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Einleitung UNTERWEGS INS ANTHROPOZÄN

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An einem sonnigen Morgen im September 1957 fuhr im Vorgebirge des Urals, der Gebirgskette, die das europäische Russland von Sibirien trennt, ein Konvoi Militärlastwagen eine schmale Straße am Ufer eines Sees hinunter. In dem kleinen Dorf Satlykowo hielt er an. Soldaten der Roten Armee klopften an die Türen und befahlen den wenigen Hundert Einwohnern, sich zu entkleiden, die Ersatzkleidung aus den Wagen überzuziehen und einzusteigen. Die Dorfbewohner wurden evakuiert. Ihr Eigentum durften sie nicht mitnehmen, nicht einmal Geldscheine. In aller Eile ließen sie ihren weltlichen Besitz zurück, und um ihre Rückkehr zu verhindern, rissen die Soldaten ihre Häuser nieder und erschossen Haustiere und Vieh.

Gründe für die Evakuierung nannten die Soldaten nicht. Selbst wenn sie informiert gewesen wären, hätten sie nicht preisgeben dürfen, dass es eine Woche zuvor in den Abfalltanks der größten russischen Plutoniumfabrik in der nahe gelegenen geschlossenen Stadt, die heute Osjorsk heißt, eine Explosion gegeben hatte. Sie durften auch nicht erklären, dass die seltsame dunkle Wolke, die sich nur Stunden danach auf Satlykowo herabgesenkt hatte, lebensbedrohlichen Fallout aus dem Unfall enthielt.1 Höchstwahrscheinlich war er verantwortlich für den Tod der zehn Monate alten Tochter von Iran Chaersamanow, die nach dem Erscheinen der Wolke mit ihrer Großmutter im Garten gewesen war, anschließend schweren Durchfall bekam und wenige Stunden später starb. Sie war die Letzte, die auf dem Friedhof des Dorfs begraben wurde.2

Die Soldaten konnten deshalb nichts dazu sagen, weil die bloße Existenz der Kernwaffenanlage ein Militärgeheimnis war, das nur die innerhalb der Sperrzone beschäftigten Arbeiter kannten. Kein Außenstehender durfte jemals davon erfahren.

An einem ebenso sonnigen Morgen sechzig Jahre später besuchte ich Satlykowo als erster westlicher Journalist seit dem Unfall. Ich fuhr durch ein Tor, das noch immer von bewaffneten Soldaten bewacht wurde, und folgte einer langen ausgefahrenen Straße. Den Ort fand ich, doch die Überreste der fünfundsiebzig hastig eingerissenen Häuser waren von Pflanzen überwuchert. Überall wuchsen Brennnesseln. Unmengen riesiger Libellen schwirrten durch die stickig heiße Luft. Der See jenseits der zugewachsenen Felder war voller Fische, aber niemand durfte sie fangen. In dem Wald, der sich links und rechts des Weges ausbreitete, lebten Hirsche, Wildschweine und Füchse. Er mochte radioaktiv belastet sein, war aber alles andere als eine öde Mondlandschaft.

Das war der Beginn meiner Entdeckungsreise auf der Suche nach dem radioaktiven Erbe des nuklearen Zeitalters; eines Zeitalters, das wahrscheinlich und hoffentlich bald zu Ende geht. In diesem Buch erkunde ich die unheimlichen, durch Atomunfälle verseuchten Landstriche – manche so bekannt wie Tschernobyl oder Fukushima, andere weitgehend unbekannt wie das Gebiet um Satlykowo. Ich besuche Orte, an denen im Namen der Wissenschaft oder im Krieg Atombomben abgeworfen wurden und wo heute radioaktiv belastete Wölfe umherstreifen, während kein Mensch sie zu betreten wagt. Dabei versuche ich, unsere vielfältigen individuellen und gesellschaftlichen Reaktionen auf die entfesselte Macht der Atome zu verstehen, auf die düsteren Ahnungen und auf die tatsächliche Gefahr, dass sie uns alle auslöschen könnte. Gerade dieses junge psychologische Terrain erweist sich in vielerlei Hinsicht als besonders befremdlich.


Meine Reise hat auch eine ganz persönliche Seite. Von der Kerntechnik hörte ich zum ersten Mal 1962, während der Kubakrise. Ich war zehn Jahre alt und machte mich gerade für die Schule fertig, als mein Vater mir aus heiterem Himmel mitteilte, wenn ich während der Pause eine Pilzwolke sähe, solle ich zurück ins Klassenzimmer gehen und mich unter meinem Tisch verstecken. Ich weiß noch, dass ich ganz durcheinander war, vor allem, weil ich nicht wusste, wie so eine Pilzwolke aussehen sollte. Doch während der Pause betrachtete ich eine Zeit lang den Himmel – nur für alle Fälle. Ich kann den blauen Himmel hinter dem großen Baum auf der anderen Straßenseite immer noch vor mir sehen und erinnere mich, dass ich ein bisschen enttäuscht war, als keine Pilzwolke erschien.

Die Tatsachen des Atomzeitalters waren damals für alle neu: unheimlich und irgendwie geheim – sogar für die Erwachsenen. Ich glaubte noch, Erwachsene wüssten alles, doch vor dieser Atomsache hatten sie ebenso viel Respekt wie wir Kinder und wussten genauso wenig darüber. Da ich im Südosten Englands groß geworden bin, habe ich mich wohl selbst einmal unter einer unsichtbaren radioaktiven Wolke befunden. Nach dem Feuer in der Plutoniumfabrik von Windscale 1957 zog sie über die Insel. Doch niemand wusste davon, denn welche Richtung sie genommen hatte, war ein Staatsgeheimnis. Der Bevölkerung wurde gesagt, die Wolke sei aufs Meer hinausgezogen und ohnehin nicht stark radioaktiv gewesen. Das war gelogen; erwachsene Menschen wurden angelogen, als wären sie Kinder.

Wie alle anderen musste auch meine Familie damals für das Privileg bezahlen, im Atomzeitalter zu leben. Während meiner ersten Lebensjahre besaß in Großbritannien jeder eine Lebensmittelkarte. Sie begrenzte die Menge, die wir kaufen durften. Nur durch Rationierung und Entbehrungen konnte das bankrotte Großbritannien es sich leisten, mit den USA Schritt zu halten und eigene Atombomben zu bauen. So gut sich das anfühlte, so sehr machte uns die eigene Bombe zum bevorzugten Ziel, hätte sich die Sowjetunion – die die Pläne für ihre Bombe von dem in Deutschland geborenen britischen Wissenschaftler und Spion Klaus Fuchs bekommen hatte – zum Erstschlag entschlossen. Oder auch zu einem Zweitschlag.

Glücklicherweise hat seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs niemand mehr in kriegerischer Absicht eine Atombombe auf ein Land abgeworfen. Einzig die Japaner in Hiroshima und Nagasaki erlitten dieses Schicksal. Gleichwohl habe ich, wie jeder Mensch in den 1950er- und den frühen 1960er-Jahren, Luft geatmet, die mit radioaktiven Stoffen aus Atomwaffentests an so entlegenen Orten wie Semipalatinsk im heutigen Kasachstan und dem Bikini-Atoll im Pazifik belastet war. Und auch ich nannte die herrlich minimalistischen zweiteiligen Badeanzüge, wie Brigitte Bardot und andere unerreichbare Frauen sie trugen, »Bikinis«. Denn um ehrlich zu sein, fand man es in meiner Jugend nicht nur Furcht einflößend, im Atomzeitalter zu leben, sondern mindestens ebenso aufregend. Atomkraft war »in«. Und falls wir nicht irgendwann in die Luft flogen, versprach die Nukleartechnik unser Leben zu verändern und, wie es hieß, so billige Elektrizität zu erzeugen, dass sich »Stromzähler nicht mehr lohnen«.

Das war damals, doch schon von Beginn an trug diese schöne neue Atomwelt das Potenzial in sich, sich selbst zu zerstören. Ich glaube, es sind gar nicht so sehr die Strahlung oder die riesige Sprengkraft, die seit jeher ihr negatives Image ausmachen, sondern die Geheimniskrämerei und all der Betrug. Die Sache mit dem billigen Strom war natürlich immer schon gelogen. Das Gleiche gilt für die Legende, die »friedliche Nutzung der Atomenergie« habe nichts mit ihrer kriegerischen Nutzung zu tun.

Vor mir liegt der schmale Band Die britischen Atomfabriken: Geschichte der Atomenergieerzeugung in Großbritannien aus dem Jahr 1954, herausgegeben vom Ministry of Supply. Schon der Name »Beschaffungsministerium« war ein George-Orwell-würdiger Euphemismus, denn in Wirklichkeit war es ein Kriegsministerium. Der Umschlag zeigt zwei der »Meiler« von Windscale, die damals in aller Eile Plutonium für britische Bomben herstellten. Doch das einhundert Seiten starke Buch gibt auf neunundneunzig Seiten vor, die Meiler seien konstruiert worden, um »grenzenlose Energie« zu erzeugen. Tatsächlich produziert haben sie keine. Erst auf der letzten Seite wird eingestanden, ihr eigentlicher Zweck sei es, Plutonium herzustellen, welches »als Sprengstoff in Atombomben […] verwendet werden kann«.3

Ein doppeltes Spiel wie dieses war bei Regierungen in aller Welt verbreitet. Niemandem von den Zehntausenden, die in den 1950er-Jahren das Wasser des schmalen sibirischen Flusses Tetscha tranken, wurde gesagt, dass er lebensbedrohliche Mengen radioaktiven Abfalls aus einer Bombenfabrik wenige Kilometer flussaufwärts mit sich führte und dass die Ärzte vor Ort heimlich die Gesundheitsfolgen für ihre Patienten dokumentierten. Menschen aus dem Umland von Denver, Colorado, glaubten die offizielle Darstellung, dass die hell erleuchtete Fabrik auf dem Hügel Haushaltsreiniger herstellte und nicht Plutoniumkerne für Bomben. Und erst recht erzählte ihnen niemand, dass das radioaktive Metall nach einem Brand schon einmal auf sie herabgeregnet war.

Ob nach dem Feuer im britischen Windscale oder der Katastrophe von Tschernobyl, ob in Rocky Flats oder Three Mile Island in den USA, ob im sowjetischen Majak oder in Fukushima – überall herrschen seit jeher dieselbe zwanghafte Geheimhaltung, Hinterhältigkeit und Verantwortungslosigkeit, und sie überdauern selbst den Wandel von einer militärischen zu einer zivil genutzten Technologie. Arglistige Verschleierungen rund um die Atomkraft haben das Vertrauen der Gesellschaft untergraben und der öffentlichen Debatte und Entscheidungsfindung sehr geschadet.

Das erklärt auch die Entstehung einiger besonders kämpferischer Umweltschutzbewegungen. Greenpeace etwa hat seinen Ursprung im Don’t Make a Wave Committee (»Mach keine Welle«), einer Gruppe aus der kanadischen Provinz British Columbia, die 1969 gegen unterseeische Atomtests der Amerikaner vor den Aleuten im Pazifik protestierte. Den Grünen, Vorreiter vieler ähnlicher Parteien weltweit, war schon bei ihrer Gründung der Kampf gegen Atomkraft auf deutschem Boden genauso wichtig wie die Säuberung des Rheins.

Der Abschottungshaltung der Kerntechniker steht die Hysterie mancher Kernkraftgegner gegenüber. So stützte sich das Don’t Make a Wave Committee bei seiner Kampagne auf das Argument, die Atomtests vor den Aleuten würden ein Erdbeben und einen Tsunami auslösen – was selbst die Organisatoren, wie sie heute zugeben, nie für möglich hielten.4 Wer sich für die Wurzeln der postfaktischen Argumentation in der heutigen Politik interessiert, ist sicher nicht schlecht beraten, deren Vorläufer in der Atompolitik zu untersuchen. Es ist kein Wunder, dass die meisten nichts von dem glauben, was man uns im Zusammenhang mit Kerntechnik erzählt, und immer vom Schlimmsten ausgehen.


Unabhängig davon, wie man zur Kerntechnik steht, herrscht Einigkeit darüber, dass die Welt nach der Detonation der ersten Atombombe nicht mehr dieselbe war. Seit diesem Augenblick liegt das Schicksal der Erde und unserer Spezies in unseren Händen – oder genauer gesagt: in den Händen derjenigen, die Zugriff auf den Atomknopf haben. Dieser Augenblick hat unsere Überlegungen zu vielen Themen verändert. Die Globalisierung wurde zu einer Tatsache, die über Leben oder Tod entscheiden kann. Auf einmal war kein Ort mehr sicher vor »der Bombe« und ihrem Fallout. Diese Erkenntnis ist beispielhaft für unser neues Verhältnis zur Erde.

Nach Ansicht vieler Wissenschaftler leben wir heute in einer neuen geologischen Epoche, dem Anthropozän, in der die Menschen den Planeten Erde und seine wichtigsten Prozesse beherrschen, indem sie sein Klima, seine Biodiversität und seine chemische Zusammensetzung beeinflussen. Vermutlich wird die für derartige Fragen zuständige Organisation – die Internationale Kommission für Stratigrafie – bald erklären, dass das Holozän, dessen Beginn mit dem Ende der letzten Eiszeit zusammenfällt, vorüber ist und das Anthropozän begonnen hat. Das »Primärsignal« dieses neuen Zeitalters der Menschheit, so sagt sie bereits heute, ist der »Plutonium-Fallout« der ersten Atombomben.5

Plutonium ist ein ursprünglich in der Natur äußerst seltenes Element, das wegen seines Potenzials zum Bombenbau von Atomwissenschaftlern künstlich erzeugt wird.6 Da es durch den Fallout der Kernwaffentests über die ganze Erde verteilt wurde, kommt es inzwischen sowohl an Böden gebunden als auch in Pflanzen vor und sammelt sich am Grund der Ozeane an. Es ist unsere einzigartige Signatur auf der Erde und wird im Verlauf seines Zerfalls noch über Millionen Jahre hinweg radioaktive Strahlung aussenden. Der Beginn des Anthropozäns ist damit auf den 16. Juli 1945 bei Sonnenaufgang datiert, auf den Tag, an dem die erste Plutoniumbombe über der Wüste von New Mexico zur Explosion gebracht wurde. Der Anbruch eines neuen Zeitalters. Kein Wunder, dass die Kernkraft solche Emotionen in uns weckt.

Das Atomzeitalter wühlt unsere Gefühle auf und schafft Durcheinander im Kopf. Jeder hat eine Meinung dazu: Man ist entweder dafür oder dagegen, optimistisch oder pessimistisch, Panikmacher oder Technikgläubiger. Der Grund ist nicht allein die überwältigende Macht, die die Atomenergie uns verleiht. Das ist, je nach persönlicher Einstellung, verführerisch oder eben Furcht einflößend. Es liegt auch an der Strahlung. Sie ist unsichtbar, geruchlos und unberührbar. Wie ein Gespenst. Sie ist offen für alle Interpretationen, und das nutzen wir aus.

Wenn wir über Atomkraft sprechen, reden wir häufig großen Unsinn. Die Macht der Wissenschaft, Atome steuern zu können, hat offenbar unsere Unvernunft entfesselt. Und das betrifft beide Seiten. Atomkraftgegner wollen nichts Gutes darüber hören, Befürworter nichts Schlechtes. Manche Gegner attackieren die etablierte Wissenschaft zum Strahlenschutz mit derselben Vehemenz und derselben Missachtung anerkannter Fakten wie Skeptiker, die den wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Klimawandel widersprechen. Befürworter hingegen reagieren mit einer technikgläubigen Hybris, wie sie sich heute in anderen Bereichen kaum mehr beobachten lässt.

Nach den Recherchen zu diesem Buch habe ich mich gefragt, ob wir es jemals richtig machen können, oder ob unser Verhältnis zur Nukleartechnik unwiederbringlich zerrüttet ist. Nach mehr als sieben Jahrzehnten mit der Atomkraft sollten wir allmählich gelernt haben, sie zu verstehen. Alle Anzeichen sprechen jedoch dagegen. Nichts deutet darauf hin, dass der Fallout in unseren Köpfen wieder verschwindet.

Fallout

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