Читать книгу Die Entführung der MS Hansa Stavanger - Frederik Euskirchen - Страница 17
2.3 Der erste Tag unter den Piraten
ОглавлениеNach dem sechsstündigen Kampf mit dem Feuer gönnen uns die Piraten etwas Ruhe.
Sie machen uns verständlich, dass wir etwas essen sollen.
Der Koch macht seinen samstäglichen Eintopf, wir sitzen zusammen und ich bekomme die ersten Meldungen über den Gesundheitszustand der Leute. Manche haben Brandwunden, nichts Schlimmes. Ein paar Europäer haben auch einen Sonnenbrand. Hier und da gibt es Kopfschmerzen, Husten und leichte Atemprobleme. Ich verteile Salben, Salztabletten, Kopfschmerzmittel und Beclometasonspray, aber zum Glück gibt es keinen ernsthaft Verletzten. Ab und zu hört man ein Husten und Schniefen, Jack war heute nicht der Einzige mit verrutschter Maske, auch mir und vielen anderen ist es passiert. Das kommt durch die Enge, die auch in Form von ein paar blauen Flecken ihre Spuren hinterlässt.
Nach der kurzen Entspannung sollen wir auf die Brücke, die Piraten verlangen zunächst unsere Mobiltelefone und unser Bargeld.
Sie zählen mit großen Augen, packen es schnell in Plastiktüten ein und inspizieren dann unsere Handys.
Im Laufe der folgenden Zeit fangen unsere Leute an aufzuräumen, die Maschine versucht unten wieder alles in Gang zu bekommen und wir, Kapitän und Offiziere sind oben auf der Brücke, versuchen dort erstmal die Spuren der Brandbekämpfung zu entfernen und unsere Systeme neu zu starten.
Unsere Reparaturen dauern bis in die Abendstunden. Einige Systeme behalten einen Schaden und bleiben deaktiviert, aber im Grunde sind wir mit Anbruch der Nacht wieder fahrbereit.
Die ganze Zeit beobachten die Piraten uns mit Argusaugen. Zwei von ihnen sind immer oben auf dem Peildeck, zwei andere sind auf der Brücke und sitzen dort mit ihren AKs vor der Brust.
Ein anderer bewacht das Boot, das wir mittlerweile achtern vertäut haben. Für ihr Boot fragen sie häufiger nach Benzin, wir haben nur eine kleine Menge von unserem Bereitschaftsboot, dass der 3. Ing. ihnen auch gibt.
Als der Kapitän das mit bekommt, erzählt er uns sie wollen nur unser Geld, dann fahren sie wieder. Es sind somalische Piraten … Vermutlich hat ihm einer von denen gesagt, dass sie nur Geld wollen - ja Lösegeld, nicht unser bisschen Bargeld, dafür lässt man sich nicht 400 sm vor der Küste absetzen.
Kurze Zeit später wird dies auch klar, sie zeigen uns ein mitgebrachtes GPS und darin eingespeicherte Koordinaten.
Dort wollen sie hin, Slava und ich tragen die Position jeweils in die Papierseekarte und in die elektronische Seekarte ein. Es ist Baraawe, südlich von Mogadishu.
Es beginnt eine Diskussion innerhalb der Schiffsführung, teilweise in keiner mir verständlichen Sprache. Aber so wie ich mitbekomme, will man den Piraten vorspielen, man könne nicht weiterfahren, die Maschine sei kaputt. Gemeinsam versuchen wir, den Piraten klar zu machen, dass nichts mehr geht, sie hätten uns manövrierunfähig geschossen. Sie können das nicht ganz begreifen, haben sie doch in die Aufbauten geschossen. Trotz ihres absoluten Nichtwissens über die Funktion eines Schiffes durchschauen sie unser Spiel zu schnell und drohen uns, die verbleibende RPG in den Bug zu schießen, wenn wir nicht weiterführen.
Letztendlich nehmen wir kurze Zeit später Kurs auf Baraawe.
Es ist in der Nacht, während meiner Wache, als ich ein Ziel auf dem Radar wahrnehme. Vielleicht ein anderes gekapertes Schiff. Es kommt näher, ich blicke kurz auf AIS: EUNAVOR sehe ich dort auf dem Display. Marine. Ich schalte das Radar auf eine kleinere Reichweite und damit es nicht so auffällt, verschiebe ich entsprechend unseren Mittelpunkt, also unser eigenes Schiff auf dem Bildschirm - das Fahrzeug ist nicht mehr zu sehen.
Dann kann ich aber auch schon die Seitenlichter sehen, wir werden gerufen. Die Piraten bedeuten, dass ich antworten kann.
Es sind unsere Leute, die Deutschen. Ich erkenne es sofort an der klaren Betonung der englischen Sprache.
Schnell wechseln wir in die deutsche Sprache, dann tauschen wir Informationen aus. Wie viele Piraten? Welche Waffen und wie viele? Ich gebe unser Ziel durch.
Was ich der Fregatte sage, verstehen die Piraten nicht, weder auf Deutsch noch auf Englisch.
Aber sie stehen dabei und versuchen, mit ihrer Mimik so zu tun. Würde ich nicht sowieso schon deutsch sprechen, hätten sie sich dadurch verraten, dass sie zum falschen Zeitpunkt nicken.
Jetzt kommt die Frage auf, ob die Piraten arabisch sprechen - das können sie leider nicht.
Können wir aufstoppen? Ich gebe an den Kapitän weiter.
Er versucht zu verständigen, dass wir alle gesund sind, aber die Piraten haben uns unter Kontrolle. Wir sind alle auf der Brücke und sozusagen in ihrem Schussfeld. Wobei ich anmerken muss, dass die Piraten zu keiner Zeit ihre Waffenmündungen auf uns gehalten haben. Sie haben zwar klar deutlich gemacht, dass das Marineschiff fernbleiben soll und sie kämpfen würden (angeblich), aber ihre einzige Drohgebärde war, dass sie ihre Waffen höher vor die Brust gehalten und sie uns gezeigt haben.
Ob sie wirklich gekämpft hätten und es zu einem Showdown wie auf der Maersk Alabama gekommen wäre, ich weiß es nicht. Sie hätten zumindest an uns festgehalten, dass glaube ich, aber ob sie wirklich mit Vorsatz einen von uns getötet hätten? Generell habe ich, außer bei den Scheinhinrichtungen, nur einmal selbst gesehen, dass ein Pirat die Mündung auf jemanden von uns gehalten hat, er wurde sofort zurückgerufen. Ich denke, sie wissen, dass die vorsätzliche Tötung einer Geisel die Lage grundlegend ändern würde.
Auch in der Situation vor Ort hatte ich nicht den Eindruck. Ich habe eher ein Chaos in einem möglichen Kampf befürchtet, oder einen Angstschießer bei den Piraten, ein Schuss, der sich im Stress löst.
Der Kapitän versucht, diese Bedenken weiterzuleiten.
Herr Kotiuk spricht neben Polnisch noch Russisch, Deutsch und Englisch. Leider reicht es bei den beiden Letzteren nicht immer für einen flüssigen Sprachgebrauch, außerdem scheint er einen Hang zur Hysterie zu entwickeln, die ich vorher nicht kannte.
Auf der Fregatte kommt man nicht zu Wort und kann auch nicht ganz mitbekommen, was hier los ist, habe ich den Eindruck.
Außerdem sorgt mich, wie der Kapitän die deutsche Grammatik anwendet, wenn es darum geht, dass die Piraten vielleicht auf uns schießen, wenn die Fregatte näher kommt. Bei ihm hört es sich teilweise so an, als würden die Piraten dies schon tun!
Ich bekomme wieder den Hörer. Der Marinesoldat, mit dem ich spreche, stellt mir noch mal ein paar Fragen über die Situation an Bord. Kurze Zeit später stellen wir aber auch schon fest, dass die Fregatte sich zurückfallen lässt.
Die Piraten unterbinden wenig später jeglichen Kontakt zur Fregatte, ich melde mich ab. Der stellvertretende Anführer sagt: “Finish!”
Was für ein Schlusswort, ich weiß nicht, ob es die Art ist, wie er es sagt oder wie er dabei guckt, aber mir wird jetzt richtig bewusst, dass es tatsächlich so ist - wir sind Geiseln von somalischen Piraten.
Wir halten Kurs auf Baraawe, begleitet von der deutschen Fregatte.
Diese Begleitung werden wir die ganzen vier Monate über haben, stets haben wir in mindestens 20 Seemeilen Entfernung eines unserer Schiffe. Das gibt uns Mut, das Gefühl, dass man uns noch nicht vergessen hat. Außerdem sind sie eine Art Lebensversicherung für uns. Die Somalis sind sich sicher, wenn jemand an Bord stirbt - dann kommen die Deutschen.
Wann genau, das kann ich nicht sagen, aber es war auf jeden Fall nach dem Erscheinen der Fregatte, da stehen der Kapitän und ich auf der Nock.
Wir unterhalten uns darüber, was wir weiterhin machen. Ich komme mit dem Vorschlag zu kämpfen, es sind gerade mal fünf Leute. Zwei sind oben, drei sind unten auf der Brücke, einer schläft und die anderen sind auch nicht besonders fit. Wir haben genug kräftige Leute, die sie festhalten werden. Ich spüre die Chance und bin überzeugt, dass es klappt.
Der Kapitän verneint. Ich lasse nicht locker und sage, dass wir das schaffen können, davon bin ich überzeugt, auch wenn es nicht einfach wird, zu organisieren und immer eine Restgefahr da sein wird, aber der Moment ist günstig. Der Kapitän redet jetzt sehr ruhig mit mir und meint, ich soll mich entspannen, ich möchte das nicht wirklich. Zwar bin ich enttäuscht, aber ich akzeptiere aus zwei Gründen. Erstens hat es keinen Sinn, wenn nicht alle mitziehen und zweitens ist er in diesem Moment der Kapitän, den ich kenne und den ich auch vor mir haben möchte. Ein ruhiger und bedachter Vorgesetzter.
Ich denke, an dieser Entscheidung gibt es nichts zu rütteln, es war der sicherste Weg für die Mannschaft.
In dieser Nacht schlafe ich kurz, alle liegen auf dem Boden verteilt, erschöpft von dem langen, stressigen Tag. Nach vier Uhr morgens, meinem Wachende, legen Longo, mein Wachmatrose und ich uns dann auch endlich hin.
Am nächsten Morgen werde ich von einem Piraten geweckt - zu früh. Er hat mein Handy in der Hand - wie geht es an und wie kann er es benutzen? Das sind seine Fragen … und ich frage mich, wie ich ihm die SIM-Lock-Funktion erklären kann. Ich sage einfach, es ist kaputt vom Wasser. Er versteht nicht ganz, ich bin etwas gereizt und sage auf Deutsch: “Ja, Wasser, weil ihr uns in Brand geschossen habt!” “Broken?” antwortet er. Endlich begreift er, glaube ich … seitdem kam fast jeden Tag ein anderer Pirat, bis man mir das Telefon nach einem Monat zurückgab - völlig entnervt.
Nun bin ich wieder wach, als einer der Letzten.
Es geht weiter mit dem Aufräumen. Die Brandwachen während der Nacht waren zum Glück ergebnislos. Wir beginnen, Teile der abgebrannten Kammern auszuräumen und machen damit weiter, den Wasserschaden einzudämmen. Vlad hat das Schiff in eine leichte Schräglage gebracht, sodass wir das Löschwasser besser entfernen können.
Während wir das tun und bevor weitere Piraten an Bord kommen, möchte ich Ihnen die fünf in traditionelle Wickelröcke gekleideten Seeräuber vorstellen, welche uns gekapert haben.
Der Anführer ist Tarik, oder auch Somali-Captain genannt. Er ist der Anführer der fünfköpfigen Gruppe, die uns angegriffen und gekapert hat, womit die Hansa Stavanger auch “sein” Schiff wurde, wodurch er, nach dem “Commander” der Piraten, auch bedeutenden Einfluss auf die Lösegeldforderung hat, dazu später mehr.
Tarik ist 21 Jahre alt. Ein Alter in dem viele jungen Menschen bei uns in Deutschland gerade mit dem Berufsleben anfangen und erwachsen werden. Tarik jedoch scheint schon lange im wirklichen Leben zu stehen. Ich habe noch nie einen so abgebrüht wirkenden jungen Menschen gesehen. Mögen es seine klaren Gesichtszüge sein, weswegen ihn der Kapitän immer als “sehr hübscher Junge” bezeichnet. Oder die Art, wie er jemanden anschaute. Er wirkte unheimlich streng, wie jemand, der seine Prinzipien hat, welche aber nur auf ihn selber zugeschnitten sind. Andere scheinen ihm gleichgültig zu sein. Ich bezweifle, dass er lange überlegen würde, jemanden für ein Stück Brot zu töten. Ein Jugendlicher ist das nicht, ich zweifle auch stark daran, ob er jemals so etwas wie eine Kindheit oder Jugend hatte. Leider habe ich nicht viel über ihn erfahren können. Zwar holt er mich im Verlauf der Haft einmal zu sich, auf Tee und Zigaretten, aber er spricht kein Wort Englisch und die anderen Piraten sprechen ungern über ihre Kollegen.
In meiner Vorstellung ist er das typische Waisenkind eines Dritte-Welt-Landes, das ausgesetzt wurde und nichts hat, außer seinem angeborenen Überlebenswillen. In meiner Welt, zu Hause, würde mir so ein Leben leidtun, jetzt tun mir die leid, die in seine Hände geraten.
Ich glaube, dass es vor allem der Eindruck von Tarik war, der mich dazu bewogen hat, an eine eigene, gewaltsame Lösung zu denken.
Auf keinen Fall wollte ich in die Hände solcher Leute fallen, wie Tarik oder seinen Vertreter, der keinen Deut besser zu sein schien.
Ich spreche von Hamud. Er ist älter als Tarik, vielleicht um die 25 Jahre, wirkt für einen Somali relativ muskulös und wirkt genau wie Tarik schon sehr abgebrüht. Hamud ist eher der Aktionist, er bewegt sich auch immer sehr hektisch, schreit gern mal rum und ist auch schnell mit der Waffe, wie sich später rausstellen wird.
Er war es auch, der nach Erreichen der Brücke bei der Kaperung die Anweisungen gab, uns nach Waffen durchsuchte, als wir zum Feuer gingen, uns dort regelmäßig kontrollierte und schließlich ist er es, der die restlichen Piraten während der Überfahrt nach Somalia auf ihre Wachposten verteilt.
Zunächst denken wir, Hamud sei der Anführer, so aktiv war er. Aber als Tarik letztendlich sagt: “Me boss!” wird mir bewusst, dass sie auf eine seltsame Art und Weise tatsächlich das typische Kapitän - Erster Offizier Verhältnis widerspiegeln.
Abdullah ist eine Art Unteroffizier in der Gruppe. Er hat, nach eigenen Angaben, die Granaten auf uns abgefeuert. Er ist zunächst sehr ruhig, ich nehme ihn kaum wahr. Erst nach vielleicht zwei Monaten, von welchen er auch einige Zeit nicht mehr an Bord verbringt, kann ich mit ihm in Kontakt kommen.
Abduallah ist 27 Jahre alt und wohnt in Mogadishu. Das sagt er immer wieder, woraufhin er sich krüppelhaft bewegt und “Karate!” sagt. Manchmal benutzt er auch sein Lieblingsspielzeug dazu, einen Schraubenzieher. Er macht das nicht, um uns einzuschüchtern, ich glaub er will es einfach zeigen. Oft sitzt er auch bei einem und wiederholt immer wieder: “No problem!” Generell erlebe ich ihn, nachdem er dann einmal aufgetaut ist, als recht besonnen und fast schon freundlich. Das gilt für viele der somalischen Piraten, aber bis wir in unserer Haft dieses Verhältnis aufbauen können, dass die Piraten sich uns so zeigen, vergeht eine lange, mühsame Zeit.
Asman und Masa- al Abdallah sind die beiden Letzten im Bunde, in der Piratenhierarchie scheinen es Soldaten, vergleichbar mit Mannschaftsdienstgrad zu sein. Sie sind vom ersten Tag an nicht sonderlich aggressiv. Als ich kurz nach der Kaperung auf der Brücke stand und darauf wartete, zum Feuer gehen zu können, hat Masa meine Mütze aufgezogen. Als er meinen Blick sah, glaube ich, wusste er, dass es meine ist.
Daraufhin will er sie mir wiedergeben. Kann er behalten.
Mit ihm unterhalte ich mich schon kurz nach der Entführung, z. B. auf dem Weg nach Barawe. Er spricht ein wenig Englisch und versucht mir klarzumachen, dass kein Grund zur Sorge besteht.
Genau wie Asman, mit dem ich mich auch im späteren Verlauf der Geiselhaft recht gut verstehe. Da sie beide zum Kaperteam gehören, haben sie einen höheren Anspruch auf das Geld. An Bord findet ihr Wort außerdem etwas mehr Gehör bei ihrem Chef - damit wird das gute Verhältnis irgendwann nützlich für uns.
Asman kommt in den letzten Wochen der Haft regelmäßig zu mir, bringt mal ein großes Glas Milch mit oder etwas von den somalischen Bohnen und meint, dass alles ok sein wird. Auch für die Mannschaft sind die Worte gut. Seitdem ich ihn einmal gebeten habe, das mal nicht nur mir zu erzählen, blüht er regelmäßig darin auf, unseren Jungs zu sagen, dass niemals ein somalischer Pirat eine Geisel töten würde, nur Geld wollten sie und mehr nicht. Damit wird er zwar nicht unser Freund, aber immer wieder eine gern gesehene Aufmunterung.
Zum Ende hin verspricht er mir sogar 500 Dollar vom Lösegeld, auf die warte ich aber leider bis heute noch.
Bis wir allerdings auf diesem Niveau mit unseren Wärtern umgehen können, dauert es noch einiges. Jetzt beginnt an Bord erst mal die harte Zeit der Eingewöhnung und des psychischen Terrors.
Wir erreichen Barrawe, wo wir für einige Zeit den Anker schmeißen. Es kommen zusätzliche Piraten an Bord, sie bringen Waffen und Khat. Khat ist in ostafrikanischen Ländern eine weitverbreitete pflanzliche Droge.
Man kaut die Blätter, entzieht ihnen mit dem Speichel die Wirkstoffe und spuckt den Rest aus.
Nach unserer Freilassung habe ich oft gelesen, dass Khat, von dem ich vorher nur sehr wenig wusste, so ähnlich wie Speed sei und dass es die Leute aggressiv und unberechenbar macht.
Das habe ich weder bei den Piraten bemerkt, noch bei uns.
Auch ich habe es nach einiger Zeit an Bord mal probiert und wenn die Droge Speed, die ich selbstverständlich noch nie probiert habe, so wirkt, frage ich mich, wieso sie verboten ist. Ich will damit sagen, Khat kauen entspricht ungefähr dem Genuss eines starken Kaffees.
Mit dem Unterschied, dass die Wirkung viel langsamer eintritt und leicht variiert. Man wird zwar wacher, aber der Körper entspannt sich etwas mehr und man muss nicht so häufig auf Toilette, wie nach drei oder vier Kannen Kaffee. Die sonstigen Nebenwirkungen wie nach übermäßigem Kaffeekonsum bleiben auch aus. Lediglich der Appetit wird reduziert.
Die Piraten, welche wirklich Unmengen davon vertilgen, klagen regelmäßig über Kopfschmerzen und Magenschmerzen. Ich denke, die Schmerzen im Kopf kommen von dem Schlafmangel, der durch die aufputschende Wirkung des Khats verursacht wird. Die Magenprobleme zeigen sich häufig in Form von Übersäuerungen und Blähungen, vielleicht eine Folge der geringen Nahrungsaufnahme und der Inhaltsstoffe der Pflanze.
Aggressives Verhalten oder sonstige Veränderungen habe ich nie feststellen können, bei uns schon gar nicht und bei den Piraten auch nicht. Jedenfalls nicht in erkennbarem Zusammenhang mit Khat-Genuss.
Zwar sagen die Piraten immer wieder, dass es einen dazu bringt, Dinge, die man vorhat oder tun muss, auch gleich in die Tat umzusetzen und alles was man will durchzuziehen, aber ich bezweifle das etwas.
Ich glaube, dann hätte ich das Zeug schon früher kennengelernt, als Kind, wenn ich mein Zimmer aufräumen sollte. Naja, vermutlich muss man aber einfach ganz viel davon essen und fest daran glauben.
Nichtsdestotrotz, als sie es mit an Bord bringen, schrillen in mir Alarmsignale. Ich habe Sorge, dass die sowieso schon als unberechenbar geltenden somalischen Piraten noch mehr am Rad drehen. Ich stelle mir vor, dass sie absolut die Kontrolle über sich verlieren, aggressiv werden, noch mehr rumschreien und um sich schießen.
Einfach dem Klischee entsprechend.
Nichts dergleichen passiert, jedenfalls ist keine Steigerung zu ihrem vorherigen Verhalten zu sehen. Sogar etwas ruhiger werden sie, weil sie etwas zum Rupfen und Kauen haben.
Dennoch verhalte ich mich am Anfang anders zu ihnen. Wenn sie etwas fragen, rede ich und bewege mich langsam, als würde ich mich vor einem scharfen Bluthund befinden.
Heute muss ich schmunzeln, wenn ich daran zurückdenke - was die wohl von mir dachten?
Aber zu der Zeit erscheint es mir die klügste Verhaltensweise.
Der Versuch, sich am sinnvollsten zu verhalten, sich anzupassen und den besten Weg für uns zu finden, zieht sich wie ein roter Faden durch die ersten Wochen.
Auf dem Weg von Baraawe nach Haradere, wo unser endgültiger Ankerplatz sein soll und der Unterhändler an Bord kommt, geht die Plünderung der Stavanger los. Während des Aufklarens und der Nacht konnte ich hin und wieder ein paar meiner ohnehin vom Löschwasser zerstörten Sache retten. Wobei der Rest so schnell verschwand, in irgendwelchen somalischen Röcken, dass man meinen könnte, sie hätten es weggebeamt.
Unter den neuen Piraten, die sich alles “angucken”, ist auch Oday, der sich mir per Handschlag gleich so vorstellt. “Me Boss of all!”
“Oh, very nice, welcome on board!” sage ich respektvoll, ohne Ironie und schüttele ihm kräftig die Hand. Mittlerweile habe ich von Konfrontationskurs auf Diplomatie umgestellt und komme damit natürlich weiter als vorher.
Oday ist ein recht großer Mann, nicht nur körperlich, er ist der Kommandant der gesamten Piraten bei uns an Bord, an Land und auf anderen Schiffen. Selbstverständlich ist er keiner der großen Hintermänner, aber er scheint für sehr viele Entscheidungen verantwortlich zu sein, einem Verwalter ähnlich. Mir sagte er einmal, dass er 32 Jahre alt sei, damit gehört er zu den älteren Piraten, die meisten an Bord sind weitaus jünger.
Oday, der ebenfalls ein typisches Somaligesicht hat, also fast schon europäisch wirkend, besitzt ein besonderes Merkmal. Ihm fehlt ein vorderer Schneidezahn. Aus diesem Grund zeigten alle, auch die Piraten, immer mit ihrem Finger in Richtung der Zähne, wenn sie von ihm sprachen. Wir nannten ihn eigentlich nur No. 2, weil wir zumindest noch einen Chef hinter ihm vermuteten - die wirkliche Nummer eins blieb uns immer verborgen. Oday war nur selten an Bord, aber immer wenn er kam, passierte etwas. Besonders seit er mit uns ein paar Scheinhinrichtungen durchgeführt hat, habe ich seinen Besuch an Bord immer mit erhöhter Sorge und Aufmerksamkeit ertragen müssen.
Nur das erste Mal kommt und geht er ohne großes Aufsehen.
So sagt der Kapitän, der sich später in seiner Anwesenheit ebenfalls sichtlich ängstlicher verhält, dass Oday und seine Piraten keine schlechten Menschen sind, immerhin hätte Oday sich sogar von ihm verabschiedet, als er das Schiff verließ …
Im Nachhinein betrachtet hat mir Oday, bis auf diese Hinrichtungen, nie etwas getan, vorher war er respektvoll und danach auch, nie hat er mich oder andere bedroht, dennoch fühlte ich mich immer weitaus unwohler, wenn er da war. Lange und oft denke ich über ihn nach und kann ihn nicht wirklich charakterisieren und eben das wird mich in den vier Monaten so verunsichern. Manchmal starrt er mit einem Blick vor sich her, als wäre er debil. Kurze Zeit später spricht er wieder mit einem, mittels Übersetzer, und man ist überrascht über seine wohlüberlegten Aussagen. Dann plant er wieder eine absolut irrwitzige Aktion, macht absoluten Unsinn oder zeigt sich unzuverlässig bei der Einhaltung von Abmachungen hinsichtlich Lösegeldforderungen. Später sieht man ihn doch wieder als besonnen Anführer einer großen Organisation. Er ist unberechenbar und hat sehr variable ethische Maßstäbe. Er ist zu einigem fähig, diese Mischung macht ihn so gefährlich.
Ich muss ehrlich zugeben, dass seine gegensätzliche Art neben der Unruhe auch eine gewisse Faszination auslöst, vielleicht weil ich noch nie so eine Charaktere gesehen habe.