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Viertes Kapitel.

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In welchem der Leser alles erfährt, was mir über meine erste Jugend im Gedächtnis geblieben ist. — Die Wahrheit des alten Sprichwortes bewiesen, „dass es ein kluges Kind sein muss, das seinen Vater kennt“.

Der Leser muss nicht erwarten, dass ich ihm viel von dem erzähle, was während der ersten vier Jahre meines Daseins vorging. Ich entsinne mich, dass eine Diele vor die Thür unseres Hauses, welche nach Fisher’s-Alley hinausging, gelegt wurde, um mich und später meine Schwester zu hindern, auf die Gasse hinauszukriechen. Fisher’s-Alley ist eine so enge Strasse, dass man die Nachbarn auf der entgegengesetzten Seite in ihrem Zimmer sprechen hören kann; ich pflegte mich gewöhnlich auf das Bett zu stützen, um zu lauschen, wenn die betrunkenen Männer und die angeheiterten Weiber mit einander zankten oder sich balgten. Meine Mutter, welche sparen wollte, hatte das ganze Haus gemietet und es möbliert. Ich hörte sie daher jeden Tag an der Thür sagen: „Herein spaziert, Gentlemen; ich habe ein nettes, reinliches Zimmer und kochend heisses Wasser“ — denn die Matrosen pflegten einzusprechen, um bei ihr Thee nebst anderm Getränk zu sich zu nehmen und zu rauchen. Ein Gleiches war auch hin und wieder bei den alten Pensionären der Fall, von denen meine Mutter mehrere hatte kennen gelernt. Ich war stets zerlumpt und schmutzig, denn meine Mutter vernachlässigte und misshandelte mich. Nach der Geburt meiner Schwester trug sie alle ihre Liebe auf Virginia über, die ein sehr schönes Kind war und stets gehätschelt und gut gekleidet wurde.

Von alle dem weiss ich nur wenig mehr, als dass mich meine Mutter mehrere Mal prügelte, weil ich meine Schwester „Jenny“ nannte. Ich folgte hierin nur dem Beispiele anderer, die ein Gleiches thaten; wenn aber meine Mutter dies hörte, so wurde sie stets sehr zornig und sagte ihnen, ihr Kind habe keinen so gemeinen Namen. Die Leute pflegten dann zu lachen und riefen nun absichtlich Virginia mit Jenny an, so oft sie vorbeikamen oder das Kind an der Thür sahen. Nachdem ich mein viertes Lebensjahr zurückgelegt hatte, begann ich über die Diele wegzuklettern, da es mir im Hause gar nicht mehr gefiel. Als ich älter wurde, pflegte ich nach den Quaitreppen am Ufer zu gehen — wo jetzt das neue Wirtshaus, der „Trafalgar“, steht — auf die Ebbe zu achten und alles, was ich finden konnte, zum Beispiel Holz- und Taustücke, aufzulesen. Auch wunderte ich mich über die Schiffe, die im Strome lagen, und über die Fahrzeuge, welche auf- und niedersegelten. Bisweilen blieb ich lange aus, um den Mond und die Lichter an Bord der vorbeifahrenden Schiffe zu betrachten; dann schlug ich wohl auch meine Augen zu den Sternen auf und sagte den Vers vor mich hin, den meine Mutter die kleine Virginia gelehrt hatte —

„Hübscher, kleiner Funkelstern,

Warum bist so fern, so fern

Über unserm Erdgetümmel,

Wie ein Diamant am Himmel?

Bei derartigen Nachtwandelpartieen durfte ich wohl darauf zählen, nichts als etwa eine tüchtige Prügelsuppe zum Abendessen zu erhalten, worüber dann Virginia aufwachte und zu weinen begann, weil meine Mutter mich schlug; denn wir liebten einander zärtlich. Die Mutter pflegte jeden Abend meine Schwester auf ihre Kniee zu nehmen und sie ihr Nachtgebet hersagen zu lassen. Mit mir that sie dies nie, weshalb ich auf das achtete, was Virginia hersprach, und dann in eine Ecke ging, um es für mich zu wiederholen. Ich konnte mir gar nicht denken, warum Virginia beten lernen sollte und ich nicht auch.

Wie bereits gesagt, vermietete meine Mutter Wohnungen und hielt ein vorderes Parterrezimmer für Leute, die da ihren Thee trinken und rauchen wollten. Wenn dann die Pensionäre kamen, so pflegte ich meinen Schemel herbeizuholen oder auf ihren Knieen zu sitzen und hörte auf ihre Geschichten, wobei ich mir alle Mühe gab, sie zu verstehen, obschon mir ihre wunderliche Sprache mehr als zur Hälfte unbegreiflich war. Auch brachte ich ihnen Feuer für ihre Pfeifen und besorgte ihre Aufträge. Alt Ben, der Walfischjäger, wie man ihn nannte, war derjenige, welcher sich am meisten mit mir abgab und mir sagte, ich werde mit der Zeit ein Mann werden — eine Kunde, die mich damals sehr erfreute. Ich fertigte ein kleines Boot für meine Schwester, das mich viel Mühe kostete, Ben half es mir anstreichen. Ich brachte es Virginia und wir beide waren sehr vergnügt darüber; als es jedoch meine Mutter zu Gesicht bekam, warf sie es ins Feuer und sagte, das sei „unschicklich.“ Wir beide weinten darüber und Alt Ben sagte in seinem Zorne meiner Mutter etwas, worauf sie Anlass nahm, den ganzen Tag nachher „Heididel, Heididel“ zu singen. Dies sind die klaren Erinnerungen aus meinem frühesten Leben, mit denen sich der Leser begnügen muss.

Als ich acht Jahre alt war, erschien mein Vater wieder (etwa sechs Jahre nach dem letzten Besuche) — jetzt erfuhr ich zum erstenmal, dass er noch am Leben war; denn bei seiner Abreise war ich noch zu klein gewesen, um mich seiner erinnern zu können, und aus dem Munde meiner Mutter vernahm ich nie, dass er sich noch eines leiblichen Daseins erfreute.

Der Vater traf also eines Tages sehr unerwartet ein, da er seine Rückkehr nicht angemeldet hatte. Meine Mutter schlug mich eben mit der Bratpfanne, weil ich meine Finger in das Fett getaucht hatte, in welchem sie gerade einige Schinkenschnitten röstete. Sie war sehr zornig und während sie auf mich lospaukte, zerrte Virginia sie an den Schössen, indem sie die Mutter weinend bat, doch aufzuhören.

„Du kleiner Wicht“, rief meine Mutter, „Du wirst gerade ein solches Seeungeheuer werden, wie Dein Vater war — Du Schwein, musst Du denn immer Deine Finger in die Bratpfanne stecken? So, da hast Du es.“

Mit diesen Worten setzte sie die Pfanne nieder und begann, so laut sie konnte, zu singen: „Still, still, Bübchen, Mietzchen hat ein Liebchen“ — „Ja, gelt, jetzt habe ich Dir die Galle rege gemacht“, fuhr sie fort, indem sie nach der Hinterthür ging.

Alles das hatte mein Vater an der Thür mitangesehen, ohne selbst bemerkt zu werden. Er kam herein.

„Wie heisst Du, Knabe?“ sagte er zu mir.

„Tommy Sounders“, versetzte ich, mich reibend, denn die Bratpfanne war sehr heiss gewesen.

„Und wer ist denn dieses kleine Mädchen?“ fragte er.

„Meine Schwester Virginia — aber“, fuhr ich fort, „wer seid Ihr? Wollt Ihr zur Mutter?“

„Habe eben jetzt kein besonderes Verlangen nach ihr“, sagte mein Vater, indem er die Schwester aufhob und sie küsste, dann aber mich auf den Kopf pätschelte.

„Möchtet Ihr Bier oder Tabak haben?“ fragte ich. „Wenn Ihr mir Geld gebt, will ich gehen und holen; auch kann ich den Überschuss richtig zurückbringen.“

„Gut, das sollst Du, Jack, mein Junge“, versetzte er, indem er mir einen Shilling gab.

Ich kehrte bald mit zwei Pfeifen, Tabak und Bier zurück und wollte ihm auch den Überschuss des Geldes geben, den er mir jedoch schenkte, um Äpfel dafür zu kaufen. Virginia sass auf seinem Knie und wurde von ihm geliebkost. Die Mutter war noch nicht aus der Hinterküche zurückgekommen. Ich fühlte mich natürlich sehr freundlich gestimmt gegen einen Mann, der mir mehr Geld geschenkt hatte, als ich je in meinem Leben besessen, nahm meinen Schemel und setzte mich an seine Seite, während er, die Schwester auf seinem Knie und den Porterkrug vor sich, seine Pfeife rauchte.

„Schlägt Dich Deine Mutter oft?“ fragte mein Vater, die Pfeife aus dem Munde nehmend.

„Ja, wenn ich etwas Unrechtes thue“, versetzte ich.

„O! nur wenn Du etwas Unrechtes thust, he?“

„Sie sagt, es sei Unrecht und dann muss es wohl wahr sein.“

„Du bist ein guter Knabe“, entgegnete mein Vater. „Kriegst Du auch Deine Schläge, mein liebes Kind?“ fuhr er gegen Virginia fort.

„Oh nein“, ergriff ich das Wort. „Die Schwester wird nie geschlagen. Die Mutter liebt sie zu sehr, aber mich liebt sie nicht.“

Mein Vater paffte weiter und schwieg.

Ich muss dem Leser mitteilen, dass das Aussehen meines Vaters ganz anders geworden war, als ich es bei dem Beginne dieser Erzählung geschildert habe. Er war jetzt Hochbootsmannsmate und trug an einem Stück Tau eine silberne Pfeife um den Hals, mit welcher die kleine Virginia eben spielte. Er war breiter und stämmiger geworden, als es bei Matrosen im Alter von vierzig Jahren gewöhnlich der Fall ist, hatte ausserdem die Narbe eines furchtbaren Säbelhiebs im Gesichte, welche die ganze linke Hälfte, von der Augenbraue an bis zum Kinne, teilte. Dies verlieh ihm einen sehr wilden Ausdruck; aber dennoch war er ein schöner Mann und sein Haarzopf hatte auf eine überraschende Weise an Länge und Dicke zugenommen. Wie ich später erfuhr, war sein Schiff nicht abgelohnt worden, sondern befand sich zur Ausbesserung in dem Dock-Yard; er hatte einen Urlaub von vierzehn Tagen erhalten. Wir waren unter einander sehr gesellig — ohne dass ich oder meine Schwester nur die mindeste Vorstellung davon hatte, in welcher Beziehung wir zu dem fremden Manne ständen — als sich endlich Alt Ben, der Walfischjäger, hereinwälzte.

„Cervus“, sagte Ben, meinem Vater zunickend. „Tommy, hol’ mir eine Pfeife Tabak.“

„Da ist Pfeife und auch Tabak, Messmate“, versetzte mein Vater. „Setzt Euch und thut Euch gütlich, alter Knabe.“

„Will kein freundliches Anerbieten zurückweisen“, entgegnen Ben. „Habe dafür zu lange im Dienste gestanden. Und auch Ihr habt etwas mitgemacht, denke ich“, fuhr er fort, meinem Vater voll ins Gesicht sehend.

„Ist ein Riss von einem französischen Offizier“, erwiderte mein Vater und fügte dann nach einer Pause bei: „Aber er hat’s nicht erlebt, damit dick thun zu können.“

Ben nahm die dargebotene Pfeife, füllte sie und war bald an der Seite des Vaters mit emsigem Paffen beschäftigt.

Der arme Jack

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