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Kapitel 5 SEMIPALATINSK: DIE GEHEIMNISSE DER STEPPE
Оглавление»All das war viele Jahre lang geheim«, schrieb mir Kazbek Apsalikow, der Direktor des Instituts für Strahlenmedizin und Ökologie (IRME), einer kasachischen Regierungsbehörde. Ich hatte ihn per E-Mail kontaktiert, weil er Mitverfasser eines Artikels über die sowjetischen Kernwaffentests war, die vor einem halben Jahrhundert in Semipalatinsk stattgefunden hatten. In einem hochinteressanten Absatz hatte der Text aus dem Jahr 2014 von einer tödlichen Falloutwolke berichtet, die 1956 über eine Großstadt in Kasachstan hinweggezogen sei. Die 250.000 Einwohner von Ust-Kamenogorsk (heute Öskemen), eines Zentrums der Schwerindustrie, gut vierhundert Kilometer vom Detonationsort entfernt, »waren durch nuklearen Fallout teils Strahlendosen ausgesetzt, die so hoch waren, dass sie akute Strahlenkrankheit auslösten«, hatte Apsalikow geschrieben. In der Folge »[wurden] 638 an Strahlenkrankheit leidende Menschen in ein Spezialkrankenhaus gebracht, das Dispensarium Nr. 3 […] Moskau schickte eine von einem Minister geleitete ›Sonderkommission‹, die herausfinden sollte, was geschehen war.«1
Apsalikow selbst war in den ehemals geheimen Archiven seines Instituts auf dieses spannende Fitzelchen Information gestoßen. »Leider sind keine weiteren Daten über das Schicksal dieser Leute zugänglich«, erklärte er mir. Vermutlich seien die Akten größtenteils nach Moskau gebracht worden, entweder damals schon oder dann 1991, als die Sowjetunion zerfiel. Was an jenem Tag geschehen war, sollte geheim bleiben. So wissen wir noch immer nicht, wie viele Menschen, die mit akuter Strahlenkrankheit eingeliefert worden waren, am Ende daran starben. Bekannt ist jedoch, dass weitaus mehr erkrankten als nach dem Unglück von Tschernobyl; dort litten 134 Menschen an ähnlichen Symptomen, und achtundzwanzig von ihnen starben wenig später. Überträgt man das Zahlenverhältnis auf Ust-Kamenogorsk, wären dort 130 Menschen ums Leben gekommen. Aber das ist reine Spekulation.
Nach seiner Inbetriebnahme 1949 hatte sich das Areal von Semipalatinsk zum geschäftigsten Bombentestgelände weltweit entwickelt. Außerdem unterlag das von den Sowjets Polygon genannte Gebiet der strengsten Geheimhaltung. Insgesamt wurden 619 Tests dort durchgeführt, davon 122 oberirdisch. Die in Hauptwindrichtung lebenden Menschen wurden nicht über die Pläne der Bombentester informiert. Viele spürten die Erde beben und sahen das Leuchten und die pilzförmigen Wolken, doch in den Zeiten Josef Stalins stellte man besser nicht zu viele Fragen. Ganz besonders nicht in einer geschlossenen Stadt, wo Uran für die Atomindustrie gefördert und verarbeitet wurde.
Dennoch war die Fallout-Wolke über einer so großen Stadt ein Weckruf für die Sowjetbehörden. Sie müssen sich gedacht haben, dass es hier um mehr ging als nur ein paar entbehrliche Bauern.2 Daher forderte die »Sonderkommission«, die sich vor allem aus Wissenschaftlern des Moskauer Instituts für Biophysik zusammensetzte, wissenschaftliche Messungen der Radioaktivität, um die Strahlenbelastung der rund eine Million Menschen zu bestimmen, die in Hauptwindrichtung nahe dem Testareal lebten.
Das unter dem Namen »Dispensarium Nr. 3« eilig eingerichtete Krankenhaus wurde zu einer dauerhaften Forschungsanstalt, aus der später das IRME hervorging, das Apsalikow heute leitet. Seit damals erfasst und dokumentiert das Institut das Schicksal der Atomtestopfer, zuerst in seiner Funktion als geheime sowjetische Forschungsstelle, seit 1991 als öffentliche Einrichtung. Selbst andere vor Ort ansässige Wissenschaftler erfuhren vor 1991 nur wenig von den gewonnenen Erkenntnissen. Danach wurde das Archiv offenbar aufgelöst – bis auf diesen einen Bericht, auf den Apsalikow jetzt gestoßen war.
Geschrieben hatten ihn 1957 die Wissenschaftler des Moskauer Instituts für Biophysik, und er schildert die »Expedition« der Sonderkommission nach Semipalatinsk. Er ist auf Russisch verfasst und als »streng geheim« gekennzeichnet, Apsalikows Mitarbeiter haben ihn für mich übersetzt. Angesichts seiner Mischung aus Pedanterie, Vagheit und einzelnen atemberaubenden Enthüllungen bin ich mir so gut wie sicher, dass er echt ist.
Die Forscher berichten von einer großflächigen und dauerhaften radioaktiven Kontamination der Städte und Dörfer Ostkasachstans. Mitte September 1956 betrug die Strahlendosis durch das Einatmen der Luft in und um Ust-Kamenogorsk 1,6 Mikroröntgen pro Stunde, was ungefähr 140 Millisievert pro Jahr entspricht. Das war das Hundertfache des damals »zulässigen Werts« und offenbar die Folge einer »vor kurzer Zeit erfolgten Kontamination«, so der Bericht.3
Einen Monat später hatte die Expedition in einigen Dörfern Proben genommen. Am schlimmsten stand es um Snamenka auf dem halben Weg zwischen dem Polygon und Ust-Kamenogorsk. Es hatte wohl genau in der Bahn des Fallouts gelegen. »Nahe Snamenka fiel über mehrere Jahre wiederholt ein Niederschlag aus radioaktiven Substanzen, die Menschen und Umwelt schadeten«, hielt der Bericht fest. Dieser Fallout sei »eine Gefahr für die Gesundheit«. Die Bedrohung sei »ernster und gefährlicher als im Bezirk Ust-Kamenogorsk«. Bei ihrem Besuch des Dorfs hatten Armeeärzte drei Personen mit Schädigungen des Blutkreislaufs und des Nervensystems angetroffen und diese als Symptome einer akuten Strahlenkrankheit diagnostiziert.
Außerdem kam die Expedition zu dem Ergebnis, dass Kara-aul, ein landwirtschaftlicher Bezirk südöstlich des Polygons, nach wie vor durch den »gefährlichen« Fallout eines drei Jahre zuvor durchgeführten Tests kontaminiert sei. Am 12. August 1953 war er genau über Karaaul hinweggezogen.4 Die Ermittler fanden im Umkreis weitere offenkundige Fälle von akuter Strahlenkrankheit, doch laut Bericht hatte das medizinische Personal Schwierigkeiten, zwischen den Symptomen der Strahlenkrankheit und der Brucellose, einer durch Kontakt mit Vieh übertragenen Erkrankung, zu unterscheiden. In jüngerer Zeit haben Forscher die Vermutung geäußert, diese »Verwechslung« sei vielmehr Teil einer skrupellosen Strategie gewesen. Wie Cynthia Werner von der texanischen A&M University erläutert, wurde das »Dispensarium Nr. 3« in »Anti-Brucellose-Dispensarium Nr. 4« umbenannt, um seinen wahren Auftrag zu verschleiern: die Auswirkungen der Strahlenexposition auf die Ortsbevölkerung zu beobachten.5
Wer in der Hauptwindrichtung des Polygons lebte, atmete nicht nur strahlendes Material in besorgniserregendem Maß ein, sondern nahm es auch mit der Nahrung zu sich. Die Autoren des Berichts von 1957 stellten eine »beträchtliche Kontamination der Böden, der Vegetation und der Nahrung« fest. Stuhlproben der Arbeiter einer südlich des Polygons gelegenen Kolchose wiesen eine hohe Radioaktivität auf, was sich aber änderte, nachdem die Familien von außerhalb herbeigeschaffte, saubere Nahrung bekommen hatten. Die Expedition forderte ein Verbot des Konsums von lokal angebautem Getreide, »das am stärksten kontaminiert war«. Außerdem sei »davon abzuraten, Atomtests (besonders Explosionen am Boden) durchzuführen, ehe die ganze Ernte der Felder eingebracht und Getreide und Gemüse in Lagern, Schuppen, Kellern etc. eingelagert« sei. Wie die Termine der folgenden Tests beweisen, wurde diese Empfehlung nicht befolgt.6
Zwischen 1949 und 1962 führte die Sowjetunion im Polygon mehr als einhundert oberirdische Kernwaffentests durch. Auf nur vier dieser Tests – jeweils im August 1949, im September 1951, im August 1953 und im August 1956 – gehen insgesamt 95 Prozent der Strahlendosis zurück, der die örtliche Bevölkerung ausgesetzt war.7 Der erste – bei dem die Welt entsetzt feststellen musste, dass nicht nur Uncle Sam die Bombe besaß, sondern auch Onkel Josef – war womöglich zugleich der schlimmste. Er fand am Morgen des 29. August 1949 statt. Die Wirkung der Bombe wurde dadurch noch vergrößert, dass sie in nur 36 Metern Höhe zur Detonation gebracht wurde. Der Feuerball traf mit enormer Wucht auf den Boden und riss riesige Mengen Erdreich in die Luft, das dadurch radioaktiv kontaminiert wurde und in einer dichten Wolke über Dutzende kasachischer Dörfer hinweg in Richtung Nordosten über die Grenze und bis in den russischen Teil des Altai-Gebirges zog.
Direkt vom Fallout betroffen war das Dorf Dolon, das rund 110 Kilometer entfernt am Ufer des Flusses Irtysch liegt. Niemand wurde evakuiert. »Wegen der offiziellen Geheimhaltung wurden die Leute nicht gewarnt, in ihren Häusern zu bleiben. Sie waren sich selbst überlassen«, erzählte Leonid Iljin, der Direktor des russischen Instituts für Biophysik, meinem Kollegen Rob Edwards mehr als vierzig Jahre später, als sich in der Sowjetunion der Schleier der Geheimhaltung hob.8 Allerdings hätte es ohnehin wenig genützt, drinnen zu bleiben, denn die Holzhäuser boten kaum Schutz vor der Strahlung. Jüngste wissenschaftliche Schätzungen anhand der alten Messungen aus Sowjetzeiten ergaben, dass die Bewohner von Dolon wohl allein durch diesen Test eine durchschnittliche Dosis von 1.300 Millisievert erhielten – genug, um eine wahre Epidemie akuter Strahlenkrankheit auszulösen, die wohl viele Todesopfer forderte. Eine Strahlenbelastung in ähnlicher Höhe erlitten die Einwohner von Sarzhal, 120 Kilometer südöstlich des Testgeländes, als ihr Ort am 12. August 1953 direkt vom Fallout getroffen wurde.9 Und die zwanzigtausend Bewohner des Landkreises Uglowskoje, kurz hinter der russischen Grenze, waren laut Iljin wohl rund 800 Millisievert ausgesetzt.10 Die Studien sind zu dem Ergebnis gekommen, dass im Lauf der Jahre rund zehntausend Menschen in der Umgebung des Polygons vermutlich Strahlendosen von über 70 Millisievert erhalten haben, und damit einem potenziellen Gesundheitsrisiko ausgesetzt waren.11
Kaischa Atachanowa gehört zu den Leuten, die sich gut an diese Zeit erinnern, denn sie ist in Karaganda aufgewachsen, einer Stadt mit einer halben Million Einwohner, vierhundert Kilometer westlich des Polygons. Später, als Biologin, forschte sie an den Fröschen, die in den radioaktiv belasteten Tümpeln des Polygons leben, und wurde schließlich Umweltschützerin. Ich interviewte sie in London, als sie gerade mit dem angesehenen Goldman Environmental Prize für Umweltschutz ausgezeichnet worden war. »Die Leute sahen diese riesigen Pilzwolken am Himmel, wussten aber nicht, was das war«, erzählte sie mir. Nach 1956 wurden ein paar halbherzige Anstrengungen zum Schutz der Menschen unternommen: »Soldaten kamen in die Dörfer und sagten ihnen, sie sollten ins Freie gehen, sich in Gräben legen und sich mit weißen Sachen zudecken, etwa mit Laken oder Handtüchern, und nicht nach oben schauen. [An anderen Tagen] gaben sie den Leuten Rotwein, angeblich ein Gegenmittel gegen die Strahlung.«
Es gab sogar Evakuierungen: »für ein paar Tage, bis der Staub sich gelegt hatte. Aber das Vieh und die Hühner blieben in den Dörfern. Danach wohnten die Menschen wieder in ihren radioaktiv verseuchten Häusern, zusammen mit ihren radioaktiv verseuchten Tieren.« Sie schwammen sogar in dem See, der durch einen Bombentest entstanden war, und fingen die darin lebenden Fische; dort, wo Atachanowa später an radioaktiv belasteten Amphibien forschen sollte. »Sie wussten nicht, dass es gefährlich war.«12
Die Auswirkungen der Bombentests im Polygon auf die Gesundheit der Menschen sind im Lauf der Jahre oft übertrieben dargestellt worden. Nachdem der gerade unabhängig gewordene Staat Kasachstan 1991 das Testgelände geschlossen hatte, schwor er den Nuklearwaffen ab und erfand sich als Opfer des sowjetischen Atomwaffenprogramms neu.
Einige Jahre lang war auf der Website seiner diplomatischen Vertretung in den USA ein Banner mit dem Schriftzug »Der nukleare Albtraum von Kasachstan« zu sehen.13 Reporter sollten dazu animiert werden, ein Gruselkabinett in Formaldehyd konservierter deformierter Föten an der Staatlichen Medizinischen Akademie Semei zu besuchen und in die Dörfer hinauszufahren, wo die Leute allzu bereit waren, ihre Horrorgeschichten zu erzählen und ihre kranken Kinder vorzuführen.14
Wie glaubhaft ist all das? Kranke und missgebildete Kinder leben überall auf der Welt; schrecklich aussehende Föten aus Abtreibungen und Fehlgeburten gibt es in jedem Krankenhaus. Die Frage ist, ob sie in diesem bestimmten Gebiet zahlreicher sind als statistisch zu erwarten, und ob das in irgendeiner Form auf die Strahlung aus den Atomwaffentests zurückgeführt werden kann.
In den 1990er-Jahren begannen die Forscher um Apsalikow am IRME, Informationen über die Menschen, die im Schatten der Falloutwolken gelebt hatten, in einer Datenbank zu sammeln. Die daraus gezogenen Schlüsse sind umstritten. Manche Wissenschaftler sind überzeugt, Auswirkungen der Strahlung erkennen zu können. Laut Marat Sandybajew, dem Leiter des Onkologischen Zentrums von Semei, sind Krebserkrankungen in den Gebieten in der Hauptwindrichtung doppelt so häufig wie statistisch zu erwarten.15 Eine andere Studie ermittelte eine erhöhte Zahl von Leukämiefällen unter den Kindern, die in den 1980er-Jahren weniger als 190 Kilometer von dem Testgelände entfernt gelebt hatten.16 Manche Forscher schließen nicht immer klar aus, ob etwa Störvariablen wie schlechte Lebensbedingungen oder Mangelernährung daran schuld sind, und nicht radioaktive Strahlung.17 Gleichwohl machen die hohen Strahlendosen, denen die Menschen der ganzen Region um Semipalatinsk ausgesetzt waren, diese Schlussfolgerung sehr plausibel.
Heute zieht das Polygon die Fans des sogenannten Dark Tourism an. Es gibt Führungen zu den Betontürmen, in denen die Instrumente zur Messung der Sprengkraft installiert waren. In ihrer Nähe ist die Strahlung bis heute recht hoch. Das führt zu der Frage, ob die Bewohner der Steppenregionen Ostkasachstans hier ein halbes Jahrhundert später überhaupt schon wieder gefahrlos Fische fangen, ihre Schafe weiden lassen, die Luft atmen, Brot und Milch aus der Gegend verzehren und in ihrem Garten Gemüse anbauen können.
Ein großer Teil der radioaktiven Isotope ist zerfallen. Die Strahlenbelastung bewegt sich selbst bei denjenigen, die Lebensmittel aus der Region zu sich nehmen, in einer geringeren Größenordnung als zu der Zeit der Atomwaffentests. Aber weiterhin liegt Material herum, das die Geigerzähler zum Knattern bringt. 2006 stießen japanische Forscher in den Böden rings um das Dorf Dolon, über das 1949 die Falloutwolke niedergegangen war, auf Plutonium.18 Sergej Lukaschenko, als stellvertretender Direktor des Nationalen Nuklearzentrums von Kasachstan zuständig für die Verwaltung des Polygons, ist dennoch optimistisch. Wie er mir sagte, könnten nach weiteren Reinigungsmaßnahmen bis zu 80 Prozent des Geländes »der Gesellschaft zur gewöhnlichen wirtschaftlichen Nutzung zurückgegeben werden«.
Das bedeutet im Umkehrschluss, dass er die übrigen 20 Prozent – ein Gebiet so groß wie Israel – in absehbarer Zukunft weiterhin als unsicher betrachtet. Wie Apsalikow es formuliert, ist das Testareal »nicht die endzeitliche Katastrophenzone, zu der es manchmal erklärt wird, aber es ist auch klar, dass ein Teilgebiet nie wieder zu einem natürlichen Zustand zurückfinden wird, dass die Lage in anderen Gebieten ungeklärt und potenziell gefährlich ist und dass die Menschen vor Ort bis heute Gesundheitsrisiken und psychologischem Stress ausgesetzt sind«.19
Gerade dieser psychologische Stress ist bedeutsam. Wie die Strahlung ist auch er eine Folge der Atomwaffenversuche. Die Vorstellung, dass man selbst oder das eigene Kind aufgrund von Bombentests, die vor Jahrzehnten im eigenen Land stattfanden, eine Erkrankung in sich trägt, ist beängstigend. Ebenso beängstigend ist es, nicht zu wissen, was aus der nächsten Umgebung überhaupt bedenkenlos verzehrt oder verwendet werden kann und was einen das Leben kosten könnte.
Eine solche Angst kann einen zerfressen. Bei einer regionalen Untersuchung kam zutage, dass zwei Drittel der Menschen, die die Zeit der Atomwaffentests selbst erlebt haben, glauben, der Fallout sei verantwortlich für die schlechte Gesundheitslage in ihrem Umfeld. Womöglich irren sie sich. »Offenbar führen viele Ortsansässige alle möglichen Probleme auf das nukleare Erbe zurück«, sagt Apsalikow. Doch von der radiologischen Wirkung der Strahlung ganz abgesehen, »sind psychologischer Stress und Angst ein bedeutendes und andauerndes Erbe der Kernwaffenversuche«.20
Das glaubt auch Atachanowa. Ihrer Ansicht nach waren wohlmeinende Forscher durch die Art und Weise ihres Umgangs mit Menschen, die als Falloutopfer galten, oft wenig hilfreich. »Wissenschaftler untersuchten die Leute und schrieben Fachartikel über sie. Aber geholfen hat ihnen keiner«, erzählte sie mir. »Sie kamen sich vor wie Versuchskaninchen.«
Vielleicht aber steht diese passive Opferrolle, sei sie nun radiologisch oder psychologisch begründet, zu sehr im Fokus. Forscher, die Zeit bei den Menschen in der Öde von Semipalatinsk verbracht haben, berichten von einer zwiespältigen Haltung gegenüber den Risiken. Viele Leute sind entschlossen, wieder selbst Herr der Lage zu werden. Scheinbar furchtlos widersetzen sich viele den staatlichen Vorschriften und ziehen durch die radioaktiv belastete Steppe, bauen Futterpflanzen an und pflücken wild wachsende Erdbeeren. Schafe und Rinder lassen sie zu Zehntausenden in der Nähe der kontaminierten Testareale und vollgelaufenen Krater weiden.
Die Dorfbewohner verfügten über eine ganz eigene psychologische Überlebensstrategie, sagt die Ethnologin Magdalena Stawkowski von der Universität Stanford. »Viele behaupten, sie seien ›Mutanten‹ und hätten sich an die Strahlung gewöhnt. Sie betrachten ihr verstrahltes Erbgut als genetisch weiterentwickelt und perfekt an ihr Ökosystem angepasst. Sie halten sich für verbesserte Menschen, die auch in toxischer Umgebung überleben können.« Auf Außenstehende möge eine solche Haltung befremdlich wirken, sagte sie, doch einem ewigen Selbstbild als geschädigtes Opfer sei sie womöglich vorzuziehen.21