Читать книгу Der arme Jack - Фредерик Марриет - Страница 12

Zehntes Kapitel.

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In welchem ich den glücklichsten Vorfall in meinem Leben erzähle und Ben, der Wallfischjäger, mir eine sehr sonderbare Geschichte anvertraut.

Unter den Pensionären befand sich einer, den ich dem Leser vorstellen muss, da er in dieser Geschichte eine bedeutsame Rolle spielt. Er hiess Peter Anderson und stammte aus dem Norden — wie ich glaube von Greenock. Er hatte viele Jahre als Geschützmeistersmate gedient, war in einem Treffen schwer verwundet worden und hatte dann sein Unterkommen zu Greenwich gefunden. Im Greenwich-Hospitale war er Hochbootsmann, das heisst, er hatte die Aufsicht über einen Saal mit fünfundzwanzig Mann, und Ben, der Walfischjäger, war ihm in der letzten Zeit als Mate beigegeben worden. Er hatte eine gute Schule genossen und viel gelesen, so dass man ihm kaum eine Frage vorlegen konnte, auf die er nicht eine befriedigende Antwort bereit hatte. In Streitsachen, namentlich wenn sie gewisse Punkte des Dienstes betrafen, den er an den Fingern herzählen konnte, ward er stets als Schiedsrichter aufgerufen; auch war er obendrein ein sehr religiöser, rechtschaffener Mann. Ich hörte ihn nie fluchen, er wies im Gegenteile diejenigen zurecht, welche sich in seiner Gegenwart eine derartige Unanständigkeit erlaubten. Er hatte sich im Dienst einiges Geld erspart; die Interessen davon samt seiner Hochbootsmannslöhnung setzten ihn in den Stand, nicht nur sich viele kleine Bequemlichkeiten zu verschaffen, sondern auch gegen andere freigebig zu sein. Ehe Ben nach Andersons Saal versetzt worden war, hatten sie sich gegenseitig nicht sonderlich gekannt; aber seit dieser Zeit waren sie fast stets beisammen, so dass ich jetzt auch mit Anderson vertraut wurde, den ich zuvor nur vom Ansehen gekannt hatte. Er war ein sehr ehrwürdig aussehender Greis mit grauen Locken, die ihm bis auf die Schultern niederhingen, zugleich aber auch ein stämmiger, herzlicher alter Knabe, und da ihm Ben von mir erzählt hatte, so schenkte er mir bald Aufmerksamkeit und schien viel Interesse an mir zu nehmen. Als ich nach der im vorigen Kapitel erzählten wunderbaren Rettung zurückkehrte, teilte ihm Ben das Benehmen meiner Mutter mit. — Ein paar Tage nachher brach sich die Kälte, und als ich die Männer besuchen wollte, traf ich beide, wie sie sich eben in dem gemütlichen Sonnenschein wärmten.

„Wie steht’s, Jack?“ sagte der alte Ben. „Hast Du nicht Lust, einen abermaligen Ausflug den Strom hinunter zu machen?“

„Wenn ich wieder gehe,“ versetzte ich, „so hoffe ich meine sechs Pence leichter zu verdienen.“

„Es ist ein wahres Wunder, dass Du davon kamst,“ sagte Peter Anderson. „Du darfst dem Allwissenden wohl recht dankbar für Deine Rettung sein.“

Ich machte grosse Augen, denn ich hatte nie zuvor gehört, dass dieser Ausdruck auf die Gottheit angewendet werde.

„Ihr meint wahrscheinlich Gott,“ sagte ich endlich, denn ich dachte mir, er könnte kaum etwas anderes darunter verstehen.

„Ja, Knabe; hat Dich Deine Mutter nie diesen Namen kennen gelehrt?“

„Sie lehrte mich gar nichts, denn alle Gebete, die ich weiss, habe ich meiner Schwester abgelauscht.“

„Und was weisst Du denn, Jack?“

„Ich kann das Vaterunser und das ‚nun ich mich schlafen lege‘; das ist, glaube ich, alles.“

„Wie alt bist Du jetzt, Jack?“

„Ich bin drei Jahre älter als Virginia. Ich hörte die Mutter sagen, dass letzthin ihr sechster Geburtstag gewesen sei; vermutlich bin ich also neun.“

„Kannst Du das ABC?“

„Ja, einiges davon; ich lernte es auf den Booten.“

„Aber Du kannst nicht lesen?“

„Nein, kein Wort.“

„Hat Dir Deine Mutter nie etwas von der Bibel gesagt?“

„Mir nicht; aber ich hörte, wie sie mit Virginia davon sprach.“

„Gehst Du nie zur Kirche?“

„Nein, nie — die Mutter nimmt die kleine Virginia mit; von mir sagt sie aber, ich sei zu zerlumpt und zu ungentil.“

„Warum vernachlässigt Dich Deine Mutter? Vermutlich bist Du ein schlimmer Knabe?“

„Das ist er nicht,“ nahm Ben das Wort; „der Grund liegt nicht darin. Doch davon ist jetzt nicht die Rede, obschon ich Jack’s Partei ergreifen muss. Fahrt fort, Peter.“

„Möchtest Du gerne lesen lernen, Jack?“ sagte Anderson. „Und möchtest Du zuhören, wenn ich Dir die Bibel vorlese, bis Du sie selbst lesen kannst?“

„Das wäre mir freilich lieb,“ versetzte ich. „Es giebt viele Knaben am Ufer, die sogar kleiner sind, als ich, und doch lesen und schreiben können.“

Peter Anderson versprach mir, mich zu unterrichten, vorausgesetzt, dass ich mich gut aufführe. Er sagte, ich solle jeden Nachmittag um sechs Uhr nach seiner Kajüte kommen (eine Zeit, welche meinem Berufe als „armer Jack“ etwas ungelegen kam); er wolle mir dann Unterricht erteilen. Ehe er noch ausgesprochen hatte, schickte einer der Hospitalleutnants nach ihm, und Ben blieb zurück, um mir zu beweisen, wie wertvoll es mit der Zeit für mich sein würde, wenn ich lesen und schreiben könne.

„Ich selbst habe keine Schule genossen, Jack,“ sagte er, „und weiss daher diesen Mangel zu würdigen. Hätte ich Lesen und Schreiben verstanden, so könnte ich jetzt etwas Besseres sein, als ein armer Greenwich-Pensionär, obschon ich Gott danke, dass ich nichts Schlimmeres bin. Seit ich ein Mann bin, habe ich es nur ein einziges Mal bereut, dass ich nichts gelernt habe — nämlich mein ganzes Leben lang. Ja, Jack, ich wollt’ diesen meinen rechten Arm darum geben, — freilich ist er jetzt nicht mehr viel wert, aber zu seiner Zeit konnte er eine Harpune bis ans Heft werfen — aber doch ist ein rechter Arm ein rechter Arm bis ans Ende unserer Tage, dennoch würde ich ihn mit Freuden hingeben, wenn ich lesen und schreiben könnte. Nun, aus dem Schreiben machte ich mir nicht so viel, aber ich gäbe ihn her, wenn ich nur Gedrucktes lesen könnte, denn dann wäre ich im stande, wie Peter Anderson, die Bibel zu lesen. Siehst Du, Jack, wenn wir an Sonntagen in die Kapelle gehen, so ist unter zehn von uns nicht einer, der mit seinem Buche dem Pfarrer folgen kann. Wir müssen eben zuhören, und wenn er fertig ist, sind wir’s auch — wir müssen dann warten, bis er wieder predigt. Muss ich mich also nicht schämen, Jack, dass ich nicht lesen kann, und darf nicht jeder, der es versteht, stolz darauf sein? — Nein, nicht stolz, aber dankbard). In unseren jungen Tagen, Knabe, denken wir nicht viel an die Bibel; aber wenn wir unsere Anker für die andere Welt zu lichten im Begriffe sind, so tragen wir Verlangen, unsere Zweifel und Bedenken wegzulesen. Sie ist die einzige Karte, nach der Du sicher steuern kannst. Ich denke, Eltern haben viel zu verantworten, die ihr Kind nicht Lesen lernen lassen, obschon ich meinem Vater und meiner Mutter keinen Vorwurf machen kann, da ich sie nie gekannt habe.“

„Wie, Ihr habt sie nie gekannt?“

„Nein, Knabe, nie. Ich habe Vater und Mutter verloren, als ich erst ein Jahr alt war. Er ertrank, und meine Mutter — sie starb auch, die arme Seele!“

„Und wie starb Eure Mutter, Ben?“

„’s ist eine traurige, traurige Geschichte, Jack, und ich mag nicht daran denken. Sie wurde mir lange nachher von einem Menschen erzählt, der wenig daran dachte, mit wem er sprach.“

„O, so teilt mir’s auch mit, Ben.“

„Du bist zu jung für eine solche Geschichte, Knabe — sie ist zu schrecklich.“

„Wie, etwa noch schlimmer als das Erfrieren, wie es mir letzthin beinahe ergangen wäre?“

„Ja, mein Junge, noch schlimmer, obgleich dies für ein so junges Bürschlein, wie Du bist, schlimm genug gewesen wäre.“

„Gut, Ben, ich will Euch nicht bitten, mir’s zu erzählen, wenn es Euch Schmerz macht. Aber Ihr habt doch nichts Unrechtes gethan?“

„Wie hätte ich als ein zweijähriger Knabe etwas Unrechtes thun können, da ich noch obendrein zu jener Zeit fünftausend Meilen von meinen Eltern entfernt war, Du kleiner Narr? Nun, ich weiss nicht, Jack, ob ich Dir’s nicht dennoch erzählen soll, weil Du dann finden wirst, was für ein Trost im Bibellesen ist — aber Du musst mir versprechen, nie davon zu reden. Ich glaube, ich bin ein einfältiger, alter Kerl, wenn ich Dir die Geschichte mitteile, Jack, aber ich habe Dich lieb, Knabe, und möchte Dir nichts abschlagen. So lege Dich denn neben mir vor Anker. Die Glocken werden zwar zum Mittagessen angezogen und ich verliere meine Mahlzeit; aber Du sollst eine Geschichte haben, und wir brauchen dann keine Unterbrechung zu fürchten.

„Mein Vater wurde für die See erzogen, Jack, und war bis in sein dreissigstes Lebensjahr ein schmucker junger Mann; dann machte ihn aber ein Sturz von der grossen Raa für den schweren Dienst im Takelwerk unfähig. Freilich, da er nur für die See erzogen war, so passte er nicht ans Land, und weil er ein reinlicher, ordentlicher Bursche war, so erhielt er die Stelle eines Zahlmeister-Stewards auf einem Indienfahrer. Später diente er als Kapitän-Steward an Bord mehrerer Schiffe. Er war ursprünglich von Yarmouth ausgesegelt, und als er von einer Reise nach Hause kam, um seine Verwandten zu besuchen, traf er mit meiner Mutter zusammen, mit der er sich splissen liess. Er liebte sein Weib sehr, und ich glaube, sie ihn auch, da sie eine treue und gute Frau war. Er war wieder zur See, als ich geboren wurde. Seine Reise führte ihn abermals nach Indien, und als er zurückkam, war ich zwei Jahre alt. Ich kann mich weder seiner, noch meiner Mutter erinnern. Er nahm aufs neue den Posten eines Kapitän-Stewards auf einem Westindienfahrer an, und der Kapitän, mit dem er schon früher gesegelt war, liess sich’s gefallen, dass er sein Weib mit sich nahm, um eine Bedienung für die weiblichen Passagiere zu haben. So blieb ich zu Yarmouth bei einer Kindswärterin, bis sie wieder zurückkämen — aber dies ist nie geschehen, Jack, und meine ersten Erinnerungen führen mich auf das Werkhaus zurück. Als ich alt genug war, wurde ich auf die See geschickt. Man hatte mir gesagt, mein Vater und meine Mutter seien auf dem Meere umgekommen, aber niemand konnte mir sagen, in welcher Weise — ich dachte daher wenig mehr daran, denn ich hatte sie nicht gekannt, und wen man nicht kennt, um den kümmert man sich nicht, und wenn es sogar Vater oder Mutter wäre.

„Gut, ich machte in den Walfischfahrzeugen vier oder fünf Reisen nach dem Norden und war nun ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt, als ich meinte, ich müsse doch auch wieder nach Yarmouth zurückgehen und mich zeigen; denn trotz meiner Jugend war ich doch Harpunier und Steuermann — Stellen, auf die ich mir nicht wenig einbildete. Ich dachte, ich wolle hingehen und nach dem alten Werkhaus sehen, denn es war das einzige Ding, dessen ich mich erinnern konnte, und wollte sehen, ob der Meister und die Meisterin noch am Leben wären, denn sie hatten sich, als ich in der Anstalt war, sehr freundlich gegen mich benommen. Wie gesagt also, ich ging nach Yarmouth — da war das Werkhaus, und der Meister und die Meisterin lebten beide noch in guter Gesundheit. Ich gab mich ihnen zu erkennen, und die alten Leute, die mich durch ihre Brillen ansahen, konnten gar nicht glauben, dass ich der kleine Ben sei, der für sie das Wasser zu pumpen pflegte. Ich hatte Geld in der Tasche und liebte die alten Leute, die mir alles anboten, was sie mir geben konnten, ohne auf Wiederersatz zu zählen, und da ich nichts Besseres zu thun wusste, so wohnte ich bei ihnen und bezahlte sie schön. Dem alten Manne gab ich einige Raritäten, der alten Frau einen Theetopf und dergleichen und blieb bei ihnen, bis es wieder Zeit war zum ausfahren. Nun siehst Du, Jack, unter den alten Leuten im Werkhaus war ein Mann, der gleichfalls zur See gedient hatte; mit dem unterhielt ich mich oft lange und gab ihm Tabak, den er nicht kaufen durfte, weil man nichts der Art im Werkhaus erlaubte, was eine schwere Drangsalierung ist. Ich habe deshalb oft gedacht, dass ich in kein Werkhaus gehen möchte, weil man dort kein Röllchen Tabak haben kann. Das Haar dieses Mannes war so weiss wie Schnee, vielleicht zu weiss für seine Jahre, denn er war wohl mehr hinfällig und abgelebt, als alt. In einem Zustande nach dem Kirchspiele zurückgekehrt, dass er seinen Unterhalt nicht erwerben konnte, hatte man ihn nach dem Werkhause geschickt. Ich kann nicht begreifen, warum man einen solchen Platz ein Werkhaus nennt, in dem man gar nichts thut. — Gut! Charley, wie man ihn nannte, wurde sehr krank; es hatte den Anschein, als ob es nicht mehr lange mit ihm dauern würde. Wenn daher der Hausmeister und die Hausmeisterin gerade zu thun hatten, so pflegte ich mich mit ihm zu unterhalten. Er war meistens sehr ruhig und gefasst; auch sagte er, er befinde sich leidlich, obschon er wisse, dass es mit ihm schnell dem Ende zugehe.

„‚Doch hier ist mein Trost‘, sagte er, indem er auf die Bibel deutete, die er auf seinen Knieen liegen hatte. ‚Wäre dieses Buch nicht‘, fuhr er fort, ‚so würde ich zu Zeiten glauben, ich müsse mir selbst den Garaus machen‘.

„‚Ei‘, sagte ich, ‚was habt Ihr denn gethan? Seid Ihr denn so gar gottlos gewesen?‘

„‚Wir sind alle sehr gottlos‘, erwiderte er; ‚aber das ist’s nicht gerade — ich bin so viele Jahre umspukt worden, dass ich fast ein Narr wurde.‘

„‚Nun‘, sagte ich, ‚was könnt Ihr denn gethan haben, dass Euch ein Spuk verfolgte? — Ihr habt doch nicht einen Mord begangen?‘

„‚Ach, ich weiss nicht, was ich sagen soll‘, versetzte er. ‚Wenn ein Mensch zusieht und einen Mord nicht verhindert, ist es nicht das gleiche? Ich habe nicht mehr lange zu leben und es ist mir, als ob ich glücklicher sein könnte, wenn ich mein Gewissen erleichtere, denn ich habe das Geheimnis lange Zeit mit mir herumgetragen. Ich denke, dass Ihr, der Ihr ein Matrose seid und wisst, was Matrosen zu erdulden haben, ein Mitgefühl habt und mir vielleicht sagt (denn ich bin etwas unruhig darüber), ob Ihr glaubt, dass mich bei der Sache ein grosser Vorwurf trifft. Ach, ich habe seit dieser Reihe von Jahren genug gelitten und hoffe, es wird nicht vergessen bleiben, wenn ich vor den Richterstuhl gerufen werde — was zuverlässig mit uns allen statthaben muss, falls die Worte dieses Buches, in das ich ein festes Vertrauen setze, wahr sind.‘“

„Er schien sehr angegriffen zu sein, nahm einen Trunk Wasser und fuhr dann folgendermassen fort:

„‚Vor dreiundzwanzig Jahren war ich Matrose an Bord des Westindienfahrers ‚Wilhelm und Karolina‘, der für Jamaika bestimmt war. Wir hatten zwei oder drei weibliche Passagiere auf dem Schiffe und die Frau des Stewards besorgte ihre Bedienung. Sie war eine schöne junge Frau, und als sie mit ihrem Gatten an Bord kam, sagte sie zu mir, sie hätten ein einziges Kind, das sie zu Hause gelassen hätten. Nun seht Ihr, Yarmouth ist mein Geburtsort, und obgleich ich den Mann nicht kannte, war mir doch ihre Familie nicht fremd. Wir wurden daher sehr vertraut, unterhielten uns über unsere Freunde und so weiter. Ich erwähne dies der späteren Vorgänge halber. Wir kamen wohlbehalten zu Jamaika an und blieben wie gewöhnlich einige Zeit vor der Insel, ehe die Drogers ihr Kargo herumbrachten und uns in den Stand setzten, wieder nach England zurückzufahren.

„‚Nun, wir kriegten die Inseln klar und kamen gut gegen Norden, wo uns eine schreckliche Bö überfiel und unsere Masten zerbrach. Drei Wochen rollten wir mit untergetauchtem Schanddecke umher, denn wir führten eine sehr schwere Ladung und hatten unsere Gissung verloren. Endlich machten wir die Entdeckung, dass wir zu den Riffen im Süden der Bahama-Inseln hinunter geblasen worden waren. Einmal hatten wir Notmasten aufgerichtet, sie aber nnglücklicherweise durch den Sturm wieder verloren; wir konnten daher nichts thun, denn wir hatten keine kleinen Spieren oder Segel mehr, und unsere Hoffnung beschränkte sich nur auf ein Zusammentreffen mit irgend einem Schiffe, das uns Beistand leisten konnte.

„‚Dies Glück wurde uns übrigens nicht, und eines Morgens, als die See eben sehr hoch ging, entdeckten wir, dass wir gegen eine Felsenreihe hinunter getragen wurden, die kein Entkommen in Aussicht stellte. Wir konnten jetzt nichts weiter thun, als die Boote aussetzen und in denselben unser Glück versuchen. Der Kapitän war sehr ruhig und gefasst; er liess alles Erforderliche hineinschaffen, rief die Mannschaft auf und setzte ihr seine Absichten auseinander. Sämtliches Wasser samt dem Mundvorrat wurde in die Lansche gebracht, denn die See ging so hoch, dass die kleinen Boote kein derartiges Kargo führen konnten; auch vereinigte man sich dahin, dass alle Boote bei einander bleiben sollten, bis das Wetter milder würde; dann sollte der nötige Bedarf ausgeteilt werden. Nachdem alles bereit war, wurden wir in die uns angewiesenen Fahrzeuge beordert. Der Steward befand sich mit seinem Weibe in dem gleichen Boote mit mir, ich hatte letztere sorgfältig in den Sternschooten untergebracht, da ich ihr guter Freund war. Nun wurde der Steward von dem Kapitän beauftragt, etwas Vergessenes zu holen; während er fort war, schlug eine schwere Welle gegen das Schiff, welche eine so starke Bresche in dasselbe hineinbrach, dass alles in Verwirrung geriet und man mit den kleinen Booten zurückweichen musste, damit sie nicht versenkt würden. Das Langboot wartete allein noch auf den Kapitän, der mit dem Maten und dem Steward hineineilte, da dies noch die einzigen drei Personen gewesen waren, und nun zog sich alles zurück. Ich erwähne dies als den Grund, warum der Steward (nur vorübergehend, wie wir damals glaubten) von seinem Weibe getrennt wurde. Wir waren noch keine fünf Minuten von dem Schiffe ab gekommen, als wir in unserem Boote die Entdeckung machten, dass wir kaum gegen Wind und Wellen ankämpfen konnten, die uns mehr und mehr nach den nahen Riffen hinuntertrieben. Die Lansche, die ein schwerruderndes Boot und tief beladen war, konnte sich ohnehin nicht wehren, und in einer Viertelstunde waren wir Zeugen des Jammers, wie sie mit ihrer Mannschaft und mit unserem sämtlichen Mund- und Wasservorrate von der Brandung verschlungen wurde. Ich will’s nicht versuchen, den Schmerz der Stewards-Frau zu schildern, als sie ihren Mann vor ihren Augen ertrinken sah. Sie war ohnmächtig, und es stand geraume Zeit an, bis sie wieder zu sich kam, denn niemand konnte sein Ruder auch nur für eine Minute verlassen, um ihr beizustehen, da wir für unser Leben arbeiten mussten. Endlich kam sie wieder zur Besinnung. Das arme Geschöpf — ich fühlte für sie. Gegen Abend lullte der Wind ein, und es gewann den Anschein, dass wir schön Wetter kriegen würden; aber wir hatten nichts zu essen, nur ein einziges Fässchen Wasser in dem Boote und waren von der Anstrengung völlig erschöpft.

„‚Wir wussten, dass wir nordwärts rudern mussten, um die Bahama-Inseln oder vielleicht eine der kleinen Quaies im Süden derselben zu erreichen, wo wir Schildkröten und möglicherweise auch Wasser erhalten konnten. Sobald sich daher die See gelegt hatte, was sehr bald geschah, steuerten wir den Schnabel unseres Bootes in die gedachte Richtung und ruderten die ganze Nacht hindurch. Mit Tagesanbruch waren die andern Boote nicht mehr zu sehen. Eine völlige Windstille lag auf der See, die noch immer lange Wellen warf, und wir teilten unser Wasser aus, um nach einer Ruhe bis zum Abend aufs neue unsere Arbeit aufzunehmen.

„‚Wir ruderten hart bis zum Morgen, aber die aufgehende Sonne brachte uns die heisse Glut eines fast tropischen Himmelsstriches. Es war unmöglich, unsere Ruder fortzuführen, ohne zu trinken, und da niemand das Kommando übernommen hatte, so war all’ unser Wasser aufgezehrt, obgleich wir noch keine fünfzig Meilen nordwärts gekommen waren. Am dritten Morgen legten wir uns erschöpft auf den Boden des Fahrzeuges nieder; viele starben nicht nur vor Durst, sondern auch vor Hunger dahin. Wir hatten uns vorgenommen, bei Nacht wieder zu den Rudern zu greifen, aber einige wollten, andere konnten nicht arbeiten, so dass endlich diejenigen, welche sich willig gezeigt hatten, gleichfalls ihr Vorhaben aufgaben.

„‚Die Stewards-Frau sang zuweilen Psalmen und wechselte mit Weinen ab. Sie hatte eine sehr schöne Stimme, aber ihre Lippen waren bald aus Mangel an Wasser wie zusammengeleimt und sie konnte nicht länger singen.

„‚Als die Sonne am vierten Tage aufging, liess sich noch immer kein Schiff blicken. Einige rasten nach Wasser, und andere kauerten sich aus Verzweiflung unter die Bootsdosten. Gegen Abend umwölkte sich endlich der Himmel und es fiel ein schwerer Regen, der uns erfrischte. Wir zogen der Stewards-Frau einen Rock ab, breiteten ihn aus und fingen das Wasser auf; dann tranken wir alle, bis unser Durst gelöscht war, saugten sogar an unsern nassen Jacken, um uns zu laben — aber immer noch fühlten wir uns von nagendem Hunger gequält. Wir schliefen in jener Nacht, aber am nächsten Morgen blitzten die Augen eines jeden, und wir alle machten Gesichter, als ob wir einander aufzehren könnten. In dem Buge des Bootes begann ein Flüstern, und ein Neger, der bei uns war, zog sein Messer heraus und wetzte es an dem Schanddecke des Bootes. Niemand fragte ihn nach dem Grunde. Wir sprachen nicht, machten uns aber unsere Gedanken. Es war schrecklich, unsere hohlen Wangen — unsere tief eingesunkenen, wie glühende Kohlen leuchtenden Augen — unsere langen Bärte und die hageren Gesichter anzusehen. Jeder war bereit, seine Hand gegen den andern zu erheben. Das arme Weib beklagte sich nie oder sprach auch nur ein Wort, seit es zu singen aufgehört hatte — seine Gedanken waren augenscheinlich anderswo. Sie sass stundenlang regungslos da, die Augen auf das stille, blaue Wasser geheftet, als wollten sie bis in die Tiefe dringen.

„‚Endlich kam der Neger nach dem Hinterschiffe, und jeder von uns war auf der Hut, als er vorbeiging, denn wir hatten ihn das Messer wetzen sehen. Er begab sich nach den Sternschooten, wo das arme Weib sass; wir alle wussten, was er beabsichtigte, denn er handelte nur nach unsern eigenen Gedanken. Sie hing noch immer über dem Schanddeck, die Augen abwärts gerichtet, und achtete nicht auf seine Annäherung. Er ergriff sie am Haare und zerrte ihren Kopf gegen sich hin. Sie breitete nun ihre Arme gegen mich aus und rief mit matter Stimme meinen Namen. Aber ich — o der Schande — blieb auf dem Hinterdost sitzen. Der Neger stiess sein Messer gerade unterm Ohr in ihren Hals, und sobald die Arterie zertrennt war, heftete er seine dicken Lippen auf die klaffende Wunde, um ihr Blut aufzusaugen.

„Als die That geschehen war, erhoben sich auch andere, um ihren Anteil zu holen; aber der Neger hielt seine blitzenden Augen auf sie gerichtet und streckte, sobald er seinen Durst gestillt hatte, den einen Arm mit dem Messer aus, während er mit dem andern ihren Leib umfing und die sterbende Gestalt unterstützte. Die Haltung war die der Zärtlichkeit, während die That — Mord war. Es hatte den Anschein, als ob er sie liebkose, während das Blut ihres Lebens durch seine Kehle hinunterfloss. Endlich zogen wir alle unsere Messer, der Neger erkannte, dass er endlich seinen Raub oder sein Leben aufgeben musste. Er liess das Weib los, und es fiel, mit dem Gesicht nach vorne, zu meinen Füssen nieder. Die Frau war tot, und dann — stillten wir unsern Hunger.

„‚Noch drei Tage entschwanden, und abermals hetzte uns der Mangel an Wasser in Wahnsinn — als wir endlich eines Schiffes ansichtig wurden. Wir jubelten, drückten uns die Hände, warfen unsere Ruder aus und arbeiteten darauf los, als ob die Not unsere Kräfte nicht hätte beeinträchtigen können. Noch immer herrschte Windstille, und als wir uns dem Schiffe näherten, warfen wir die Überreste des armen Weibes in die See, den Haifischen zum Frasse. Wir kamen mit einander überein, nichts von ihr zu sagen, denn wir schämten uns vor uns selbst.

„‚Ihr seht, ich habe keinen Mord begangen, ihn aber auch nicht verhindert, aber seitdem verfolgt mich stets die Spukgestalt dieses armen Weibes. Ohne Unterlass sehe ich sie und den Neger vor mir und denke dabei an den schauderhaften Vorfall. Ich fühle, dass ich sie hätte retten sollen — sie streckt stets ihre Arme gegen mich aus, ich höre ihren matten Ruf: ‚Charles‘! — dann lese ich meine Bibel — sie verschwindet und es ist mir, als habe ich Vergebung gefunden. — Sagt mir, was haltet Ihr davon, Kamerad?‘

„‚Je nun‘, versetzte ich, ‚Umstände zwingen uns oft zu Handlungen, die wir sonst nie für möglich halten würden. Ich war nie in einer solchen Lage und kann daher nicht sagen, wie weit sich Leute verlockt fühlen können — aber sagt mir, Kamerad, wie hiess der Mann jener armen Frau?‘

„‚Der Mann hiess Ben Rivers.‘

„‚Rivers, sagt Ihr?‘ versetzte ich in höchster Bestürzung.

„‚Ja‘, antwortete er; ‚so hiess sie. Sie war aus dieser Stadt — doch was liegt an dem Namen — sagt mir, was Ihr von der Sache haltet, Kamerad!‘

„‚Nun‘, erwiderte ich, denn ich war ganz verwirrt, ‚ich will Euch was sagen, alter Bursche — so weit ich dabei beteiligt bin, so habt Ihr meine Vergebung, und nun muss ich Euch Lebewohl sagen. — Gebe Gott, dass wir uns nie wieder sehen.‘

„‚Haltet noch ein wenig‘, sagte er; ‚verlasst mich nicht in dieser Weise. Ach! ich sehe wie es ist — Ihr haltet mich für einen Mörder.‘

„‚Nein, das thu’ ich nicht‘, versetzte ich; ‚nicht gerade — dennoch wird’s kein Schade sein, wenn Ihr Eure Bibel lest.‘

„Und so stand ich auf und verliess das Zimmer — denn siehst Du, Jack, obgleich er vielleicht in der Sache entschuldigt werden kann, so mochte ich doch nicht in der Gesellschaft eines Menschen bleiben, der meine eigene Mutter aufzehren half!“

Ben hielt inne und seufzte tief. Ich war so erschüttert durch seine Erzählung, dass ich kein Wort sprechen konnte. Endlich fuhr Ben fort:

„Ich konnte nicht mehr in der Stube — nicht mehr im Werkhaus — nicht mehr in der Stadt bleiben. Ehe die Sonne unterging, war ich fort, und seitdem bin ich nicht mehr dort gewesen. Aber jetzt muss ich hineingehen; Jack — vergiss nicht, was ich Dir gesagt habe, und lerne die Bibel lesen.“

Ich versprach ihm dies und erhielt noch am nämlichen Abend von Peter Anderson meinen Unterricht. Dies ging so lange fort, bis ich lesen konnte. Dann lehrte er mich Schreiben und Rechnen; aber bis es zu dem letzteren kam, trugen sich viele Vorfälle zu, die ich dem Leser mitteilen muss.

Der arme Jack

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