter Höhe vor. Das Riff wurde von Korallen aus den benachbarten Atollen zurückerobert. »Ich wusste nicht, was mich erwarten würde – ich vermutete, eine Art Mondlandschaft. Aber es war unglaublich«, sagte Zoe Richards von der australischen James Cook University gegenüber der Agentur Reuters.18

Auf dem Grund der Lagune von Bikini liegt eine Armada alter Kriegsschiffe, die die US-Marine dort vor der Detonation von »Bravo« versenkt hatte, um die Zerstörungskraft der neuen Waffe zu testen, darunter auch die Nagato. Ihre Symbolkraft ist offensichtlich: Sie war das japanische Flaggschiff, auf dem Admiral Isoroku Yamamoto den Befehl zum Angriff auf Pearl Harbour gegeben hatte. Im Jahr 2010 erklärte die UNESCO das Bikini-Atoll zum Weltkulturerbe, da es »den Beginn des Atomzeitalters symbolisiert«.


Die Briten führten ihre ersten Atomwaffentests in Australien durch, verlegten die Versuche mit Wasserstoffbomben dann aber auf Inseln im Pazifik. Unter den abgelegenen Besitzungen des Empires fiel ihre Wahl auf die Weihnachtsinsel und die Insel Malden, die heute zu dem unabhängigen Staat Kiribati gehört. Da die Briten viel weniger Tests durchführten als die USA und die Sowjetunion, wollten sie aus jedem einzelnen so viele Informationen wie möglich gewinnen; keine günstigen Voraussetzungen für die Armeeangehörigen und die örtlichen Bewohner, die zur Unterstützung einberufen wurden.

Die größte Bombe, die über der Weihnachtsinsel zur Explosion gebracht wurde, »Grapple Y«, hatte drei Megatonnen Sprengkraft. Gleichwohl erhielten Piloten den Befehl, dicht an den Detonationsort heran- und durch die Pilzwolke hindurchzufliegen, um Proben des radioaktiven Fallouts zu nehmen. Der Rat, bei der Detonation die Augen zu schließen, nützte nicht viel. Einer berichtete, sie hätten »das Licht sogar durch die Augenlider gesehen. Es war unfassbar. Das hat uns richtig umgehauen.«19 Diejenigen, die nicht in ein Flugzeug gesetzt wurden, ließ man am Strand antreten, und sie erhielten, wie sich der damals neunzehnjährige Kenneth McGinley erinnert, die Anweisung, »Fäuste zu machen und sie in die Augenhöhlen zu drücken«, während knapp zwanzig Kilometer entfernt die Bombe detonierte.20 Anschließend nahmen sie Obst und Wasser von der Insel zu sich und schwammen in der Lagune. Ehe sie wieder abgezogen wurden, erhielten sie noch den Befehl, Wildvögel zu töten, die durch die Explosion blind geworden waren.21

Die Bewohner der Weihnachtsinsel waren nicht evakuiert worden, obwohl »Grapple Y« dort radioaktive Niederschläge verursachte. Eine unter ihnen, Suitupe Kirotomi, erinnerte sich, wie sie »zu der schwarzen Explosionswolke aufschaute, die direkt über uns war, dann begann es zu nieseln«. Später bildete sich auf ihrer Stirn eine rötliche Verbrennung und die Haare begannen ihr auszufallen. Im Jahr 2006 erzählte sie Journalisten: »Die Narbe habe ich bis heute.«22

Es ist nach wie vor umstritten, wie sehr es Soldaten und Einwohnern geschadet hat, Strahlung und Fallout so unvermittelt ausgesetzt zu sein. Im Jahr 2015 zahlte die Republik Fidschi siebzig ihrer Bürger, die damals vor Ort gewesen waren, eine Entschädigung. Im Rahmen einer Studie mit fünfzig neuseeländischen Soldaten allerdings, die an den Tests auf der Weihnachtsinsel beteiligt gewesen waren, beurteilte Al Rowland von der Massey University, Neuseeland, die Daten zur Entwicklung von Krebserkrankungen als wenig aussagekräftig.23 Der britische Soldat McGinley gab an, er leide unter wiederholt auftretenden Hautproblemen und Unfruchtbarkeit. Um für eine Entschädigung zu kämpfen, gründete er den Betroffenenverband Britischer Antomtest-Veteranen.

Die britische Regierung argumentiert, Armeeangehörige hätten keine ausreichenden Beweise für Schädigungen vorgelegt. Wissenschaftlich betrachtet ist sie womöglich im Recht, doch dass ihre Bürokraten offenbar vorsätzlich auf die Erfassung solcher Beweise verzichtet haben – trotz aller Warnungen staatlicher Wissenschaftler, dass ihnen das Ärger einbringen könne –, macht einen schon stutzig: Wie das Protokoll einer Sitzung am britischen Atomwaffeninstitut in Aldermaston vom Juli 1958, einen Monat vor einem der Grapple-Tests, offenbart, wollten die dortigen Wissenschaftler bei den beteiligten Soldaten zuvor Blutproben entnehmen. So hätte geprüft werden können, ob die Anzahl der weißen Blutkörperchen im Anschluss gesunken wäre – ein mögliches Vorzeichen für Leukämie.

Wie das Protokoll festhielt, waren die Wissenschaftler außerdem »besorgt darüber, welche politischen Rückschläge drohen, sollte der Vorwurf der Fahrlässigkeit laut werden, und sei er noch so unbegründet. Falls keine Blutproben genommen werden und eine Person später tatsächlich erkrankt, würde das den Ausgang von vornherein ungünstig beeinflussen.«24 Militärangehörige, die an der Sitzung teilnahmen, lehnten den Vorschlag ab. Die befürchteten Rückschläge wurden vierzig Jahre später Wirklichkeit, als die Europäische Kommission für Menschenrechte entschied, die britische Regierung habe gegenüber ihren Soldaten rechtswidrig und unredlich gehandelt.25

Die Franzosen führten ihre oberirdischen Kernwaffentests zunächst in der algerischen Wüste durch. Doch nach der Unabhängigkeit Algeriens wandte sich auch Frankreich seinen Inseln im Pazifik zu. Zwischen 1966 und 1974 verursachten einundvierzig Tests auf den unbewohnten Atollen Mururoa und Fangataufa Fallout, der über großen Teilen Polynesiens niederging. Die Tests verstießen gegen das internationale Verbot von Kernwaffenversuchen gemäß dem Vertrag von 1963, den Frankreich nicht hatte unterzeichnen wollen. Wie die Amerikaner und Briten vor ihnen, betrachteten die Franzosen die Bewohner vor allem als lästig. Sie praktizierten eine hartnäckige Politik der Geheimhaltung und Leugnung und wiesen lautstark alle Vermutungen zurück, dass der Fallout eine Gefahr darstellen könne.

Im ersten Jahr der Tests wurde auf den Gambierinseln, vierhundert Kilometer von Mururoa entfernt, das Fünffache der zugelassenen jährlichen Strahlendosis gemessen. Keiner der mehreren Hundert Bewohner war evakuiert worden. Im folgenden Jahr mussten zwei französische Meteorologen, die gut hundert Kilometer entfernt stationiert waren, ins Krankenhaus gebracht werden, nachdem Fallout auf sie niedergegangen war. Die sechzig Bewohner dieses Atolls untersuchte trotzdem niemand.26

Nach dem Ende der oberirdischen Tests setzten die Franzosen das Programm unterirdisch fort. Als 1985 das Greenpeace-Schiff Rainbow Warrior in die Sperrzone des Testgebiets eingedrungen war, zog der französische Geheimdienst andere Saiten auf. Nachts versenkten Agenten das Schiff in einem neuseeländischen Hafen, wobei unbeabsichtigt ein Fotograf ums Leben kam, der noch einmal zurück an Bord gegangen war. 1996 wurden die Tests ganz beendet; sie hinterließen ein zerrissenes Atoll, übersät mit radioaktivem Material, darunter auch 18 Kilogramm Plutonium, das beim Auseinanderbrechen einer Bombe in die Lagune gefallen war.27


Nach 1945 wurden auf den dreizehn wichtigsten Testarealen mehr als fünfhundert Atomwaffen mit einer Sprengkraft von insgesamt 440 Megatonnen getestet, das entspricht der erschütternden Menge von 29.000 Hiroshima-Bomben. Die Gesamtmenge ihres Fallouts betrug das rund Sechshundertfache dessen, was 1986 beim Unfall von Tschernobyl, der größten nicht-militärischen Nuklearkatastrophe, frei wurde. Mehr als die Hälfte dieser 440 Megatonnen – 239 – wurden auf die gebirgige Insel Nowaja Semlja in der russischen Arktis losgelassen.

Dort wurde auch am 30. Oktober 1961 die bis heute größte Testbombe gezündet. Mit ihren 50 Megatonnen Sprengkraft war die Zar-Bombe mehr als dreimal so stark wie ihr größtes amerikanisches Gegenstück. Sie hatte das Zehnfache der Sprengkraft aller im Zweiten Weltkrieg abgeworfenen Bomben zusammen, und ihr Atompilz erreichte bei einem Durchmesser von fast 100 Kilometern die siebenfache Höhe des Mount Everest. Ihre Hitze verursachte 110 Kilometer entfernt Verbrennungen dritten Grades, und noch in fast tausend Kilometern Entfernung gingen Fensterscheiben zu Bruch. Nie wieder haben Menschen etwas Vergleichbares getan. Mit einem Viertel der beim Ausbruch des Vulkans Krakatau frei gewordenen Energie erinnerte die Explosion mehr an ein geologisches Ereignis als an eine Bombe. Ähnliches könnte man auch von den 133 unterirdischen Tests behaupten, die nach 1963 auf Nowaja Semlja durchgeführt wurden. Einer löste einen Erdrutsch aus, der zwei Gletschern den Weg versperrte, und ein mehr als anderthalb Kilometer langer See entstand. Durch einen weiteren Test taute der Permafrostboden bis zu einer Tiefe von über 90 Metern auf.28

Alle Erdbewohner haben vom Fallout der großen Tests aus dem Jahrzehnt zwischen 1954 und 1963 etwas abbekommen; niemand wurde verschont. Er lässt sich in den Wachstumsringen der Bäume ebenso nachweisen wie in den Korallenriffen, den Böden und den Küstensedimenten jedes Kontinents. Auf dem Höhepunkt im Jahr 1963 erhielt jeder Mensch im Durchschnitt eine Dosis von 0,15 Millisievert, was nur etwa vier Prozent einer typischen Jahresdosis aufgrund der natürlichen Umgebungsstrahlung entspricht. Nur in wenigen Gegenden erreichten die Dosen eine Höhe, die wohl zu Schädigungen führen konnte, doch wie wir in Kapitel 20 noch sehen werden, herrscht große Unsicherheit darüber, wie viele Menschen der Weltbevölkerung durch kleinste Strahlendosen ums Leben kommen. Kann sein, dass der Fallout niemanden das Leben gekostet hat, es kann aber auch sein, dass er für den Tod Zehntausender verantwortlich ist.

Während solche Fragen selbstverständlich wichtig sind, sollten wir darüber nicht die vielen weitaus unmittelbareren Probleme der Menschen aus den Augen verlieren, die das Pech hatten, in der Nachbarschaft von Kernwaffentestgebieten zu leben. Um mir ein besseres Bild davon zu machen, habe ich die bruchstückhaften, aber zunehmend überzeugenden Dokumente durchforstet, die zeigen, was rund um das sowjetische Testareal von Semipalatinsk in der ostkasachischen Steppe geschah, dort, wo früher häufig ein tödlicher radioaktiver Nebel übers Land trieb.

Fallout

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